Wie an der ETH Posten vergeben werden – der «Groschenroman»
Eine Findungskommission, die nur ein Feigenblatt ist. Und Professoren, die sich gegenseitig in Ämter verhelfen. Die Vorgänge am Physikdepartement der ETH stehen beispielhaft für Intransparenz und Vetternwirtschaft an der Hochschule.
Von Silvan Aeschlimann, Dennis Bühler und Dominik Osswald, 29.04.2019
Die Gegendarstellung der ETH finden Sie am Ende des Artikels.
«ETH-Skandal wird zu einem Groschenroman», titelten Newsportale zwei Wochen nach der Veröffentlichung der Republik-Recherchen zur angekündigten ersten Entlassung einer Professorin an der ETH Zürich.
Eine mehrteilige Serie machte das systematische Versagen der renommierten Hochschule im Fall der Mobbingaffäre um Astronomin Marcella Carollo publik – und zeigte auf, wie willkürlich die ETH mit Vorwürfen gegen Professoren umgeht. Voraussichtlich im Mai wird der ETH-Rat endgültig über die Entlassung von Professorin Carollo befinden.
Eine entscheidende Rolle bei der missglückten Bewältigung der Affäre spielte Rainer Wallny, der Vorsteher des Physikdepartements. Nicht nur verpasste er es, zwischen der Professorin und ihren Doktorandinnen zu schlichten; auch war es seine Idee, als Reaktion auf den Konflikt das Astronomie-Institut der ETH Zürich aufzulösen. Und Wallny stieg im Zug der Affäre vom Stellvertreter zum Leiter des Departements Physik auf. Die Republik schrieb von einem «Geniestreich».
Fragen zu seiner Rolle in der Affäre liess Wallny vor der Publikation mit Verweis auf das Amtsgeheimnis unbeantwortet. Auch die Hochschulkommunikation beantwortete die Fragen nicht.
Dafür verteidigte sich Rainer Wallny zwei Wochen nach der Publikation der Recherchen ausführlich. Und ging nun plötzlich in einer Sonntagszeitung der Tamedia auch auf die Vorwürfe ein. Die Darstellungen der Republik bezeichnete er als «abenteuerliche Theorie» und «Groschenroman». Wallny habe nur Fragen beantwortet, die das Amtsgeheimnis nicht verletzen, teilte die Medienstelle der ETH auf Anfrage mit. Etliche seiner Aussagen stehen allerdings in eklatantem Widerspruch zu Dokumenten, die der Republik vorliegen. (Hier finden Sie einen detaillierten Faktencheck.)
Die Strukturen
Wallnys öffentliche Selbstverteidigung zeigt, dass die Verantwortungsträger an der ETH ihre Verfehlungen nach wie vor nicht als solche erkennen wollen, sondern ihr Handeln beschönigen und ihre Motive verschleiern. Und damit davon ablenken, worum es bei den Republik-Recherchen im Fall ETH tatsächlich geht – um Strukturen, die systematisches Führungs- und Verfahrensversagen an der renommiertesten Hochschule der Schweiz überhaupt erst ermöglichen.
Professor Wallnys Gegenoffensive, die Kommunikationsstrategie der ETH – beides verschärft ein journalistisches Dilemma bei Recherchen über Institutionen: Im Fokus stehen Strukturen, nicht Personen. Ungenügende Strukturen lassen sich jedoch nur über die darin handelnden Personen vermitteln. Und Dokumente legen deren Handeln offen. Den Republik-Recherchen liegen über 3000 Seiten Dokumente zugrunde, die eine lückenlose Rekonstruktion der Vorgänge in der Affäre Carollo zulassen.
Der Aufstieg Rainer Wallnys zum Departementsleiter ist beispielhaft für die mangelhaften, intransparenten Strukturen an der ETH, die Vetternwirtschaft begünstigen können. Missstände, wie sie im Interview mit der Republik auch Physikprofessorin Ursula Keller benannte, die mit den Verhältnissen an der ETH Zürich seit Jahrzehnten vertraut ist.
Gestützt auf die internen Dokumente rollen wir deshalb die Vorgänge bei der Vergabe des Leitungspostens am Physikdepartement detailliert auf. Fragen dazu wollte Rainer Wallny auch diesmal keine beantworten. Ebenso wenig die ETH-Kommunikationsstelle. «Wie Sie wissen», teilte die Medienstelle mit, «sind wir mit der bisherigen Berichterstattung der Republik in Bezug auf den Fall Carollo nicht einverstanden.»
Geniestreich oder «Groschenroman»? Entscheiden Sie selbst.
