Richter in Uniform
Seit 180 Jahren leistet sich die Schweiz eine Militärjustiz: in Kriegs- wie in Friedenszeiten und manchmal sogar auf Zivilisten ausgeweitet. Oft schon wurde ihre Abschaffung gefordert – doch heute steht die Militärjustiz punkto Rechtsstaatlichkeit verblüffend gut da.
Von Brigitte Hürlimann, 09.04.2019
Fünf Uniformierte sitzen vorn auf dem Richterpodest, dekoriert mit den Insignien unserer Armee. Sie haben den altehrwürdigen Saal des Appellationsgerichts in Beschlag genommen, zusammen mit ihrer Entourage, alle im Militärgewand, doch sie sind nur Gäste hier, Fremdlinge, Eingemietete – ihr Aufmarsch wird mit verwunderten, auch irritierten Blicken zur Kenntnis genommen. So viele Uniformen an einem zivilen Gericht? Ist etwas passiert?
Es ist kein Krieg ausgebrochen. Es gibt keine Staatskrise. Auf den Strassen herrscht Ruhe und Ordnung. Weder haben hiesige Offiziere die Regierung gestürzt und die Macht an sich gerissen, noch wurde die Schweiz vom ausländischen Feind okkupiert. Nein, die Präsenz des Militärs auf der Richterbank markiert einen guteidgenössischen Brauch, eine Institution, die schon so manchen Angriff abgewehrt hat, von Freund und Feind. Die sich seit 180 Jahren hartnäckig hält, der anhaltenden Kritik zum Trotz. Am Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt tagt grad die schweizerische Militärjustiz.
Aber was ist das, eine Militärjustiz?
Feigheit vor dem Feind
Der Begriff ist unglücklich gewählt, irreführend gar, riecht er doch verdächtig nach Sonderjustiz oder eben: nach Militärdiktatur, Ausnahmezustand, nach Antidemokratie. Auf jeden Fall vereint er zwei Dinge, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben sollten, könnte man meinen. Nicht in einem langjährig erprobten, rechtsstaatlich vorbildlichen Staatsgebilde wie der Schweiz. Und doch leistet sich just unser Land eine Paralleljustiz in der Strafrechtssphäre. Will heissen: Wer als Zivilist mordet, stiehlt, vergewaltigt, betrügt oder zu schnell Auto fährt, der landet vor einem zivilen Strafgericht, wird nach den Regeln der zivilen Strafprozessordnung und des Strafgesetzbuches abgeurteilt – oder freigesprochen.
Wer hingegen im Militärdienst mordet, stiehlt, vergewaltigt, betrügt, seine Dienstpflichten missachtet, ohne Bewilligung fremde Söldnerdienste leistet, Material verschleudert, sich gegenüber dem Feind feige benimmt oder zu schnell Auto fährt, der landet vor dem Militärgericht. Hier gelten die Regeln der Militärstrafprozessordnung und des Militärstrafgesetzes; Letzteres zeichnet sich dadurch aus, dass es auch militärspezifische Delikte enthält, die den zivilen Rechtsunterworfenen erspart bleiben, zum Glück! Für Feigheit vor dem Feind droht als Höchststrafe eine lebenslängliche Freiheitsstrafe. Zu den – höchst umstrittenen – Spezialitäten der hiesigen Militärjustiz gehört auch deren punktuelle Ausweitung auf Zivilpersonen, doch dazu später mehr.
Es droht eine unbedingte Freiheitsstrafe
Kehren wir vorerst zurück nach Basel, ans Appellationsgericht, wo vor geschlossener Saaltür ein nervöser Angeklagter auf und ab tigert. Er ist 36 Jahre alt, ein ehemaliger Soldat, der inzwischen altershalber aus der Armee ausgeschlossen wurde, was ihm nicht allzu viel Kummer bereiten dürfte. Thema des Prozesses ist mehrfache Dienstverweigerung. Es geht um viel, droht dem Ex-Soldaten doch eine unbedingte Freiheitsstrafe. Diese müsste er übrigens in einem ganz normalen Gefängnis absitzen, denn das Schweizer Militär verfügt weder über eigene Gerichtssäle noch über eigene Knäste. Und auch die Richterinnen, die Richter, die Auditoren (also die Ankläger), die Untersuchungsrichter, die Weibel oder die Gerichtsschreiberinnen sind «nur» im Milizsystem tätig, haben im zivilen Leben meist ganz andere Berufe. Als Mitglied der Militärjustiz schlüpfen sie in die Uniform mit einem Justitia-Abzeichen am Ärmel und damit in eine neue Rolle; eine überaus delikate, anspruchsvolle, mit folgenreichen Entscheidungskompetenzen.
