Auf lange Sicht

Eine kurze Geschichte der Wanderung

Warum früher mehr Menschen in die Schweiz kamen – und warum heute mehr Menschen in der Schweiz bleiben: die Lehren aus sieben Jahrzehnten Zu- und Auswanderung.

Von Simon Schmid, 04.06.2018

Dieser Text heisst bewusst nicht: eine kurze Geschichte der Zuwanderung. Sondern er heisst ganz bewusst: eine kurze Geschichte der Wanderung.

Denn: Migration ist immer eine zweispurige Angelegenheit. Sie verläuft in beide Richtungen – in ein Land hinein und aus einem Land heraus.

Diese Differenzierung ist wichtig. Die Schweiz war nicht immer nur Zuwanderungsland: Über weite Strecken des 19. Jahrhunderts verliessen mehr Menschen die Schweiz als umgekehrt. Erst ab etwa 1880 kippte die Bilanz ins Positive, und sie war es seither auch nicht durchgängig. Zwischen den Weltkriegen beispielsweise sank der Ausländeranteil im Land.

Darum erzählt dieser Text also: eine kurze Geschichte der Wanderung.

Und zwar in vier Kapiteln, fokussiert auf die jüngere Vergangenheit: auf die sieben Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg. Diese Zeit lässt sich in vier Phasen einteilen – Phasen, in denen unterschiedliche Regeln galten und in denen verschiedene Zu- und Abwanderungsdynamiken das Bild prägten.

1. Das grosse Kommen und Gehen

Tod, Elend, Verwüstung: In den Nachbarländern lag die Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg am Boden. Nicht so in der Schweiz. Nach 1945 lief die Produktion auf hohen Touren, Arbeitskräfte wurden gesucht. Das Land war entsprechend attraktiv für ausländische Arbeitssuchende. Viele Italiener und Spanier kamen in den 1950er- und den 1960er-Jahren in die Schweiz, abgestützt auf offizielle Migrationsabkommen zwischen den Staaten.

Die Schweiz verzeichnete in dieser Zeit hohe Zuwanderungsraten. 100’000 bis 200’000 Personen überquerten damals pro Jahr die Grenze zur Schweiz. Beim damaligen Bevölkerungsstand entspricht dies einer Zuwanderungsrate von 2 bis 4 Prozent. Die meisten waren Gastarbeiter: Sie schufteten während knapp eines Jahres in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder in der Gastronomie und verliessen die Schweiz danach wieder. Ein längerer Aufenthalt war ihnen nicht gestattet, und der Familiennachzug war ebenfalls nicht erlaubt.

Die Regelung über den Aufenthalt der Gastarbeiter hiess Saisonnierstatut. Sie gewährte den ausländischen Arbeitern eine auf elfeinhalb Monate befristete Aufenthaltsgenehmigung (ab 1973 waren es dann nur noch neun Monate). Das Saisonnierstatut ist der Grund, warum in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht nur die Zuwanderungs-, sondern auch die Auswanderungsraten hoch waren. Zum Höhepunkt der Migration in den frühen 60er-Jahren stiegen Letztere auf rund 3 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz an.

Menschen kamen und Menschen gingen

Zu- und Auswanderung, in Prozent der Bevölkerung

Auswanderung
Zuwanderung
19481971199320162,0 %1,1 %0,02,04,0 %

Quelle: KOF

Die Daten

Die Datenreihen wurden von Michael Siegenthaler zusammengestellt, einem Spezialisten für Arbeitsmarktökonomie an der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. Sie stammen aus mehreren Quellen: aus einer Studie der Genfer Ökonomen Jean-Paul Chaze und Anna Gorini (BFS/Demos, 2002: «Ein- und Auswanderung nach Alter und Geschlecht für die Periode 1948–1980»), von der BFS-Statistik «BEVNAT» (1981–2009) und von der BFS-Statistik «Statpop» (ab 2010). Von Siegenthaler stammt auch die Einteilung in vier Phasen. Die Raten im Verhältnis zum Bevölkerungsstand wurden anhand von Zahlen des Bundesamts für Statistik berechnet. Diverse Angaben zur Migrationspolitik wurden conTAKT-Spuren entnommen, einem Projekt des Migros-Genossenschafts-Bundes.

Neben Italienerinnen und Spanierinnen kamen damals auch viele deutsche und österreichische Frauen in die Schweiz. Sie arbeiteten als Haushaltshilfen, Kinderbetreuerinnnen, Krankenschwestern, Textilarbeiterinnen und verdienten in der Regel weniger als Schweizerinnen. Die Lebensbedingungen der Saisonniers waren vielfach prekär. Viele Gastarbeiterinnen wohnten in Barackensiedlungen. Ein permanentes Bleiberecht erhielt erst, wer über zehn Jahre hinweg als Saisonnier in der Schweiz gearbeitet hatte.

