Verwahren oder nicht verwahren?
Erneut wehrt sich ein vorbestrafter Pädokrimineller vor Gericht gegen die Verwahrung. Der ältere Schweizer beteuert, sich an allfällige Auflagen zu halten. Und künftig die Hände von minderjährigen Burschen zu lassen.
Von Brigitte Hürlimann, 30.01.2019
Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 28. Januar 2019, 8.15 Uhr
Fall-Nr.: DA180041
Thema: Antrag auf Aufhebung der stationären Massnahme, Antrag auf Verwahrung, Anordnung von Sicherheitshaft
Vor ziemlich genau einem Jahr hat die Republik erstmals über diesen Herrn berichtet. Damals, im Februar 2018, kämpfte der heute 58-jährige Schweizer vor dem Obergericht des Kantons Zürich gegen die Verlängerung der stationären Massnahme, auch die «kleine Verwahrung» genannt: weil sie in einem geschlossenen Setting stattfindet und stets von neuem angeordnet werden kann. Der Mann unterlag mit seinem Begehren, blieb im Gefängnis, und auch das von ihm angerufene Bundesgericht stützte seine Auffassung nicht.
Der Schweizer beschäftigt die Strafjustiz seit den späten 1980er-Jahren. Er ist dreimal wegen pädokrimineller Handlungen mit Buben im Schutzalter verurteilt worden. Zwei Deliktsserien gibt der Mann vorbehaltlos zu, er hat die Strafen verbüsst und sich den angeordneten Therapien – zumindest teilweise – unterzogen. Ausgerechnet den jüngsten Vorfall aber, der zur letzten Verurteilung führte, anerkennt er nicht, und dies schon seit zehn Jahren. Dabei handelt es sich um einen deutlich harmloseren Vorwurf, verglichen mit den früheren Deliktsserien. Bei diesem dritten Vorfall soll der Schweizer einen 15-jährigen Burschen im Rahmen eines «Spiels» vorübergehend gefesselt, über den Kleidern berührt und dessen Geschlechtsteil kurz massiert haben. «Das stimmt nicht, das hat so nicht stattgefunden», beteuert der 58-Jährige am Montag erneut vor dem Bezirksgericht Zürich.
Bisher hat ihm keine Gerichtsinstanz geglaubt. Und eben für diesen letzten, bestrittenen Vorfall wurde er 2011 vom Obergericht zu drei Jahren Freiheitsstrafe und der «kleinen Verwahrung» verurteilt. Das Bezirksgericht hatte sich noch mit einer ambulanten Therapie begnügt, das wurde von der Berufungsinstanz jedoch korrigiert und vom Bundesgericht so bestätigt. 2017 verlangte die Staatsanwaltschaft und das Zürcher Amt für Justizvollzug schliesslich die Umwandlung der «kleinen Verwahrung» in die ordentliche Verwahrung. Das Vorhaben scheiterte, doch sämtliche Instanzen schützten die Auffassung, der Mann müsse in der «kleinen Verwahrung» bleiben und solle sich gefälligst therapieren lassen. In einem psychiatrischen Gutachten von 2016 ist die Rede von einer Persönlichkeitsstörung, einer homosexuellen Pädophilie und einer sexuell sadistischen Neigung.
Und nun probieren es die Staatsanwaltschaft und das Amt für Justizvollzug also nochmals mit der Verwahrung. Sie stellen zum zweiten Mal den gleichen Antrag, aus den gleichen Gründen. Die stationäre Massnahme sei gescheitert und müsse aufgehoben werden, der Verurteilte verweigere sich einer Therapie und zeige sich uneinsichtig. Eine bedingte Entlassung komme wegen der Rückfallgefahr nicht infrage. Das ist das Thema der jüngsten Prozessrunde, und wie bereits vor zwei Jahren kämpft der Schweizer erneut um die Entlassung aus dem Gefängnis. Er gibt unumwunden zu, dass er sich hinter Gittern nicht therapieren lasse, und zwar aus verschiedenen Gründen.
Er misstraut den Mitarbeitern des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes, und er sagt, er könne doch nicht über ein Delikt reden, das er gar nicht begangen habe. Eine Zwangstherapierung unter diesen Umständen komme nicht infrage. Er habe die Lehren aus der Vergangenheit gezogen und habe seine Gefühle unter Kontrolle, werde sich bestimmt nicht mehr mit minderjährigen Sexualpartnern einlassen. Das sei auch viel zu gefährlich, so der Mann weiter, er müsse stets mit falschen Anschuldigungen rechnen. Und wer glaubt schon einem mehrfach vorbestraften Pädokriminellen?