Major Kenad Melunovic, Rechtsanwalt und Fachanwalt SAV Strafrecht in Aarau und Zürich, Auditor: «Die Militärjustiz ist eine sinnvolle und wichtige schweizerische Fachjustiz. Im zivilen Berufsleben verteidige ich Beschuldigte, im Militärdienst vertrete ich die Anklage. Das ist kein Spagat, das sind die zwei Seiten der gleichen Medaille. Im Zentrum stehen das Funktionieren des Rechtsstaats und die Fairness des Strafverfahrens. Ich diene dem Rechtsstaat, und zwar in beiden Rollen. Es geht um die Wahrheitssuche, die materielle und die prozessuale, vor allem aber geht es um ‹checks and balances›. Dies ist die Kernaufgabe einer wirkungsvollen Verteidigung, das sehe ich auch als Auditor so.»
Mutterseelenallein am kleinen Tisch
Der Gerichtsweibel öffnet die Tür. Der Prozess beginnt. Die Besetzung ist rein männlich; nichts Ungewöhnliches, was militärische Angelegenheiten betrifft. Auf den hinteren Bänken nehmen zwei (zivile) Zuschauer Platz, der (zivile) Verteidiger und der Auditor breiten ihre Unterlagen auf gleicher Höhe, jedoch mit gebührendem Abstand aus. Zwischen ihnen und dem Richterpodest muss sich der Angeklagte an ein kleines, frei stehendes Tischchen setzen, mutterseelenallein, in der Mitte des Raums. Blickt er hoch, sieht er in fünf Gesichter, die ihn aufmerksam mustern, jedes nervöse Blinzeln registrieren. Gerichtspräsident Oberst Lienhard Meyer macht ihn auf sein Aussageverweigerungsrecht aufmerksam – und erwähnt dann rasch die drei einschlägigen Vorstrafen.
Dreimal schon, konstatiert der Gerichtspräsident stirnrunzelnd, habe sich der Mann vor dem Militärgericht verantworten müssen, dreimal sei er wegen Dienstversäumnissen bestraft worden, und jedes Mal sei es darum gegangen, dass er aus beruflichen oder finanziellen Gründen den Militärdienst nicht angetreten habe. All die bisherigen Verfahren hätten ihn offensichtlich nicht beeindruckt. Und heute verlangt Auditor Fachoffizier Florian Weishaupt eine Bestrafung wegen Dienstverweigerung – nicht bloss wegen Versäumnissen.
Kein Militärgegner, nur anderweitig beschäftigt
Tatsächlich geht es bei den jüngsten Vorwürfen erneut um das Gleiche. Der Versicherungsberater rückte zweimal trotz Marschbefehlen nicht in den Wiederholungskurs ein und foutierte sich zweimal um die Nachschiesspflicht; und dies, obwohl er sich noch in der Probezeit der jüngsten, bedingt ausgesprochenen Strafe befand. Der Mann bestreitet dies alles nicht, beschreibt aber vor den Richtern wortreich sein damaliges Malaise. Er hatte eine Zeit lang eine eigene Firma, die nicht rentierte, er war überfordert, schon bald überschuldet und öffnete irgendwann die Briefe nicht mehr: «Ich habe nur noch an meinen Beruf und an meine Firma gedacht, das Militär ging an mir vorbei, ich war psychisch völlig absorbiert.»
Der 36-Jährige beteuert, alles andere als ein Militärgegner zu sein. Er ist Mitglied der freiwilligen Feuerwehr, und er legt Wert auf dieses Engagement, will er doch zeigen, wie sehr er sich um das Wohl der Gemeinschaft bemüht und keinen Aufwand scheut, wenn es um die Feuerwehr geht. Mit seinen Ausführungen bewirkt er allerdings das Gegenteil, auch vor dem Appellationsgericht. Kopfschütteln auf dem Richterpodest. Wie nur ist es möglich, fragen ihn die Richter, dass der Einsatz für die Feuerwehr auch in den grössten beruflichen und finanziellen Turbulenzen geleistet wurde, bloss der Militärdienst nicht?