Gemessen am Wanderungssaldo – also der Differenz zwischen den Zu- und Auswanderungszahlen – war die Immigration in die Schweiz in der Nachkriegszeit eigentlich gar nicht so gross. Trotzdem wurde 1964 erstmals eine «Überfremdungs-Initiative» lanciert. 1970 folgte eine zweite Initiative, welche die Zuwanderung beschränken wollte: die Schwarzenbach-Initiative.

Die Initiative scheiterte an der Urne knapp. Trotzdem hatte sie Folgen für die Migrationspolitik. Drei Monate vor der Volksabstimmung führte der Bundesrat ein neues System ein: die sogenannte Kontingentierung. Jährlich festzulegende Quoten sollten neu die Zuwanderung regulieren, um ein unkontrolliertes Wachstum der ausländischen Bevölkerung zu verhindern.

Tatsächlich kamen in den Folgejahren weniger Menschen in die Schweiz. Allerdings aus anderen Gründen, als die Migrationspolitik vorgesehen hatte.

2. Abwanderung in den Ölkrisen

1973 war ein Schicksalsjahr für die Weltwirtschaft. Das Bretton-Woods-System, das lange für stabile Wechselkurse gesorgt hatte, brach zusammen. Eine Ölkrise führte zu weltweiten Preisanstiegen und zu Rezessionen. Auch die Schweiz war betroffen: Es kam zu Massenentlassungen und Betriebsschliessungen, Sonntagsfahrverbote wurden ausgesprochen. Das Wirtschaftswachstum, das in den Jahren zuvor noch bei über 10 Prozent gelegen hatte (ein heute undenkbar hoher Wert), kam zum Erliegen.

Abgefedert wurde der Abschwung über die Migration. Zum einen ging die Zuwanderungsrate zurück: 1975 fiel sie auf 1 Prozent; bis zum Ende des Jahrzehnts stieg sie nicht mehr über 1,3 Prozent. Zum andern stieg die Abwanderungsrate: von 1,5 auf rund 2 Prozent. In absoluten Zahlen kamen damit noch rund 70’000 Personen pro Jahr in die Schweiz, während etwa 120’000 Personen das Land verliessen. Damit wurde die Schweiz während mehrerer Jahre zum Netto-Auswanderungsland.

Die Schweiz exportierte in der Ölkrise einen Grossteil ihrer Arbeitslosigkeit: in die Herkunftsländer, aus denen die Migrantinnen zuvor gekommen waren.

3. Kontingente und ihre Wirkung

Das Kontingentsystem, das die Schweiz 1970 eingeführt hatte, kam damit erst in den 80er-Jahren zum Tragen – als die Wirtschaft boomte und wieder Arbeitskräfte gebraucht wurden. In der zweiten Zuwanderungswelle wurden vor allem Portugiesen und Jugoslawen ins Land geholt, um auf den Baustellen, den Feldern und in den Fabriken zu arbeiten.

Anders, als man vielleicht erwarten würde, wurde die Immigration durch das Kontingentsystem aber nicht wirklich beschränkt. Mitte der 80er-Jahre stieg die Zuwanderungsrate abermals an: Die Kontingente erwiesen sich als ziemlich flexibel. Unternehmen und Branchenverbände, die in Bundesbern genug Druck machten, konnten darauf zählen, dass die Behörden ihren Wünschen entsprachen und entsprechend viele Bewilligungen erteilten.

Fremdarbeiter genossen in dieser Zeit immer noch eingeschränkte Rechte. Ihre Aufenthaltsbewilligung war mit einer bestimmten Anstellung verknüpft, entsprechend gross war das Machtgefälle zu den Arbeitgebern. Andererseits führte die Schweiz 1982 eine obligatorische Arbeitslosenversicherung ein: Wer seine Stelle verlor, musste die Schweiz damit nicht sofort verlassen. Ab 1984 wurde auch die dauerhafte Niederlassung vereinfacht: Statt nach zehn Jahren konnten Gastarbeiter diese neu bereits nach fünf Jahren beantragen.

All dies führte in der Summe dazu, dass die Netto-Zuwanderungszahlen wieder stiegen. Rund 125’000 Personen wanderten Ende der 1980er-Jahre pro Jahr in die Schweiz ein, rund 75’000 Personen wanderten pro Jahr aus. Unter dem Strich lag der Zuwanderungssaldo damit bei rund 50’000 Personen, was damals einer Rate von knapp 1 Prozent entsprach.

4. Strukturell hohe Salden

Das ist in etwa der Saldo, bei dem sich die Zuwanderung auch in den letzten Jahren eingependelt hat – unter dem Regime der Personenfreizügigkeit, das die Schweiz 2000 beschlossen und ab 2002 schrittweise eingeführt hat. Es gewährt Bürgern aus der Europäischen Union das Recht, sich in der Schweiz niederzulassen und hier nach Arbeit zu suchen.