Seine konsequente Haltung – für die Staatsanwaltschaft und die Vollzugsbehörden eine Verweigerungstaktik, die nicht mit einer Entlassung belohnt werden dürfe – führt dazu, dass er seit fast zehn Jahren im Gefängnis sitzt. Die dreijährige Freiheitsstrafe hat er längst verbüsst, um ein Mehrfaches. Und die lange Haft hat bei ihm Spuren hinterlassen.
Der 58-Jährige ist seit dem letzten Gerichtstermin sichtlich gealtert; mühelos würde man ihm zehn Jahre mehr geben. Die viel zu grossen Kleider schlottern um seinen eingefallenen Körper, die Haare sind weiss und schütter, und er spricht mit leiser, aber bestimmter Stimme – wenn er denn spricht. Auf die Fragen des Gerichtsgremiums unter dem Vorsitz von Thomas Kläusli reagiert er meist mit dem Hinweis auf einen 48-seitigen Essay, den er im Internet publiziert und im Dezember dem Gericht zugestellt habe. «Seien Sie mir nicht böse, aber ich möchte jetzt nichts mehr dazu sagen», lässt er verlauten, beruft sich auf sein Aussageverweigerungsrecht, um dann doch ab und zu eine Antwort zu geben. Er weiss, was für ihn auf dem Spiel steht, und er kann das Dilemma des Bezirksgerichts nachvollziehen.
Verteidiger Stephan Bernard fasst das Dilemma in Worte. Es geht um ein Strafrecht, das seit einigen Jahren immer mehr dem Präventionsgedanken dienen soll, anstatt vergangenes Unrecht zu bestrafen. Eine solche Neuausrichtung steht im Widerspruch zu den liberalen strafrechtlichen Grundsätzen, die immer noch darauf basieren, Täterinnen und Täter nach der Verbüssung ihrer Strafe wieder in die Gesellschaft einzugliedern.
Und abgesehen davon, sagt Bernard, könne eine Verwahrung im konkreten Fall nicht angeordnet werden, weil die Voraussetzungen dafür schlicht nicht vorlägen.
Artikel 64 des Strafgesetzbuches nennt eine Reihe von Delikten, die Anlass für eine Verwahrung geben können. Die jüngste Tat des Pädokriminellen fällt nicht darunter. Doch neben dem explizit aufgeführten Deliktskatalog sieht das Gesetz noch eine Generalklausel vor: Eine Verwahrung kann auch dann ausgesprochen werden, wenn es sich um ein erhebliches Delikt handelt und das Opfer von der Tat schwer beeinträchtigt wurde. Beides wird vom Verteidiger entschieden verneint – nicht zuletzt mit Hinweis auf einen jüngeren Bundesgerichtsentscheid (6B_746/2016). Das zitierte höchstgerichtliche Urteil konkretisiert die sogenannte Erheblichkeitsschwelle. Bernard sagt: Die seinem Mandanten vorgeworfenen Handlungen seien eher als gering einzustufen («ohne sie bagatellisieren zu wollen»), und es sei nicht ersichtlich, dass das 15-jährige Opfer schwer beeinträchtigt worden sei: «Ich habe keinen Hinweis darauf in den Akten gefunden.»
Der Verteidiger nennt noch einen dritten Grund, weshalb die Verwahrung nicht infrage komme: Sie sei unverhältnismässig, habe sein Mandant die dreijährige Freiheitsstrafe doch längst verbüsst. Mit der Verwahrung, die als Ultima Ratio vorgesehen sei, drohe ein weiterer, womöglich jahrzehntelanger Freiheitsentzug.
Der Verteidiger plädiert mit Verve, der Täter sitzt zusammengesunken auf seinem Stuhl und hört reglos zu, mag am Ende der Verhandlung kein Schlusswort halten. Seiner «Verweigerungshaltung» zum Trotz versucht er immerhin, einen gewissen Kompromiss- und Kooperationswillen zu zeigen. Er macht dem Gericht Vorschläge, wie man künftig mit ihm umgehen könnte – ausserhalb der Gefängnismauern. Er wehre sich nicht gegen elektronische Fussfesseln, meint er, und er würde sich auch an ein Tätigkeitsverbot halten oder an die Auflage, sich nicht mehr allein mit Kindern und Jugendlichen in einem Raum aufzuhalten. «Wenn Sie es wichtig finden», sagt er dem dreiköpfigen Gerichtsgremium, «lasse ich mich wieder therapieren, aber nur in Freiheit und nicht mit Leuten des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes.»
Der 58-Jährige verlässt das Bezirksgericht Zürich in Handschellen und wird von der Polizei zurück ins Gefängnis geführt: in die Sicherheitshaft. Die Richterin und die beiden Richter haben am Montag noch nicht entschieden, wie es mit ihm weitergehen soll. Doch der Mann ist das Warten gewohnt, seit Jahren. Das Warten und die Ungewissheit über den Richterspruch bedeuten für ihn immerhin ein klein bisschen Hoffnung.
Illustration: Friederike Hantel