Wir hingegen fragen uns: Warum nur findet dieser zweitinstanzliche Prozess in Basel statt? Der Mann lebt im Kanton Zürich, der erstinstanzliche Prozess wurde im Januar 2018 im schwyzerischen Lachen durchgeführt – wozu diese Tour de Suisse?
Aufgeteilt nach Sprachregionen
Die Antwort heisst, militärisch knapp: neue Organisationsstruktur. Unser reumütiger Versicherungsberater und dienstunwilliger Soldat gehört zu den ersten Angeklagten, die nach den Regeln einer komplett neuen Organisation beurteilt wurden. Seit dem 1. Januar 2018 ist die hiesige Militärjustiz in drei Kreise eingeteilt, und zwar entlang der Sprachregionen: deutsch, französisch, italienisch. Die Militärgerichte 1, 2 und 3 entscheiden als erste Instanz, die Appellationsgerichte 1, 2 und 3 als zweite, und an dritter und letzter Stelle kommt das Militärkassationsgericht; eine Art Bundesgericht in militärischen Angelegenheiten. Auch die Untersuchungsrichter und die Auditorinnen werden auf die drei Kreise beziehungsweise auf die Sprachregionen aufgeteilt.
So musste sich Ende Februar beispielsweise jener Tessiner Wachtmeister, der in Syrien für eine christliche Miliz gegen die Terrororganisation IS gekämpft hatte, erstinstanzlich in Bellinzona vor dem Tribunale militare 3 verantworten – das sich für diesen Prozess in die Räumlichkeiten des Bundesstrafgerichts eingemietet hatte. Es sprach den Mann wegen des Dienstes in einer fremden Armee schuldig und verhängte eine bedingte Geldstrafe.
Die drei Gerichtskreise werden von drei geschäftsleitenden Präsidenten geführt, welche die anstehenden Fälle den ihnen unterstellten Gerichtspräsidenten zuteilen. Diese wiederum kümmern sich um die Räumlichkeiten, mieten also Gerichtssäle für die provisorisch festgelegten Prozesstermine. Die Idee ist es, im ganzen Land Militärprozesse abzuhalten. Und wenn irgendwie möglich den Angeklagten allzu lange Anfahrtswege zu ersparen.
Oberst Gian Moeri, Rechtsanwalt in Zürich, geschäftsleitender Präsident des Militärgerichts 2: «Im zivilen Beruf bin ich vor allem in den Bereichen Strafrecht und Arbeitsrecht tätig, als Rechtsanwalt und Verteidiger. In der Militärjustiz habe ich sämtliche Stationen durchlaufen: vom Gerichtsschreiber zum Untersuchungsrichter, vom Auditor zum Richter und Gerichtspräsidenten, meiner heutigen Funktion. Untersuchungsrichter zu sein, war am spannendsten, Auditor am kniffligsten – und Richter zu sein ist die verantwortungsvollste Aufgabe. Wer sich vor der Militärjustiz verantworten muss, hat den Vorteil, dass ihm immer ein unentgeltlicher Anwalt zur Seite gestellt wird; anders als in der zivilen Strafjustiz.»
Einer schmeisst den Laden
Über der ganzen Organisation wacht das Oberauditorat mit Sitz in Bern. Der Oberauditor ist der höchste Chef der Militärjustiz und schmeisst sozusagen den Laden, eine vergleichbare Funktion gibt es in der zivilen Strafjustiz nicht. Der Oberauditor darf den Strafverfolgern und Richterinnen allerdings nicht reinreden, er hat nur wenige prozessuale Rechte, vor allem administrative Aufgaben – und er kümmert sich um die Ausbildung «seiner» Leute. Wer in die Militärjustiz eingeteilt werden will, stellt sein Gesuch ans Oberauditorat und wird von dort wieder aus dem Dienst entlassen. Der Oberauditor «überwacht die ordnungsgemässe Abwicklung der Militärstrafverfahren in organisatorischer Hinsicht und kann darüber Anordnungen treffen», so die einschlägige Regel in der Verordnung über die Militärjustiz.
