Der Schweinezyklus bei den Wohnungen
Der Wohnungsmarkt ist im Ungleichgewicht. Und zwar gleich doppelt: bei der Anzahl und bei der geografischen Verteilung. Das zeigt eine Übersicht anhand von Daten der letzten 34 Jahre.
Von Simon Schmid, 15.04.2019
An Mordecai Ezekiel erinnern sich die wenigsten Fachleute. Dabei war er ein bedeutender Agrarökonom. Ezekiel lebte von 1899 bis 1974 und gestaltete in den 1930er-Jahren die US-Landwirtschaftspolitik des New Deal entscheidend mit. Und er prägte einen Begriff, der über die Jahre hinweg Eingang ins volkswirtschaftliche Standardvokabular gefunden hat: den pork cycle.
Dieser Schweinezyklus beschreibt ein System, das stets von einem Extrem ins andere pendelt – einen Markt, der eigentlich nie im Gleichgewicht ist. Beim Namen war Ezekiel durch einen Zyklus bei der Schweinezucht inspiriert: War das Angebot jeweils knapp, stiegen die Preise, und alle Züchter begannen, in Schweinefarmen zu investieren. Bis zum Zeitpunkt, als die Farmen ihre Produktion erhöht hatten, waren die Preise aber wieder im Keller – weil zu viele Züchter auf einmal ins Geschäft eingestiegen waren.
Der Schweinezyklus ist nicht wirklich Teil des ökonomischen Kanons; es gibt kaum Theorien, die darauf aufbauen, um beispielsweise Prognosen über den Wirtschaftsgang aufzustellen. Trotzdem ist verblüffend, wie oft er sich in der Praxis beobachten lässt. Zum Beispiel auf dem Schweizer Wohnungsmarkt.
Vom Mangel zum Überfluss
Dieser Markt ist von ausserordentlich starken Zyklen geprägt. Und zwar auf beiden Seiten: sowohl beim Angebot als auch bei der Nachfrage.
Schauen wir uns die Sache näher an. Zunächst das Angebot: die Wohnungen, die auf dem Markt sind, weil gerade niemand darin wohnt oder weil sie vor kurzer Zeit neu erstellt wurden. Die folgende Grafik zeigt die Zahl dieser Wohnungen – für einen Zeitraum von 34 Jahren von 1985 bis 2019.
Man erkennt auf der Grafik mehrere Wellen. Zu einem Anstieg der Zahl leerer Wohnungen kam es erstmals in den 1990er-Jahren, also kurz nach dem Ausbruch der Immobilienkrise. Danach ging das Angebot zurück. Ein zweites Mal stieg die Bautätigkeit dann in den 2000er- und insbesondere in den 2010er-Jahren an. Damals erhöhte sich die Anzahl der angebotenen Einheiten sukzessive von ungefähr 70’000 auf über 130’000. Der Zuwachs entspricht beinahe einer Verdoppelung innerhalb der letzten zehn Jahre.
Ganz anders sieht der Verlauf auf der anderen Seite aus: bei der Nachfrage.
Diese ist seit ungefähr zehn Jahren sehr flach, mit einem konstanten Bedarf von rund 100’000 Einheiten. Zuvor lag die Nachfrage jeweils zwischen etwa 50’000 und 80’000 Wohnungen, wobei die Dynamik genau umgekehrt zum Angebot verlief: Als das Angebot zu Beginn der 1990er-Jahre stieg, ging die Nachfrage gerade zurück. Kurz vor der Jahrtausendwende zog die Nachfrage wieder an – genau zu der Zeit, als das Wohnungsangebot wieder abnahm.
Wohlgemerkt handelt es sich bei der Nachfrage um eine Schätzung, nicht um eine beobachtbare Zahl. Sie setzt sich zusammen aus einer demografischen Komponente – gegeben durch die Geburten- und Sterbeziffer sowie durch die Zu- und Abwanderung in der Bevölkerung – sowie aus einem «optimalen Leerstand», den das Beratungsbüro Wüest Partner bei 1,3 Prozent des totalen Wohnungsbestandes ansetzt. Optimal bedeutet, dass bei diesem Leerstand gerade genug Freiräume da sind für Mieterwechsel oder Umbauarbeiten.
Zieht man die Nachfrage vom Angebot ab, ergibt sich eine Netto-Grösse, die man bei positivem Vorzeichen als «Wohnungsüberfluss» und bei negativem Vorzeichen als «Wohnungsmangel» bezeichnen kann. Hier ist eine Grafik, die das Wechselspiel der zwei Konstellationen über die letzten 34 Jahre abbildet.
Die Grafik zeigt, wie der Wohnungsmarkt wiederholt von einem Extrem ins andere gekippt ist. So gab es gegen Ende der 1980er-Jahre einen Mangel zu verzeichnen: Damals boomte die Wirtschaft, Zuwanderer kamen ins Land. Kurz danach sackte der Immobilienmarkt wegen einer geplatzten Blase ein.
Anfang der 1990er-Jahre wurde munter weitergebaut. Der Bund förderte die Wohnungsproduktion zusätzlich durch Impulsprogramme für die Bauwirtschaft, um die Konjunktur zu beleben. Doch als die Wohnungen auf den Markt kamen, war die Schweiz bereits in der Rezession. Die Kaufkraft stagnierte, die Zuwanderung fiel, keiner wollte die vielen leeren Wohnungen: Ein Überfluss von schweizweit über 40’000 Einheiten stellte sich ein.
