Der blockierte Riese
Wie sich die Migros heute selbst im Wege steht und warum ihr Coop davonzieht: eine Strukturanalyse der orangen Genossenschaft. Letzter Teil der Trilogie.
Von Simon Schmid, Michael Soukup (Text) und Yves Bachmann (Bilder), 23.01.2019
Neujahr 2018. Ein frischer Wind weht im «Kreml», der Konzernzentrale der Migros. Ein neuer Chef hat soeben seinen Posten angetreten: Fabrice Zumbrunnen, 48 Jahre alt, ein eloquenter Manager, ein Eigengewächs aus Neuenburg.
Doch die Aufbruchstimmung ist schon nach wenigen Tagen dahin. Der Grund: Coop. Wie bereits im Vorjahr weist die Rivalin aus Basel erneut die besseren Umsatzzahlen aus. Sehr zum Missfallen der Migros-Führungsspitze, die obendrein konstatieren muss: Bei den Supermärkten, dem Kerngeschäft der Migros-Gruppe, ist der Umsatz sogar geschrumpft. Ein Alarmzeichen im Hochhaus am Zürcher Limmatplatz.
Der Tiefschlag folgt dann im März, anlässlich der Publikation der Gewinnzahlen. Es zeigt sich: Bei Coop ist auch der Profit erneut gewachsen. Und jener der Migros, wie schon ein Jahr zuvor, geschrumpft. Und zwar deutlich, um fast einen Viertel. Nicht nur im «Kreml», sondern auch für aussenstehende Beobachter wird nun klar: Etwas läuft schief bei der Migros.
Die grosse Frage lautet: Was?
Wer sich auf die Suche nach Antworten begibt, landet wieder unweigerlich bei der grossen Kontrahentin der Migros. Bei jener anderen Genossenschaft, die der Migros in fast allen Belangen gleicht und die doch verschieden ist: Coop.
Serie «Das System Migros»
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft: In einer Trilogie nimmt die Republik den Detailhändler unter die Lupe. Wie ist die Migros zu dem geworden, was sie ist? Wie tickt der Konzern, und wohin bewegt er sich?
Sie lesen: Teil 3
Das Duell mit Coop in der digitalen Ära
Zwischen den beiden grössten Detailhändlern der Schweiz tobt seit Jahrzehnten ein Zweikampf. Mit ihm lässt sich vieles davon erklären, was die Migros heute lähmt: ein auf unbedingtes Wachstum verengter Tunnelblick, barocke, unflexible und patriarchale Strukturen, interne Streitigkeiten.
Hier erzählen wir die Geschichte dieses Zweikampfes. Und zeigen auf, warum die Zukunft der Migros davon abhängt, was sie aus dieser Geschichte lernt.
Ein historischer Zweikampf
Die Geschichte beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Entstehung der Konsum-Genossenschaften: Selbsthilfeorganisationen zur Beschaffung von billigem Brot, das damals gegen Marken an Mitglieder verkauft wird.
Die Coop-Vereine entwickeln sich zu einer eigentlichen Volksbewegung. Der zürcherische Konsumverein ist in Europa der erste seiner Art und eine Sensation. Sein kometenhafter Aufstieg und der rabiate Widerstand des Gewerbes erinnern an die Anfänge der Migros in den 1920er-Jahren.
Eine Fotoreportage aus der Filiale Migros City am Zürcher Löwenplatz zieht sich als roter Faden durch die drei Beiträge. Der Fotograf Yves Bachmann hat einen Tag lang den Alltag im Detailhandel aus einer für Konsumenten ungewohnten Perspektive festgehalten.
Tatsächlich zeigt Gottlieb Duttweiler, der Migros-Gründer, ursprünglich selbst Interesse für das Coop-Modell. Sein Vater ist lange Geschäftsführer einer Konsumgenossenschaft. Duttweiler sucht mit den Konsumvereinen sogar die Zusammenarbeit. Diese lehnen den Vorschlag jedoch ab.
Und bleiben, anders als die Migros, in ihrer Entwicklung weitgehend stecken.
Coop kann über weite Strecken des 20. Jahrhunderts nicht mit der agilen Migros mithalten. Eigentlich müsste das dichte Netz von Klein- und Kleinstläden gestrafft, müssten die einzelnen Läden vergrössert werden. Doch dies scheitert bei Coop immer wieder an internen Widerständen in der direktdemokratisch organisierten Genossenschaft.
Derweil startet Duttweiler mit der Migros durch. Und wandelt, erstaunlicherweise, seine Migros-Aktiengesellschaft 1940 selbst in eine Genossenschaft um. Teils um die gemeinnützige Ausrichtung des Unternehmens zu sichern, teils um das Filialerweiterungsverbot zu umgehen, das ihm der Bundesrat zuvor auferlegt hatte.
Durch die Umwandlung entsteht eine für die damalige Zeit geradezu avantgardistische Struktur – aus regionalen Genossenschaften und einer Dachorganisation, dem Migros-Genossenschafts-Bund (MGB). Das Konstrukt gehört formell den Kunden, ist aber gleichzeitig als hierarchisches Gebilde konzipiert. Mit Gottlieb Duttweilers Person mitten im Zentrum.