Seit gut drei Jahren heisst der Oberauditor Stefan Flachsmann. Der 54-jährige promovierte Jurist aus Zürich bekleidet den Rang eines Brigadiers, war zuvor Rechtsanwalt und Verteidiger und lehrt seit 1999 Militärstrafrecht und -prozessrecht an der Uni Zürich; er ist sozusagen auch die Nummer eins in der hiesigen Militärstrafrechtslehre. Für Gespräche mit Medienvertretern steht der Oberauditor partout nicht zur Verfügung – kein Wunder, kennt man ihn ausserhalb militärischer Kreise kaum. Fragen dürfen nur der Kommunikationsabteilung zugestellt werden, Antworten treffen schriftlich ein.
Herr Oberauditor Brigadier Stefan Flachsmann, wie steht es mit den Frauen in der Militärjustiz?
Heute sind 18 Frauen in der Militärjustiz eingeteilt. Bei einem Stand von 400 eingeteilten Militärjustizangehörigen ergibt dies einen Frauenanteil von 4,5 Prozent. Zum Vergleich: In der Armee beträgt der Frauenanteil etwas weniger als 1 Prozent (Stand 2017). Der Frauenanteil in der Militärjustiz hat während der letzten zehn Jahre in allen Funktionen und auf allen Stufen deutlich zugenommen.
Und was kostet die Militärjustiz?
Die Kosten für die von der Militärjustiz geführten Verfahren betrugen 2018 rund 1,4 Millionen Franken. Das sind die Prozesskosten inklusive Anwaltskosten, Sold, Verpflegung, Unterkunft, Ausbildungs- und Beförderungskursen etc. Die Staatsrechnung wies für das Oberauditorat Kosten von rund 3 Millionen Franken für 2017 aus.
Welche Gründe sprechen Ihrer Meinung nach für die Beibehaltung der Militärjustiz?
Die Angehörigen der Militärjustiz verfügen über ein spezifisches Fachwissen; die Ausgangslage ist vergleichbar mit den zivilen Fachgerichten. Die Militärjustiz bietet zudem einige verfahrensmässige Vorteile, welche die zivile Strafjustiz aufgrund der von ihr geforderten Massendeliktstauglichkeit nicht hat. Diese prozessualen Vorteile zugunsten der Angeklagten werden auch als «Kompensation für die Zwangssituation der Angehörigen der Armee» interpretiert. Sie begeben sich im Militärdienst in Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht oft unfreiwillig in Situationen, in denen ein erhöhtes Risiko besteht, in Konflikt mit dem Gesetz zu geraten. Zum Beispiel im Umgang mit Waffen und Munition. Die Militärjustiz ist auch eine effiziente und vergleichsweise günstige Justiz.
Was aber hat die Militärjustiz mit den zivilen Fachgerichten zu tun?
Von Kumpel zu Kumpel
Stefan Flachsmann vergleicht die Militärjustiz mit den Handelsgerichten oder den Arbeits- und Mietgerichten. All diese Instanzen haben gemeinsam, dass sie mit Fachrichtern arbeiten, die ihrer Fachkenntnisse wegen auf dem Richterpodest sitzen und nicht unbedingt Juristen sein müssen. Die Militärgerichte funktionieren nach dem gleichen Prinzip. Deren Fachrichterinnen und -richter sollen dank der militärischen Erfahrung die Vorfälle mitbeurteilen können. Die Gerichtspräsidenten und die Gerichtsschreiber sind immer Juristen. Bei den zivilen Fachgerichten ist der Spruchkörper paritätisch zusammengesetzt, er besteht beispielsweise aus Arbeitnehmerinnen und Arbeitgebern, aus Vermieterinnen und Mietern. Beim Militärstrafprozess wiederum wird darauf geachtet, dass sowohl Offiziere als auch Nichtoffiziere auf der Richterbank Platz nehmen, Juristinnen und Nichtjuristen.
Hinter vorgehaltener Hand wird übrigens erzählt, dass die Nichtoffiziere öfter strenger über die Untaten ihrer Kameraden entscheiden als die Offiziere.