Die Bauwirtschaft reagierte mit einem Planungsstopp. Und war abermals zu spät dran, als um die Jahrtausendwende die Wirtschaft wieder in Schwung kam und die Immigrationsraten erneut in die Höhe gingen. Als Resultat davon ergab sich am Wohnungsmarkt erneut ein mehrjähriger Mangel. Dieser Mangel hielt bis 2015 an – und kippte dann wieder in einen Überfluss.
Befeuert durch tiefe Zinsen und steigende Preise, legte die Bauwirtschaft den Schalter in den 2010er-Jahren ein weiteres Mal um. Und errichtete kreuz und quer übers Land hinweg Zehntausende von Mehrfamilienhäusern. Der richtige Ausstiegszeitpunkt wurde dabei ein weiteres Mal verpasst: Nach wie vor sind Baugesuche hängig – Projekte, die vor zwei oder drei Jahren geplant wurden, werden aktuell realisiert. So entstand ein Überfluss, der sich nach Schätzungen von Wüest Partner aktuell auf rund 30’000 Wohnungen beläuft.
Ein klassischer Schweinezyklus also. Allerdings schwingt dabei – je länger, je mehr – eine räumliche Komponente mit. Sie prägt den Markt derzeit stark.
Das geografische Gefälle
Denn der Markt spielt je nach Ort völlig unterschiedlich. Die folgende Karte illustriert dies: Sie ist gegliedert nach den sogenannten MS-Regionen, einer räumlichen Analyseeinheit, die das Bundesamt für Statistik gern verwendet.
Die Karte zeigt, wie sich die Lage in den verschiedenen Regionen präsentiert. Gebiete mit einem Wohnungsmangel sind mit negativen Vorzeichen versehen und in Rot dargestellt. Gebiete mit ausgeglichenem Markt sind grau, Gebiete mit einem Wohnungsüberfluss sind blau eingefärbt.
Aus der Abbildung wird klar, dass nicht alle Regionen einen Überfluss an Wohnungen verzeichnen. Im Gegenteil: In Städten wie Zürich, Genf oder Lausanne gibt es nach wie vor einen Mangel an Wohnraum. Auch in Zug sowie in einigen Regionen rund um Zürich übersteigt die Nachfrage trotz reger Bautätigkeit in den letzten Jahren noch immer das Angebot.
Umgekehrt verzeichnen weite Teile des Mittellandes und der Ostschweiz sowie Teile des Wallis und des Tessins einen grösseren Überfluss. In diesen Gegenden sind jeweils über 1000 Wohnungen auf dem Markt, für die es gar keine Nachfrage gibt. Der Wohnungsmarkt ist also räumlich heterogen.
Das war nicht immer so, wie die folgende Grafik illustriert. Sie zeigt die zeitliche Entwicklung des Wohnungsmarkts in vier ausgewählten Regionen: Zürich, Morges (im Waadtland), Martigny (im Wallis) und Aarau (im Aargau).
Bis Mitte der 1990er-Jahre verlaufen die vier Linien relativ nah beieinander. Das bedeutet, dass der Wohnungsmarkt in diesen Regionen damals ähnlich funktionierte: Zürich, Morges, Martigny und Aarau verzeichneten zur selben Zeit einen ungefähr ähnlich hohen Mangel respektive Überfluss.
Um die Jahrtausendwende trat dann die erste Diskrepanz auf. In Zürich waren Wohnungen plötzlich sehr gefragt: Während der Markt in den anderen Regionen weiter im Gleichgewicht lag, stellte sich in Zürich ein Mangel ein. Dieses Bild blieb mehr oder weniger bestehen bis Mitte der 2010er-Jahre.
Dann kam es zur zweiten asynchronen Entwicklung. Sie lässt sich an der Kurve von Aarau ablesen: Statt auf einem Niveau von rund 1000 Einheiten zu verharren, wuchs und wuchs der dortige Wohnungsüberfluss weiter an – bis auf die Zahl von 3620 Einheiten, wo er nach den Schätzungen aktuell steht.
Der Schweinezyklus wurde also von einem zweiten Trend überlagert: Von der Tendenz, dass Wohnungen am falschen Ort gebaut werden – dort, wo zwar der Platz noch vorhanden ist, wo aber verhältnismässig wenig Menschen wohnen wollen. Anzeichen davon gibt es auch in der Region Martigny, wo der Überfluss in den letzten Jahren um rund 900 Wohnungen zugenommen hat.
In seinem aktuellen «Immo-Monitoring» berichtet Wüest Partner, dass auch in den Grosszentren Basel, Bern, Genf, Lausanne und Zürich in nächster Zeit viele Wohnungen auf den Markt kommen: Die Neubaugesuche seien im letzten Jahr um 59 Prozent gestiegen und auf dem höchsten Stand seit 2000.
Die Vermutung liegt nahe, dass der Markt diese Wohnungen absorbieren wird – zumindest an Orten wie Genf, Lausanne oder Zürich, wo die Nachfrage das Angebot nach Wohnungen nach wie vor übersteigt.
Die Wahrscheinlichkeit, dass der Schweinezyklus auch in diesen Städten überschiesst, ist gering. Aber wer weiss: Vielleicht ändern sich die Vorlieben in einigen Jahren doch wieder völlig – und die Menschen wollen plötzlich nicht mehr in den Städten, sondern wieder auf dem Land wohnen. Der passende Begriff für diesen Zyklus müsste dann noch gefunden werden.
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