Der Verzicht
Anfang 2017 leitet Professor Simon Lilly das Physikdepartement. Lilly ist der Ehemann von Marcella Carollo. Für den Sommer sind reguläre Neuwahlen geplant, wie sie für die Departementsleitung alle zwei Jahre stattfinden. Lilly führt deshalb eine Befragung aller Physikprofessoren durch. Sie ergibt, dass es eine Mehrheit begrüssen würde, wenn Lilly eine zweite Amtszeit anhängte.
Die Umfrage zeigt auch: Falls Lilly wider Erwarten verzichten würde, gäbe es zwei klare Favoriten für seine Nachfolge. Sein Stellvertreter Rainer Wallny gehört nicht dazu. Wie die Recherchen belegen, geniesst Wallny zu diesem Zeitpunkt den Rückhalt von 11 der rund 30 Professoren, während die beiden Erstklassierten von 26 respektive 21 ihrer Kollegen nominiert werden.
Doch dann kommen die Mobbingvorwürfe gegen Marcella Carollo auf.
Lilly ahnt damals noch nicht, wie sehr die Affäre eskalieren wird, wohl aber, dass er sich und dem Departement keinen Dienst erweist, wenn er sich zur Wiederwahl als Vorsteher stellt. Er will seinen Posten daher zum Ende der Amtsperiode am 31. Juli 2017 abgeben.
Als ihn ETH-Präsident Lino Guzzella am 5. April 2017 bittet, auf eine neuerliche Kandidatur zu verzichten, teilt ihm Lilly mit, dass er diese Entscheidung bereits gefällt habe. Und auch, dass er die beiden Professoren mit dem grössten Rückhalt in der Professorenschaft kontaktiert habe. Beide würden es jedoch ablehnen, das Amt per 1. August zu übernehmen. Guzzella signalisiert daraufhin, dass er nochmals auf die beiden zugehen werde.
Mitte April 2017 wird Simon Lillys Nachfolge in der Departementsleitung diskutiert. Der Departementsleitung gehören neben Lilly und Rainer Wallny auch die beiden Professoren Manfred Sigrist und Andreas Wallraff an.
Wallraff und Wallny stehen dem Vorgehen Guzzellas skeptisch gegenüber, so steht es im Protokoll der Sitzung. Sie pochen auf eine rasche Klärung, wer das Departement führen soll. Am selben Treffen teilt Lilly mit, sich nicht an der Suche nach seinem Nachfolger zu beteiligen. Er wolle sich von allem fernhalten, was einen Interessenkonflikt bergen könnte.
Der Plan
Ende April 2017 trifft sich die Departementsleitung erneut. Laut Protokoll hat Guzzella erfolglos versucht, einen Kandidaten für das Amt des Physikvorstehers zu finden. Rainer Wallny, Andreas Wallraff und Manfred Sigrist entscheiden daher, dass Wallny die Wahl des Nachfolgers organisieren soll.
Doch Rainer Wallny kümmert sich nicht nur darum.
Am 4. Mai 2017 trifft sich eine Delegation des Physikdepartements mit ETH-Präsident Lino Guzzella. Der nach wie vor amtierende Vorsteher Lilly ist nicht eingeladen, dabei soll es nicht um seine Nachfolge gehen, sondern um die Zukunft des Astronomie-Instituts. An der Sitzung stellt Rainer Wallny seinen Aktionsplan vor, über den die Republik in der Recherche zum Fall ETH bereits berichtet hat: Das Astronomie-Institut, in das seit der Neulancierung 2002 rund 40 Millionen Franken investiert wurden, soll aufgelöst werden.
Die beiden Astronomen Marcella Carollo und Simon Lilly sollen laut Plan zu unabhängigen Professoren ohne Institut werden. Und alle verbleibenden Aktivitäten des Astronomie-Instituts sollen auf Wallnys eigenes Institut übertragen werden, das fortan «Institut für Teilchen- und Astrophysik» heissen soll.
Auf diesen Plan hatte sich Wallny schon am 3. April mit Ulrich Weidmann verständigt, dem ETH-Vizepräsidenten für Personal und Ressourcen. Die beiden lassen die zuvor ebenfalls diskutierte Alternative zur Schliessung des Astronomie-Instituts fallen: Sie verzichten darauf, die von Doktorandinnen und Postdocs gegen Marcella Carollo erhobenen Mobbingvorwürfe von einer Untersuchungskommission beleuchten zu lassen, die von einem Mitglied des Physikdepartements, Mitgliedern anderer Departemente sowie externen Mitgliedern gebildet würde.