Sowohl in der zivilen als auch in der militärischen Sphäre bleibt die Fachgerichtsbarkeit umstritten – im zivilen Bereich betrifft dies vor allem die Handelsgerichte, die es nur in ein paar Kantonen gibt: in Zürich, Bern, St. Gallen und Aargau. Am Handelsgericht urteilen Vertreter aus der Versicherungsbranche als Fachrichter über Streitereien in der Versicherungsbranche, Bankangestellte über Streit in der Bankenwelt, Detailhändler über Detailhändler und so weiter. Und beim Militärgericht entscheiden eben Militärangehörige über ihre Kameraden. «Bei dieser Nähe besteht die Gefahr einer Kameraderie», sagt Jo Lang, der Historiker, Autor und ehemalige Nationalrat der Grünen, einer der bekanntesten Armeegegner der Schweiz. «Ich bin nicht gegen die Militärjustiz, weil ich eine Kuscheljustiz befürworte, im Gegenteil. Ich verlange eine gerechte Justiz und befürchte, dass diese nicht stattfindet; weil die Militärrichter zu viel Verständnis für die Situation ihrer Kameraden haben und weil die Gefahr besteht, dass unrechtmässige Handlungen als Kavaliersdelikt eingestuft werden.»
Befindet sich die Militärjustiz unter Dauerbeschuss?
Zehn Angriffe
Die Fundamentalkritik an der Militärjustiz reisst nicht ab. Bereits 1916 verlangte die Sozialdemokratische Partei der Schweiz deren Abschaffung. Der Souverän lehnte das Begehren am 30. Januar 1921 mit 393’151 zu 198’696 (männlichen) Stimmen ab – trotz des Militäreinsatzes gegen das eigene Volk im November 1918. Der damalige landesweite Generalstreik, in dem unter anderem das Frauenstimmrecht, eine Altersvorsorge, eine Armeereform und die 48-Stunden-Woche gefordert wurden, endete mit einem toten Soldaten (in Zürich) und drei toten Uhrenarbeitern (in Grenchen). Die Militärjustiz leitete danach über 3500 Verfahren ein und sprach knapp 150 Verurteilungen aus. Besonders hart – mit Gefängnisstrafen – wurden die Streikführer angepackt.
Seither wurde immer wieder die totale Abschaffung der Militärjustiz oder zumindest eine Einschränkung ihrer Befugnisse gefordert. Der Zürcher SP-Ständerat, Strafrechtsprofessor, Oberstleutnant und Stabsmitarbeiter im Oberauditorat Daniel Jositsch zählt neun Abschaffungsversuche innert zwanzig Jahren. Und, was bemerkenswert ist: Es handelt sich teilweise um friendly fire. Wir sind bei unserer Recherche auf zehn Angriffe gestossen:
November 1989: SP-Nationalrat Jean Spielmann verlangt die Aufhebung der Militärjustiz in Friedenszeiten.
November 1990: Die Arbeitsgruppe Armeereform unter der Leitung von Ständerat Otto Schoch empfiehlt, die Militärgerichte seien durch zivile kantonale Gerichte zu ersetzen.
März 1995: FDP-Ständerat Otto Schoch verlangt die Aufhebung des Militärstrafgesetzes.
Dezember 1995: SP-Nationalrätin Francine Jeanprêtre verlangt die Abschaffung der Militärjustiz.
Oktober 2004: Jo Lang, Nationalrat der Grünen Fraktion, verlangt die Abschaffung der Militärjustiz.
Mai 2005: Parlamentarische Initiative von Jo Lang zur Abschaffung der Militärjustiz.
Mai 2006: Rudolf Häni verlangt mittels Petition die Abschaffung der Militärjustiz und des scharfen Arrests als Disziplinarstrafe.
März 2007: Jo Lang, Nationalrat der Grünen Fraktion, verlangt, dass die Militärjustiz nicht mehr für Zivilpersonen zuständig ist.
Mai 2008: Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats verlangt vom Bundesrat, es sei zu prüfen, ob sämtliche oder einzelne Aufgaben der Militärjustiz an die zivilen Justizbehörden übertragen werden könnten.
Dezember 2009: SP-Nationalrat Hans Widmer verlangt die Abschaffung der Militärjustiz.
Caroline Engel, Fachanwältin SAV Strafrecht in Bülach: «Ich bin seit vier Jahren auch als Verteidigerin in der Militärjustiz tätig und schätze hier das Unmittelbarkeitsprinzip an den Gerichten: wenn vor Schranken sämtliche Beweise von allen Parteien erhoben werden müssen. Der Militärstrafprozess ist für die Angeklagten vorteilhafter ausgestaltet als der zivile Strafprozess. Und die Unabhängigkeit der Militärjustiz würde ich nie infrage stellen. Sonst könnte man bei den zivilen Prozessen auch jedes Mal den Parteienproporz thematisieren.»
