Zersiedeltes Land, zerfahrene Initiative
Lange verbaute die Schweiz ihren Boden, als hätte sie noch eine zweite Schweiz in der Hinterhand. Das ändert sich gerade. Doch die Zersiedelungsinitiative unterstützt diesen Fortschritt nicht. Im Gegenteil.
Von Dennis Bühler, 29.01.2019
Nur dreissig Jahre brauchte die Schweiz, um eine Fläche von der Grösse des Genfersees zu überbauen. Jeden Tag verschwinden acht Fussballfelder unter Asphalt und Beton, jede Sekunde ein Quadratmeter.
Den ungezügelten Verbrauch von Boden zügeln: Mit ihrer Zersiedelungsinitiative nehmen die Jungen Grünen ein grosses Problem ins Visier. Und präsentieren eine einfache Lösung: die Gesamtfläche der Bauzonen einfrieren. Neue Bauzonen sollen nur noch geschaffen werden dürfen, wenn andernorts eine mindestens gleich grosse Fläche wieder aus der Bauzone ausgeschieden wird.
Doch so einfach und plausibel das auch klingt: Die Geschichte der Zersiedelungsinitiative ist auch eine Erzählung von schlechtem Timing und dem Versuch, sich in einem Wahljahr zu profilieren.
Zahnloses Gesetz revidiert
Hellgrünes Hemd, olivgrünes Jackett, kurzgeschorenes weisses Haar: Lukas Bühlmann lässt auch optisch keinen Zweifel daran, wie wichtig ihm die Natur und die Umwelt sind. Der studierte Jurist ist seit 2003 Direktor von Espace Suisse, dem Schweizer Verband für Raumplanung. «Die Schweiz hat die Raumplanung jahrzehntelang vernachlässigt und noch immer nicht wirklich im Griff», sagt der 62-Jährige. «Doch die Zersiedelungsinitiative kommt zum falschen Zeitpunkt und ist nicht durchdacht. Sie könnte sich gar als kontraproduktiv erweisen.»
Um zu verstehen, was der Doyen der Schweizer Raumplanung damit meint, müssen wir einige Jahre zurückblicken. Schon 2008 wollten links-grüne Kräfte die Schweiz mit einer Volksinitiative zu einem haushälterischen Umgang mit dem Boden bewegen. Als Reaktion darauf formulierte der Bundesrat einen indirekten Gegenvorschlag, der 2013 gegen den Widerstand von Wirtschaft und Gewerbe von 63 Prozent der Stimmbürgerinnen angenommen wurde.
Dieser Gegenvorschlag bestand in einer Revision des bis dahin zahnlosen Raumplanungsgesetzes (RPG). Dieses zwingt Kantone und Gemeinden nun, zu grosse Bauzonen zu verkleinern – ihre Reserven dürfen höchstens noch den voraussichtlichen Bedarf der nächsten fünfzehn Jahre decken. Zudem müssen Kantone und Gemeinden die bestehenden Bauzonen besser ausnutzen. Verdichten heisst das im Jargon.
Ein Trend kehrt sich um
Das revidierte RPG wirkt: Seit 2012 wachsen die Bauzonen in der Schweiz nicht mehr. Und das, obwohl die Bevölkerungszahl seither von 7,4 auf gut 8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner anstieg.
Bis Ende April des laufenden Jahres müssen die Kantone ihre raumplanerischen Konzepte vorlegen. Sie werden gemäss einer Umfrage der SRF-«Rundschau» in den nächsten Monaten mindestens 2000 Hektar Bauland zurückzonen – immerhin ein halber Zugersee.
Kurzum: Der Kurs stimmt. Und genau darauf gründet die Skepsis von Raumplaner Bühlmann gegenüber der Zersiedelungsinitiative. «Wird sie angenommen, bremst sie den neuen Elan der Kantone und Gemeinden, ihre auf Vorrat angelegten Bauzonen zurückzuzonen», warnt er. «Lassen wir sie nun erst mal das RPG umsetzen!»
«Die Lücke schliessen»
Einer von jenen, die sich die Zersiedelungsinitiative vor rund sechs Jahren ausgedacht haben, widerspricht. «Kantone, die mehr Land zu Bauzonen erklärt haben, als sie in den nächsten fünfzehn Jahren benötigen, müssen selbstverständlich auch dann weiterhin Rückzonungen vornehmen, wenn unsere Initiative angenommen wird», sagt der grüne St. Galler Kantonsrat Basil Oberholzer. «Das Raumplanungsgesetz bleibt gültig. Alles andere wäre eine Missachtung des Volkswillens von 2013.»
Doch die Reduktion der Bauzonen sei ein einmaliger Vorgang, der Ende April abgeschlossen sein werde. «Das ist dann die Menge an Bauland, die mit unserer Initiative plafoniert wird.»
Rasend schnell spricht der 28-Jährige am Telefon. Das Argumentarium des Initiativkomitees kennt er in- und auswendig. Seine eigenen Gründe für ein Ja sind eher technisch als idealistisch – rasch erkennt man in ihm den Ökonomen, der für seine Doktorarbeit kürzlich mit dem Umweltforschungspreis der Universität Freiburg ausgezeichnet wurde.
