All diese Vorgeschichten
Ein einschlägig vorbestrafter Pädokrimineller kämpft um seine Freiheit. Er will aus der «kleinen Verwahrung» entlassen werden, hat er seine Strafe doch längst verbüsst – für eine Tat übrigens, die er bestreitet. Die Richter reagieren skeptisch. Zu Recht?
Von Brigitte Hürlimann, 07.03.2018
Ort: Obergericht des Kantons Zürich
Zeit: 19. Februar 2018, 13.30 Uhr
Fall-Nr.: UH170427
Thema: Aufhebung oder Verlängerung der stationären Massnahme.
Es ist ein unauffälliger, durchaus nicht unsympathisch wirkender älterer Herr, der in Begleitung von zwei Polizisten direkt aus dem Gefängnis in den Gerichtssaal geführt wird. Ein weissgrauer, schütterer Haarkranz, ein weisses Bärtchen, Pullover mit kariertem Hemd darunter – würde man dem 57-jährigen Schweizer irgendwo auf der Strasse oder in einer Beiz begegnen, es wäre gut vorstellbar, sich mit ihm auf einen kleinen spontanen Alltagsschwatz einzulassen.
Der Herr spricht mit leiser, aber bestimmter Stimme, er wählt seine Worte mit Bedacht, doch er stösst mit seinen Ausführungen auf wenig Verständnis bei den drei Zürcher Oberrichtern, denen er Rede und Antwort steht; stehen darf, müsste man sagen. Er hat das Recht auf eine mündliche, öffentliche Verhandlung bis vor Bundesgericht erkämpft, das Gericht hätte lieber auf die Begegnung verzichtet und allein aufgrund der Akten entschieden.
Schon seit gut acht Jahren spaziert der Schweizer nicht mehr durch die Strassen, überhaupt hat er viel Zeit in Gefängnissen und Anstalten verbracht. Mit der Justiz kommt er ins Gehege, seit er ein junger Mann ist; ein sozial isolierter, damals stark übergewichtiger Mittzwanziger, der sich von Burschen unterhalb des Schutzalters angezogen fühlt. In den psychiatrischen Gutachten ist von einer Persönlichkeitsstörung von erheblicher Schwere und einer pädophil-homosexuellen Orientierung die Rede.
Auf solche Diagnosen angesprochen, sagt der ältere Herr im Februar vor Obergericht: Eine gewisse Neigung sei zwar noch geblieben, er lasse sich aber nicht mehr mit Burschen unter dem Schutzalter ein, das habe er nun gelernt, das sei auch zu gefährlich, was falsche Anschuldigungen betreffe. Den Stempel, den er trage, werde er ein Leben lang nicht mehr los, ihm glaube ja niemand mehr, mit diesen Vorgeschichten. Er lasse sich nur noch mit Sexualpartnern ein, die mindestens achtzehn Jahre alt seien, auch von Nachhilfeunterricht werde er die Finger lassen. Er habe seine Gefühle unter Kontrolle. Die drei Oberrichter blicken skeptisch vom Podest herunter.
Die Skepsis hat einen Grund, denn was sich der weisshaarige, unauffällige Schweizer zuschulden kommen lassen hat, ist inakzeptabel, verachtenswert und unzweifelhaft strafbar. Das weiss er, und das gibt er auch zu. Er hat das Vertrauen von zehn- bis fünfzehnjährigen Buben ausgenützt, die zu ihm in die Wohnung kamen, für Nachhilfeunterricht oder um kleine Hilfsarbeiten für ihn zu erledigen. Er zeigte ihnen Pornofilme und verleitete sie zu sexuellen Handlungen.
Allerdings wandte er nie Gewalt an, übte keinen Druck aus, es kam auch nie zu Penetrationen und nur in Einzelfällen zu Oralverkehr. Aber: Der deutlich ältere Mann delinquierte während einer langen Zeit und missbrauchte rund zwanzig Buben. Eine erste Verurteilung in den späten 1980er Jahren und eine darauffolgende jahrelange ambulante Therapie hielt ihn zwölf Jahre später nicht davon ab, wieder einschlägig straffällig zu werden. Der Rückfall ist umso unbegreiflicher, als es dem Schweizer nach der ersten Deliktserie gelungen war, die Matura nachzuholen und sich an der Universität für ein geisteswissenschaftliches Studium einzuschreiben. Damit hat er sich einen Lebenstraum erfüllt, nach einer schwierigen, unglücklichen Kindheit und Jugend.