Zeiten der Aufruhr
Unser Verurteilter kann zufrieden sein mit der Militärjustiz. Er wird zwar auch von der zweiten Instanz wegen mehrfacher Militärdienstverweigerung schuldig gesprochen und nicht, wie erhofft, bloss wegen Dienstversäumnissen. Das fünfköpfige Richtergremium sieht jedoch von einer unbedingten Freiheitsstrafe ab und spricht stattdessen eine unbedingte Geldstrafe aus: 60 Tage à 80 Franken; ungefähr so, wie es Verteidiger Markus Steiner mit Verve gefordert hatte.
Gerichtspräsident Oberst Meyer erklärt dem Angeklagten, es liege bei ihm eine Verweigerungsabsicht vor, denn er habe die Erfüllung der Dienstpflicht von seiner beruflichen Situation abhängig gemacht. Das gehe nicht. Immerhin verzichtet der Richter darauf, das Verhalten des Angeklagten als «hochegoistisch» abzukanzeln, wie es Auditor Fachoffizier Florian Weishaupt in seinem Plädoyer noch tat – der vor dem Appellationsgericht auf einer unbedingten Freiheitsstrafe bestanden hatte und damit nicht durchdrang.
Mit zufriedenem Gesicht verlässt der Verurteilte den Saal und das Gebäude, verschwindet im Gewimmel der Basler Altstadt. Kaum jemand hat von seinem Prozess Kenntnis genommen – keine Solidaritätskundgebungen auf der Strasse, keine Transparente, Demonstrationen, Flugblätter oder Buhrufe im Gerichtsgebäude. Wie haben sich die Zeiten geändert.
Bis 1996 genossen Militärstrafprozesse gegen Dienstverweigerer, Dienstversäumer oder andere aufmüpfige Armeeangehörige grösste Aufmerksamkeit. Denn erst ab 1996 gab es hierzulande für jene Dienstpflichtigen, die aus Gewissensgründen nicht ins Militär eintreten oder frühzeitig austreten wollten, einen Zivildienst als Ersatz für die Militärpflicht. Tausende von jungen Männern wanderten hinter Gitter, weil sie zu unbedingten Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Und dies, obwohl bereits 1967 ein Postulat überwiesen wurde, das die Einführung eines Zivildienstes verlangte. Und obwohl die Schweiz wegen der Verurteilungen mehrfach vom Europarat und von Amnesty International gerügt worden war.
Es geht um ein Menschenrecht
Die Genfer Nationalrätin Lisa Mazzone (Grüne) hat das Thema wieder aufs politische Tablett gehoben. Im Herbst letzten Jahres reichte sie eine parlamentarische Initiative ein, sie verlangt darin die Rehabilitierung jener Dienstverweigerer, die zwischen 1968 (hängiges Postulat) und 1996 (Einführung des Zivildienstes) verurteilt wurden. Mazzone geht von über 12’000 jungen Männern aus, allein in diesem Zeitraum. Viele von ihnen seien diskriminiert worden, sagt die Parlamentarierin, hätten Berufsverbote bekommen oder ihre Stellen verloren. «Es geht mir nicht darum, Geld für die damals Verurteilten zu fordern, sondern eine Anerkennung», sagt die Genfer Nationalrätin. «Doch weil derzeit wieder über einen verschärften Zugang zum Zivildienst diskutiert wird, muss an die Vergangenheit erinnert werden – und daran, dass es um ein Menschenrecht geht. Spätestens ab 1967 war dies den Schweizer Behörden klar, dennoch wurden die Verurteilungen fortgesetzt.»
Mazzones Befürchtungen haben sich bewahrheitet. Ende Februar hat der Bundesrat seine Vorschläge zur Revision des Zivildienstgesetzes vorgestellt. Er konstatiert «Handlungsbedarf», weil sich seiner Meinung nach zu viele für den Zivildienst und gegen die Armee entscheiden. Die Zahl der Zivildienstler nimmt kontinuierlich zu und ist nach Ansicht des Bundesrats «zu hoch». Ein Dorn im Auge sind der Landesregierung vor allem jene Anwärter, die eine Rekrutenschule oder sogar eine Offiziersausbildung abgeschlossen haben und sich im Laufe der Zeit für den Zivildienst entscheiden: Es bestehe keine freie Wahl zwischen Militär- und Zivildienst, betont der Bundesrat. Der Zivildienst sei für Leute mit Gewissenskonflikten gedacht.