In Oberholzers Augen dient das Raumplanungsgesetz primär dazu, die Exzesse der Berggebiete in den Griff zu bekommen, die einen immensen Vorrat an Bauzonen angehäuft hätten. «Doch das hilft wenig, bleibt das RPG doch sein wichtigstes Versprechen schuldig: Es stoppt die Zersiedelung nicht, sondern sieht diese im Gegenteil explizit vor.» Denn das Gesetz verbietet nur, dass zu viele Baureserven auf Vorrat angelegt werden. Geht der Vorrat aus, dürfen die Kantone und Gemeinden jedoch neues Bauland einzonen. «Und das werden sie tun», sagt Oberholzer. Finanzielle Interessen bestimmten diese Agenda. «Unsere Initiative schliesst diese Lücke.»
Keine idealistischen Debatten
Für Idealismus ist im Lager der Befürworter ein anderer zuständig: Martin Neukom, der ehemalige Präsident der Jungen Grünen Schweiz, der seit 2014 im Zürcher Kantonsparlament politisiert. In stundenlangen Diskussionen mit Oberholzer hat er die Idee zur Zersiedelungsinitiative einst konzipiert, nun sagt er etwas wehmütig: «Wir wollten ein Tabu brechen, wollten Alternativen aufzeigen zu dem von so vielen gehegten Traum vom Einfamilienhaus in einer anonymen Agglomerationssiedlung, wo sich jeder von seinen Nachbarn abgrenzt.»
Die in den letzten Wochen im Abstimmungskampf geführten Debatten seien ihm viel zu technisch, viel zu wenig idealistisch, sagt der 32-Jährige, der am 24. März für die Grünen in den Zürcher Regierungsrat einziehen möchte. «Kein Mensch spricht von den Wohnformen der Zukunft.» Dabei wolle die Initiative nicht nur die Zersiedelung stoppen, sondern auch alternative Wohnformen propagieren, wie sie etwa in der Winterthurer Giesserei oder in der Zürcher Kalkbreite erfolgreich vorgelebt würden.
Doch die Initiative bleibt da vage: Bund, Kantone und Gemeinden sollen «im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für günstige Rahmenbedingungen» sorgen.
Keine überzeugenden Antworten
Und was nützen solche Träume, wenn es in den technischen Details harzt? Etwa beim Abtausch von Bauzonen: Gemeinden mit zu viel Bauland sollen rückzonen, damit die mit zu wenig neu einzonen dürfen. Wie dieser Abtausch organisiert werden soll, sagt die Initiative nicht. «Wir haben im Initiativtext bewusst nicht festgelegt, wie dies vonstattengehen soll», sagt Oberholzer. «Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Parlament soll bei der Umsetzung darüber entscheiden.»
Ein weiteres Detail: Die Initiative bestraft jene Kantone und Gemeinden, die sich in der Vergangenheit raumplanerisch vorbildlich verhielten und nicht auf Vorrat viel zu viele Bauzonen errichteten. Und sie belohnt die anderen. Das ist ungerecht. Neukom sagt: «Wenn wir der Zersiedelung Herr werden und einen raumplanerischen Paradigmenwechsel herbeiführen wollen, müssen wir diesen Kollateralschaden in Kauf nehmen.»
Eines geben die Initianten zu: Ihr Timing ist unglücklich. «Die Gegner der Initiative können sich auf den Standpunkt stellen, die Revision des RPG werde sich demnächst positiv auswirken», sagt Neukom. «Und wir können das nicht widerlegen, weil man das momentan schlicht nicht weiss.»
Skepsis im eigenen Lager
Was sie nicht sagen: Die Jungen Grünen wurden frühzeitig gewarnt. So versagte ihnen etwa die im Vorfeld der Unterschriftensammlung um Hilfe angefragte Pro Natura die Unterstützung. Bei der Naturschutzorganisation hielt man die Initiative schon damals für taktisch wenig clever – man fürchtete sich davor, den beim RPG an der Urne erzielten Erfolg mit einer späteren Niederlage bei der Abstimmung über die Zersiedelungsinitiative zu neutralisieren. Inzwischen unterstützt Pro Natura die Initiative, allerdings ohne Enthusiasmus an den Tag zu legen.
Ähnlich ist die Gemütslage in der SP, bei Landschaftsschutz- und Umweltanliegen für gewöhnlich ein verlässlicher Partner der Grünen. Zwar haben ihre Delegierten die Ja-Parole gefasst, doch halten die Raumplanungsexperten der Partei mit ihrer Skepsis nicht zurück. «Die Zersiedelungsinitiative steht quer in der Landschaft und ist zu wenig abgestützt», sagte die Bündner Nationalrätin Silva Semadeni kürzlich dem «St. Galler Tagblatt». Und ihr Basler Ratskollege Beat Jans kritisierte, Zeitpunkt und Instrumente der Initiative seien «nicht gut».