Die Personenfreizügigkeit fiel zusammen mit einem Wirtschaftsboom. Mitte der 1990er-Jahre war die Immigration zum Erliegen gekommen – die Schweiz befand sich in einer Rezession. Um die Jahrtausendwende fand das Land dann aus seinem Tief. Und mit der Wirtschaft zog auch die Zuwanderung wieder an: Deutsche, Portugiesen, Italiener und mit der Zeit auch mehr Menschen aus anderen EU-Ländern zogen in die Schweiz. Die Zuwanderer waren typischerweise besser qualifiziert: Sie führten wissensintensivere Tätigkeiten aus und verdienten auch besser als frühere Zugewanderte.

Anders als in den 1960er-Jahren blieben die Zuwanderinnen diesmal aber im Land: Sie waren keine Saisonniers mehr, die am Ende des Jahres ausreisen mussten, sondern erhielten Aufenthaltsbewilligungen, die ab dem Zeitpunkt eines Stellenantritts mehrere Jahre lang gültig waren. Für die meisten EU-Einwanderer wird seit 2007 automatisch ein sogenannter B-Ausweis vergeben, der zu einem Aufenthalt von fünf Jahren in der Schweiz berechtigt. Dieser ist nicht mehr an den Job gebunden, der Familiennachzug ist erlaubt. Danach erhalten die meisten eine Niederlassungsbewilligung (C). Auch Kurzaufenthalter unter einem Jahr können neu ihre Familien mitbringen.

So änderte sich das Wesen der Migration. Aus einem Kommen und Gehen wurde ein Kommen und Bleiben. Und obwohl die eigentliche Zuwanderung heute geringer ist als in der Nachkriegszeit, weist die Schweiz einen höheren Wanderungssaldo auf. Die Bevölkerungszahl in der Schweiz wächst heute migrationsbedingt um knapp 1 Prozent pro Jahr beziehungsweise um rund 60’000 bis 70’000 Personen (das Jahr 2017 dürfte etwas schwächer ausfallen).

Strukturelle statt konjunkturelle Zuwanderung

Wanderungssaldo, in Prozent der Bevölkerung

19481971199320160,9 %−1012 %

Quelle: KOF

Ökonomen und Bevölkerungsforscher sind unsicher, wie sich die Zu- und Abwanderung in den kommenden Jahren entwickeln wird. Einerseits bleibt die Schweiz als Zuwanderungsland attraktiv: Die Löhne sind höher als in den umliegenden Ländern. Andererseits läuft die Konjunktur in Europa immer besser: Das hat die Zuwanderung zuletzt leicht gedämpft. Welcher Effekt überwiegt, lässt sich im Voraus nur schwer bestimmen.

Verkomplizierend kommt die demografische Alterung hinzu: Mehr und mehr Erwerbspersonen werden in den kommenden Jahren in Rente gehen. Das zieht einen zusätzlichen Bedarf an Arbeitskräften nach sich – sowohl in der Schweiz als auch in den umliegenden Ländern. Prognosen sind angesichts dieser Ausgangslage schwierig; die aktuellen Zahlen müssen wohl oder übel als beste Schätzung für die nahe Zukunft angesehen werden.

Schluss

Die Geschichte zeigt, dass die Migration sowieso schwer voraussehbar ist. Egal welches Zuwanderungsregime in der Schweiz gerade galt: Letztlich hing es von der Wirtschaftsentwicklung ab, wie viele Menschen ins Land kamen. Doch die ist von Natur aus ungewiss, wie in der Finanzkrise deutlich wurde.

Die Konjunktur beeinflusste ebenfalls, wie viele Personen die Schweiz wieder verliessen. Aber nicht allein: Mindestens so wichtig für die Auswanderung war die Ausländerpolitik. Also die Frage, ob zugewanderte Leute auf dem Arbeitsmarkt ähnliche Rechte besitzen sollten wie die Einheimischen.

Im Verlauf der letzten Jahrzehnte (und spätestens mit der Einführung der Personenfreizügigkeit) wurde diese Frage zunehmend mit Ja beantwortet. Die von der SVP lancierte Masseneinwanderungsinitiative hätte dies ändern wollen und die Migration wieder mit Kontingenten steuern, so wie es in den 1980er- und 1990er-Jahren gemacht worden war. Ob dies aber tatsächlich zu weniger Immigration geführt hätte, sei dahingestellt.

Vermutlich würden Kontingente vor allem die Rechte von ausländischen Arbeitnehmerinnen schwächen und die strukturschwachen Branchen stärken, die auf billige Arbeitskräfte angewiesen sind. Wie eine solche Zuwanderungssteuerung aber genau aussähe – und welche Folgen sich mit dem stattdessen eingeführten Inländervorrang ergeben –, ist eine längere Geschichte. Sie sei ein anderes Mal erzählt.

Was verändert sich auf die lange Sicht?

Hat die Schweiz von der Zuwanderung im Rahmen der Personenfreizügigkeit profitiert? Oder war sie mit den alten Saisonnier- und Kontingentsystemen besser beraten? Diskutieren Sie im Forum der Rubrik «Auf lange Sicht».