Um den Zivildienst unattraktiver zu gestalten, schlägt er acht Massnahmen vor. Unter anderem sollen die Auslandeinsätze der «Zivis» künftig gestrichen werden. Die Mindestzahl der zu leistenden Tage im Zivildienst und die Wartefrist zwischen Gesuchseinreichung und Bewilligung werden erhöht. Der Einsatz muss zudem innerhalb einer engeren Frist stattfinden. Gut möglich, dass auch über diese Vorlage das Stimmvolk entscheiden wird – und gut möglich, dass sich Jo Lang in den Abstimmungskampf einmischen wird.
Sein Engagement für die Einführung des Zivildienstes hatte ihn ins Gefängnis gebracht.
Ziviler Ungehorsam
Bei seiner ersten militärgerichtlichen Verurteilung 1975 war Jo Lang noch Rekrut. Ihm wurde vorgeworfen, in einer Kasernenzeitung antimilitärische Inhalte verbreitet beziehungsweise zur Verletzung militärischer Dienstpflichten aufgerufen zu haben. Vergebens berief sich der Rekrut vor Gericht auf seine Meinungsäusserungsfreiheit oder darauf, dass auch im Militärdienst die elementaren demokratischen Rechte gelten wie etwa das Recht, Unterschriften zu sammeln, Veranstaltungen und Diskussionen zu organisieren, Flugblätter oder Zeitungen zu verteilen. Das Militärgericht liess solcherlei Einwände nicht gelten. Jo Lang wurde zu einer bedingten Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt.
Fast zwanzig Jahre später, 1994, stand er erneut vor den Militärrichtern. Dienstverweigerung lautete dieses Mal die Anklage. «Halt, halt», wirft Lang ein, es sei ein Akt des zivilen Ungehorsams gewesen, er habe den Wiederholungskurs einfach so lange verweigern wollen, bis der Zivildienst eingeführt sei: «Wir mussten die Sache beschleunigen und fanden, wir gehen der Legalität einen Schritt voraus. Ich habe dem Kadi geschrieben, dass ich einrücken werde, sobald es einen Zivildienst gibt.» Müssig zu erwähnen, dass die Militärrichter kein Verständnis für die Aktion zeigten. Sie verurteilten Lang zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 45 Tagen.
Und wo steht die Militärjustiz heute?
Das Verteidigungsdepartement brütet
Die düsteren Zeiten der massenhaften Dienstverweigererprozesse mit den unbedingten Freiheitsstrafen sind vorbei. Geblieben ist der Fokus auf die Zivilpersonen, eine komplette Abschaffung der Militärjustiz steht derzeit nicht auf der politischen Agenda.
In Erfüllung des Postulats der Kommission für Rechtsfragen des Ständerats hat der Bundesrat 2011 einen Bericht veröffentlicht, der zur «Übertragung der Aufgaben der Militärjustiz an die zivilen Justizbehörden» Stellung nimmt. Eine Aufhebung der Militärjustiz beantragt der Bundesrat nicht. Als sachgerechte Lösung erscheint ihm jedoch, einzelne Aufgaben den zivilen Gerichten zu übertragen – und zwar in erster Linie, was die Beurteilung von Zivilisten betrifft.
Herr Oberauditor Brigadier Stefan Flachsmann, was halten Sie von der Idee, dass Zivilisten den zivilen Gerichten zu unterstellen seien?
Zur Diskussion steht derzeit eine Ergänzung von Art. 219 Militärstrafgesetz mit einem dritten Absatz: «Ist eine Zivilperson einer strafbaren Handlung nach diesem Gesetz beschuldigt, so kann der Bundesrat deren Beurteilung der zivilen Strafgerichtsbarkeit übertragen, sofern keine sachlichen Gründe für die Zuständigkeit der militärischen Strafgerichtsbarkeit sprechen.» Gegen eine solche Bestimmung sprechen mehrere Gründe. Es besteht die Gefahr, dass politischer oder medialer Druck auf den Bundesrat ausgeübt wird, vor allem bei aufsehenerregenden Verfahren. Und der Verzicht auf die Übertragung des Falls an die zivile Justiz könnte regelmässig als Versuch gewertet werden, es gäbe etwas zu vertuschen. An einer Zuständigkeitsregelung à la carte gibt es auch verfassungsrechtliche Zweifel. Stark bezweifelt werden muss die Praktikabilität. Es käme ausserdem zu Rechtsunsicherheit und zu Verzögerungen.