Abseits steht mit der Stiftung Landschaftsschutz auch die schweizweit wichtigste Instanz in solchen Fragen. «Bei einem Ja wird es grosse Anstrengungen brauchen, damit die Errungenschaften der heutigen Raumplanung nicht über den Haufen geworfen werden», sagte ihr Geschäftsführer Raimund Rodewald der WOZ. Zur Nein-Parole durchringen vermochte sich die Stiftung Landschaftsschutz nicht: Sie hat Stimmfreigabe beschlossen.
«Die Jungen Grünen waren übermütig»
Hinter vorgehaltener Hand mokieren sich viele Umweltschützer über die Jungen Grünen, die sich im Vorfeld der Lancierung der Zersiedelungsinitiative beratungsresistent gezeigt hätten. Zitieren lassen allerdings will sich kaum einer, da im Hinblick auf weitere Abstimmungen niemand die gut eingespielte Umweltallianz gefährden mag.
Nur Raumplaner Bühlmann wählt deutliche Worte: «Die Jungen Grünen vernachlässigten die konzeptuelle, inhaltliche Arbeit. So berechtigt ihr Anliegen ist, die Zersiedelung einzudämmen: Sie waren übermütig. Ihre Initiative ist schlecht formuliert.»
Ähnlich kritisch äussert sich auch Martin Bäumle, Zürcher Nationalrat und ehemaliger Präsident der GLP, die die Zersiedelungsinitiative zur Ablehnung empfiehlt. Die Jungen Grünen hätten die Initiative Ende 2014 lanciert, um sich im Wahljahr 2015 mit einer schweizweiten Unterschriftensammlung ins Gespräch zu bringen, sagt er. Nun, pünktlich zum nächsten Wahljahr, komme sie zur Abstimmung, wovon sich die Jungpartei eine erneute Profilierung erhoffe. «In eigener Sache überzeugt ihr Timing», bilanziert Bäumle. «Inhaltlich aber kommt die Initiative zur Unzeit. Die neuen Bestimmungen des Raumplanungsgesetzes beginnen sich gerade erst positiv auszuwirken.»
Fragwürdige Ausnahmeklausel
Die Zersiedelungsinitiative stört also einen guten laufenden Prozess: den Abbau der zu grossen Baulandreserven. Und sie ist auch da umstritten, wo die schweizerische Raumplanung dringenden Korrekturbedarf aufweist: beim Bauen ausserhalb der Bauzonen.
Etwa ein Viertel aller Bauten steht dort: Ställe, Maiensässe, Skilifte oder Ferienhäuser beispielsweise. Rund 590’000 sind es insgesamt. Bis 1972 herrschte regelrechter Wildwuchs – jeder baute, was und wo er wollte. Heute dürfen ausserhalb der Bauzonen nur noch die nötigsten, an den Standort gebundenen Bauten und Anlagen erstellt werden. Die Zersiedelungsinitiative will da einerseits noch strikter sein. Andererseits steht im Initiativtext: «Das Gesetz kann Ausnahmen vorsehen.»
Lukas Bühlmann vom Raumplanungsverband Espace Suisse kritisiert: «Das Bauen ausserhalb der Bauzonen ist unser grösstes raumplanerisches Problem – und dazu liefert die Initiative keine brauchbare Lösung. Ausgerechnet hier führt sie eine Ausnahmeklausel ein, wodurch das Parlament etliche Sonderregeln ins Gesetz schreiben könnte.»
Nächste Initiative in den Startlöchern
Bühlmanns Sorge ist berechtigt. Das zeigen die Bemühungen des Bundesrats, das Bauen ausserhalb der Bauzonen einzudämmen (in der sogenannten zweiten Etappe der Revision des Raumplanungsgesetzes). Die Kantone wehren sich gegen jeden Versuch, ihren Spielraum einzuengen. Mit so viel Erfolg, dass es in Zukunft sogar leichter werden könnte, in Felder, Wälder und Wiesen zu bauen.
Die Umweltverbände haben darum schon die nächste Volksinitiative angekündigt. Sie soll die Trennung von Baugebiet und Nichtbaugebiet sicherstellen. Die Unterschriftensammlung beginnt im März.
Bei dieser Initiative werden wieder alle an Bord sein, werden sich die Reihen schliessen. Raumplaner Bühlmann unterstützt sie genauso wie die GLP von Martin Bäumle. Und auch die Jungen Grünen werden sich an der Unterschriftensammlung beteiligen. Ganz egal, ob ihre eigene Initiative am übernächsten Sonntag angenommen oder abgelehnt wird.
Drei Lesetipps zur Vertiefung
«Wie die Schweiz zubetoniert wird – und was dagegen hilft»: Der «Beobachter» reiste nach Schlieren, Nyon und Köniz. Und schrieb auf, was die drei Städte besser machen als andere.
«Die Einzonung von zu viel Bauland war skandalös»: Im Interview mit der NZZ erklärt Joris Van Wezemael, bis vergangenen Samstag Geschäftsführer des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins, warum er die Zersiedelungsinitiative trotz Vollzugskrise in der Raumplanung ablehnt.
«Wo der Raum eng wird»: In der Rubrik «Auf lange Sicht» zeigen wir, in welchen Gemeinden es bei einer Annahme der Zersiedelungsinitiative bald kein freies Bauland mehr geben könnte.