Ein dritter Vorfall führt ihn 2011 in die «kleine Verwahrung», vom Obergericht angeordnet; die erste Instanz, das Bezirksgericht Zürich, hatte noch auf eine ambulante vollzugsbegleitende Massnahme gesetzt. Und ausgerechnet dieser dritte Vorfall wird vom Schweizer hartnäckig bestritten, obwohl es um den bisher harmlosesten Vorwurf geht. Beim jüngsten Fall soll der Pädophile in seiner Wohnung einen Fünfzehnjährigen unzüchtig berührt haben; eine Handlung, die sogar vom Obergericht als nicht allzu schwerwiegend beurteilt wird. Aber eben: All diese Vorgeschichten!
So hält schon das damalige Richtergremium im Urteil von 2011 fest, die einschlägigen Vorstrafen und die zweimalige Androhung einer Verwahrung hätten den Mann nicht daran gehindert, ein drittes Mal zu delinquieren, was er, wie gesagt, bestreitet. Die Verurteilung ist dennoch rechtskräftig geworden, die dreijährige Freiheitsstrafe längst abgesessen und der Verurteilte immer noch hinter Gittern. Im Januar 2017 lehnt das Bezirksgericht den Antrag der Staatsanwaltschaft und des Amts für Justizvollzug ab, der Mann sei zu verwahren, weil er die Therapie verweigere. Es entscheidet sich hingegen für eine Verlängerung der stationären Massnahme, also der «kleinen Verwahrung». Rechtsanwalt Stephan Bernard erhebt gegen diesen Beschluss im Namen seines Mandanten Beschwerde vor Obergericht und unterliegt im Februar – nach einer nur widerwillig gewährten öffentlichen Verhandlung mit entsprechend kurzer Befragung und kurzer Beratung.
Nun wird der Anwalt den Fall vor Bundesgericht ziehen. Und erneut betonen, die stationäre Massnahme dürfe nicht zweckentfremdet werden, mit dem einzigen Ziel, den Schweizer aus Sicherheitsgründen nicht in die Freiheit entlassen zu müssen. «Eine Verwahrung kommt aus verschiedenen Gründen nicht infrage», so Bernard, «das hat bereits das Bezirksgericht anerkannt.» Sowohl der Gerichtspsychiater als auch das Amt für Justizvollzug hielten eine Therapie für aussichtslos, wenn sich der Klient konsequent verweigere. Also gebe es nur noch einen Weg: den Mann freizulassen. Dieser befindet sich seit eineinhalb Jahren in einer vollzugsrechtlichen Sicherheitshaft, was der Anwalt als problematisch bezeichnet: Das sei gesetzlich gar nicht vorgesehen.
Die Strafgerichte tun sich schwer mit dem älteren Herrn. Er ist ein vorbestrafter Pädokrimineller und damit weiss Gott kein Sympathieträger; er kann in der Gesellschaft auf wenig Rückhalt und Entgegenkommen zählen, auch nach der anstandslosen Verbüssung seiner Strafen. Zudem will er die jüngste Tat nicht begangen haben und verweigert deshalb hartnäckig die gerichtlich angeordnete Therapie. Damit begibt sich der Verurteilte in ein gefährliches Fahrwasser, und das ist ihm bewusst. Das System mit den Massnahmen und den deliktorientierten Therapien, der Fokus auf die Rückfallgefahr, auf das vermutete, künftige Verhalten eines Verurteilten, funktioniert nicht, wenn der Betroffene sagt: Ich war es nicht, ich habe es nicht getan, ich kann in einer Therapie nicht über ein Delikt reden, das ich nicht begangen habe.
Der Zwang zu einem Geständnis und der Zwang, sich einer Therapie unterziehen zu müssen, sind im Übrigen menschenrechtswidrig.
Es wird am Bundesgericht liegen, über das weitere Schicksal des 57-Jährigen zu entscheiden. «Sie haben ein Problem», hat ihm im Februar der Präsident der III. Strafkammer des Obergerichts, Thomas Meyer, mit auf den Weg gegeben, als er die Verlängerung der stationären Massnahme kurz mündlich begründete: «Wir müssen den Schutz der Jugendlichen berücksichtigen, es besteht eine hohe Rückfallgefahr, Ihre psychische Störung ist kausal für die Taten, und Sie werden noch langfristig eine Begleitung brauchen.»
Ein Problem haben aber auch die Strafgerichte – seit sie in erster Linie als Präventionszentrale funktionieren und über Zukunftsszenarien orakeln müssen, mit Bevölkerungsgruppen und Politikern im Nacken, die nichts anderes als Nullrisiko im Sinn haben.
Illustration Friederike Hantel