Das schon reichlich angejahrte Geschäft ist im Verteidigungsdepartement noch immer hängig; oder, wie es Mediensprecher Lorenz Frischknecht ausdrückt, es ist «wieder aufgenommen» worden. Die neue VBS-Chefin, Viola Amherd, werde dem Bundesrat im Laufe des Jahres einen Vorschlag für das weitere Vorgehen unterbreiten, sagt Frischknecht.
Grund zum Jubeln?
Die Jubiläumsfeier
Wohl kaum, zumindest nicht für die Militärjustiz. Diese hat hingegen letzten September unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit ihren 180. Geburtstag gefeiert: an der Universität Zürich, in der Aula, an einem heissen Spätsommertag, mit Kaffee und Gipfeli, einem Stehlunch, einem Apéro am Abend und dazwischen mit vielen, vielen Referaten. Alle sind sie gekommen, um mitzufeiern, fast alle in Uniform, und fast nur Männer. Dekanin Brigitte Tag und Regierungsrat Mario Fehr überbrachten ihre Grussbotschaften, Oberauditor Stefan Flachsmann moderierte den Anlass und überreichte Zürcher Tirggel – und vor allem der Beitrag von Ausbildungsoffizier Major Stefan Maeder dürfte die Festlaune markant gesteigert haben.
Der Luzerner Assistenzprofessor für Strafrecht vergleicht an der Jubiläumsveranstaltung die militärische Prozessordnung mit der zivilen Strafprozessordnung; sozusagen mit der grossen, jüngeren Schwester, die am 1. Januar 2011 in Kraft getreten ist und die bisherigen kantonalen Strafprozessordnungen abgelöst hat.
Maeders Fazit: Punkto Rechtsstaatlichkeit kommt die militärische Prozessordnung deutlich besser weg als die grosse Schwester. Diese pocht in erster Linie auf Effizienz und hat den ordentlichen Strafprozess so ziemlich degradiert. Dafür wurden die Staatsanwaltschaften mit einer Machtfülle ausgestattet, wie sie die militärische Ordnung nicht kennt. Beispiele gefällig?
Das abgekürzte Verfahren. Das sind Deals hinter verschlossener Tür, bei denen sich die Staatsanwälte mit den Beschuldigten auf ein Urteil einigen. Das Gericht darf nur noch darüber befinden, ob die Voraussetzungen für den Deal erfüllt sind und der Beschuldigte auch wirklich geständig ist. Solche Prozesse dauern nicht selten ein paar Minuten lang.
Weitreichende Kompetenzen im Strafbefehlsverfahren. Über 90 Prozent der Straffälle werden per Strafbefehl erledigt. Das heisst, der Ankläger mutiert auch noch zum Richter, denn ein rechtskräftiger Strafbefehl hat Urteilscharakter. Oft kommt es zu keinen Einvernahmen der Beschuldigten, es wird allein aufgrund der Polizeiakten entschieden. Die Staatsanwälte können bis zu einem halben Jahr Freiheitsstrafe verhängen. Das Pendant im Militärstrafprozess heisst Strafmandat, doch der Angeklagte wird immer einvernommen, und der Auditor darf nur Urteile bis höchstens 30 Tage Freiheitsstrafe aussprechen.
Kein Vieraugenprinzip in der Untersuchung. Im zivilen Strafverfahren ist die Staatsanwältin Untersuchungsrichterin und Anklägerin in Personalunion; und eben, stellt sie einen Strafbefehl aus, der rechtskräftig wird, stülpt sie sich noch den Richterhut über. Im Militärstrafprozess untersucht der Untersuchungsrichter und überreicht anschliessend das Dossier der Auditorin, die den Fall einstellt oder vor Schranken vertritt oder ein Strafmandat ausstellt.
Übrigens gibt es im Militärstrafprozess auch keine Einzelrichterkompetenz. Kommt ein Fall vor Gericht, so wird er stets von fünf Richterinnen und Richtern entschieden.
Stefan Maeder konstatiert: «Das Strafrecht ist das schärfste Schwert des Staates.» Es sollte nicht in erster Linie effizient, sondern mit Vorsicht, Bedarf und Würde eingesetzt werden.
Und: Die Fundamentalkritik an der Militärjustiz könne wohl mit vielem begründet werden. Aber bestimmt nicht mit der Ausgestaltung ihrer Prozessordnung.
Wegtreten!