Der ETH-Präsident entscheidet wie sein Vize: Ohne Umschweife heisst Lino Guzzella am 4. Mai 2017 Wallnys Plan gut. Das Ende des Astronomie-Instituts wird innert Minuten besiegelt.
Sechs Tage später setzt Guzzella Simon Lilly über die Umstrukturierung ins Bild. Vor fünfzehn Jahren hatte die ETH den bekannten britischen Wissenschaftler nach Zürich geholt, um dem Astronomie-Institut zu Glanz zu verhelfen. Nun wird es aufgelöst, ohne dass Lilly in diese Entscheidung einbezogen worden wäre. Am 11. Mai tritt Simon Lilly, enttäuscht und unter stillem Protest, mit sofortiger Wirkung als Departementsvorsteher zurück.
Der Trick
Rainer Wallny organisiert derweil die Wahl der neuen Departementsleitung. Am 8. Mai schreibt er in einer E-Mail an sämtliche Physikprofessoren, wie die für den 2. Juni vorgesehene Wahl ablaufen soll. Die verbleibende Departementsleitung, der nach dem Rücktritt Lillys nur noch Wallny, Andreas Wallraff und Manfred Sigrist angehören, werde unter seiner Führung eine Findungskommission einsetzen. Sie soll geeignete Kandidaten für die Positionen des Departementsvorstehers, des Vizevorstehers, des Studiendirektors und des Präsidenten der Strategiekommission finden.
Dazu muss man wissen: Solche Wahlen sind am Physikdepartement reine Formsache. Es wird im Vorfeld jeweils bloss ein Kandidat pro Amt ermittelt. Das heisst: Die Findungskommission ermittelt faktisch die neue Leitung.
Zusammengesetzt werde die Findungskommission, schreibt Wallny weiter, aus Wallraff, Sigrist und Andreas Vaterlaus, dem Prorektor für Curriculumsentwicklung. Er selbst, Wallny, werde Wallraffs Platz in der Kommission einnehmen, wenn es um die Suche nach dem Kandidaten für das Präsidium der Strategiekommission gehe – da Wallraff als bisheriger Amtsinhaber selber ein möglicher Kandidat sei.
Im Klartext: Es gibt die Findungskommission in zwei unterschiedlichen Zusammensetzungen. Sigrist und Vaterlaus haben dauerhaft Einsitz. Den dritten Sitz hat Wallraff inne, wenn es um den Departementsvorsteher geht. Und Wallny, wenn es um den Präsidenten der Strategiekommission geht.
Wallny und Wallraff können sich so gegenseitig als Kandidaten vorschlagen. Und in beiden Konstellationen hat die bestehende Departementsleitung eine komfortable Zweidrittelsmehrheit, da ihr einzig Vaterlaus nicht angehört. Mit diesem Trick schafft es die Departementsleitung, dass stets die von ihr gewünschte Person als Kandidat identifiziert wird.
Und tatsächlich: Am 2. Juni werden alle Mitglieder der Departementsleitung für die Amtsperiode 2017 bis 2019 in die gewünschten Ämter gewählt: Wallraff bleibt Präsident der Strategiekommission, Sigrist Studiendirektor. Und Wallny wird zum Departementsvorsteher gekürt.
Die Republik fasste diesen Prozess in ihrer Chronologie des Falls Carollo so zusammen, dass Wallny sich selber kürte. Der Teilchenphysiker hielt in den Tamedia-Zeitungen entgegen, er sei gar nicht Teil der Findungskommission gewesen. Fakt ist jedoch: Wallny leitete die Organisation der Findungskommission. Und er sass darin, als Wallraff als Kandidat identifiziert wurde.
Das Sprungbrett
Unbestrittene Wahlen mit Einzelkandidaten sind im akademischen Betrieb nicht untypisch. Umso wichtiger wäre es, die Verfahren, wie Kandidaten für Führungspositionen identifiziert werden, transparent zu gestalten.
Simon Lilly liess deshalb alle Professoren des Physikdepartements nach ihrem Wunschkandidaten befragen. Doch nach dem sofortigen Rücktritt Lillys verschwand diese Befragung in einer Schublade.
Und so wurden die Mobbingvorwürfe gegen Carollo für Rainer Wallny zum Sprungbrett in die Chefposition. Statt sich um eine Schlichtung des Konflikts zwischen Professorin Carollo und ihren Doktoranden zu bemühen, strebte Wallny die Auflösung des Astronomie-Instituts an, was sein Institut stärkte und den sofortigen Rücktritt Simon Lillys zur Folge hatte.
Und dann leitete er die Organisation der Neuwahlen, die ihn selbst zum Departementsvorsteher machen sollten.
Ein «Groschenroman»? Oder vielmehr eine Geschichte über intransparente Strukturen an einer öffentlichen Institution, die zu fragwürdigen Verfahren und sogar Vetternwirtschaft verführen können? Es sind Strukturen, die an der ETH Zürich nicht nur im Physikdepartement gang und gäbe sind.
Gegendarstellung der ETH
Die Republik schreibt (S. 1): «Eine mehrteilige Serie machte das systematische Versagen der renommierten Hochschule im Fall der Mobbingaffäre um Astronomin Marcella Carollo publik – und zeigte auf, wie willkürlich die ETH mit Vorwürfen gegen Professoren umgeht.» Dass systematisches Versagen und Willkür vorliegen, trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Die ETH hat die eigenen Regeln eingehalten. Die involvierten Stellen haben sich in der vorliegenden Angelegenheit an die anwendbaren Gesetze, Verordnungen und Weisungen gehalten.
Die Republik schreibt (S. 1): «Nicht nur verpasste er [Rainer Wallny] es, zwischen der Professorin und ihren Doktorandinnen zu schlichten (...).» Das trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Rainer Wallny hat als stellvertretender Departementsvorsteher im Rahmen der informellen Schlichtung mehrfache Vermittlungsbemühungen unternommen und seine diesbezüglichen Pflichten erfüllt. Die drei die Professorin verlassenden Doktoranden verzichteten auf die Einleitung eines formellen Schlichtungsverfahrens.
Die Republik schreibt (S. 1): «(...) auch war es seine [Wallnys] Idee, als Reaktion auf den Konflikt das Astronomie-Institut der ETH Zürich aufzulösen.» Das trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Der Vorschlag für die Neuorganisation im Bereich Astrophysik wurde durch die Schulleitung zusammen mit der Departementsleitung erarbeitet.
Die Republik schreibt (S. 4): «Wallny und Wallraff können sich so gegenseitig als Kandidaten vorschlagen. Und in beiden Konstellationen hat die bestehende Departementsleitung eine komfortable Zweidrittelsmehrheit, da ihr einzig Vaterlaus nicht angehört. Mit diesem Trick schafft es die Departementsleitung, dass stets die von ihr gewünschte Person als Kandidat identifiziert wird.» Das trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Als bisheriger Präsident der Strategiekommission war Andreas Wallraff bereits als Kandidat gesetzt. Die Findungskommission zur Suche nach Kandidaten für das Präsidium der Strategiekommission wurde daher gar nicht aktiv. Die Professorenschaft wurde hingegen aufgefordert, sich für die Wahl als ordentliches Mitglied der Strategiekommission aufstellen zu lassen.
Die Republik schreibt (S. 4): «Simon Lilly liess deshalb alle Professoren des Physikdepartements nach ihrem Wunschkandidaten befragen. Doch nach dem sofortigen Rücktritt Lillys verschwand diese Befragung in einer Schublade.» Das trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Diese Befragung wurde obsolet, nachdem sich kein weiterer Kandidat ausser Rainer Wallny zum damaligen Zeitpunkt für das Amt zur Verfügung gestellt hatte.
Die Republik schreibt (S. 4): «Statt sich um eine Schlichtung des Konflikts zwischen Professorin Carollo und ihren Doktoranden zu bemühen, strebte Wallny die Auflösung des Astronomie-Instituts an, was sein Institut stärkte und den sofortigen Rücktritt Simon Lillys zur Folge hatte.» Das trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Prof. Wallny hat seine Vermittlungspflichten erfüllt. Die Reorganisation im Physikdepartement erfolgte auf Entscheid des Präsidenten der ETH. Der Rücktritt von Prof. Lilly als Departementsvorsteher war unabhängig davon.
ETH Zürich
Die Redaktion hält an ihrer Darstellung fest.
Silvan Aeschlimann ist Autor und Journalist in Zürich und Barcelona. Seine Romane «Glück ist teuer» (2017) und «Ungehört» (2013) kreisen um Themen wie Leistungsdruck, wirtschaftliches Wachstum und Materialismus.
Dominik Osswald ist gelernter Geologe, begeisterter Bergsteiger und freier Autor. Für Magazine und TV-Sender berichtet er über die AHV-Reform und die #MeToo-Debatte, extreme Bergtouren und den Klimawandel. Stationen bei «Basler Zeitung», «Tages-Anzeiger», SRF-«10 vor 10» und SRF-«Rundschau».
Dennis Bühler ist Redaktor der Republik.