Die Migros rollt in den Folgejahren Innovationen in grossem Stil aus – bei minimalen Distributionskosten und maximalen Umsätzen. Sie steigt so im Verlauf des 20. Jahrhunderts zur unangefochtenen Marktführerin auf.
An der Schwelle zum 21. Jahrhundert sollte ausgerechnet diese Struktur immer mehr zur Hypothek werden – doch zuerst einmal katapultiert sie die Migros an die Spitze.
Der grosse Turnaround bei Coop
Währenddessen gerät Coop in der Nachkriegszeit in einen Abwärtsstrudel, ähnlich wie Konsumgesellschaften in ganz Europa. Die deutsche Co op AG und die Konsum Österreich gehen noch vor Ende des Jahrhunderts sogar in Konkurs.
In der Schweiz entrinnt Coop diesem Schicksal zwar knapp. Allerdings muss der Betrieb dafür bis ans Äusserste gehen. Nach und nach werden die regionalen Einheiten fusioniert – von 572 Genossenschaften im Jahr 1950 auf noch 21 Mitte der 1990er-Jahre. Um die Jahrtausendwende folgt nichts Geringeres als der komplette Turnaround: das historische Projekt «Coop Forte», die Zentralisierung unter einem einheitlichen Dach.
Der Schritt entpuppt sich als Glücksfall. Per 1. Januar 2001 verschmelzen die damals noch 14 Coop-Regionalgesellschaften, die alle ihre eigenen Interessen haben und jeden gemeinsamen Schritt erst untereinander ausdiskutieren müssen, zu einem einzigen, integrierten Gebilde. Der träge Genossenschaftsverband funktioniert fortan als durchgetaktetes Unternehmen. Das Management und der Verwaltungsrat werden getrennt.
Die Führung übernimmt ein CEO: Hansueli Loosli, ein ehrgeiziger Aargauer, der sich übers Controlling im Detailhandel hochgearbeitet hat. Mit der neuen Coop hat er ein klares Ziel vor Augen: irgendwann die Migros vom Thron zu stossen und selbst wieder die Nummer 1 zu werden.
Straff geführt, setzt Coop nach vollzogener Fusion zur Aufholjagd an.
Was folgt, ist eine grosse Investitions- und Übernahmeschlacht – in der Migros und Coop ihr Duopol im Detailhandel ausbauen und das Land mit immer mehr Läden zukleistern. Ganz im Wissen darum, dass dies ihre einzige Chance ist, um die internationale Konkurrenz, die ab den Nullerjahren im Schweizer Markt mitmischt, auf sichere Distanz zu halten.
Die Zeit seit der Jahrtausendwende erscheint auf den ersten Blick als Phase, in der die Migros den Turbo zündet. Globus, LeShop, Denner, Digitec, Schild: Die Migros verleibt sich manches andere Unternehmen ein, verändert ihr Erscheinungsbild. Doch im Innern der Genossenschaft, bei den Strukturen, tut sich in dieser Zeit im Grunde genommen nicht viel. Anders als Coop versäumt es die Migros, sich organisatorisch weiterzuentwickeln.
«Die Migros blieb in der Pubertät stecken», umschreibt es eine Person, die den Konzern seit langem kennt. «Sie sollte nun endlich erwachsen werden.»
Die komplizierte Organisation der Migros
Worum es bei diesem Erwachsenwerden geht, wird klar, wenn man sich das Organigramm der Migros vor Augen führt: ein Ungetüm, das viele ineinander verschachtelte Kästchen und Querverbindungen umfasst. Es zeigt, wie viele Personen und Stellen bei der Migros-Betriebspolitik mitreden.
Die Migros-Organisation
10 regionale Migros-Genossenschaften
Aare
Basel
Genf
Luzern
NE/FR
Ost-CH
Tessin
Waadt
Wallis
Zürich
Alle Genossenschaften mit eigener Urabstimmung,
Verwaltung, Genossenschaftsrat und Geschäftsleitung
Migros-Genossenschafts-Bund (MGB)
Delegiertenversammlung, 111 Mitglieder
Verwaltung, 23 Mitglieder
Ausschuss
Entschädigungen
und Nominationen
Ausschuss
Detailhandel
Migros (ADH)
Ausschuss
Finanzen
Auditausschuss
Generaldirektion
Departement I
HR, Kulturelles und
Soziales, Freizeit
Departement III
Logistik und
Informatik
Departement II
Marketing
Departement IV
Industrie und
Grosshandel
Departement V
Finanzen
Departement VI
Handel
Quelle: Migros
Die Migros-Organisation
10 regionale Migros-Genossenschaften
Aare
Basel
Genf
Luzern
NE/FR
Ost-CH
Tessin
Waadt
Wallis
Zürich
Alle Genossenschaften mit eigener
Urabstimmung, Verwaltung,
Genossenschaftsrat und Geschäftsleitung
Migros-Genossenschafts-Bund (MGB)
Delegiertenversammlung, 111 Mitglieder
Verwaltung, 23 Mitglieder
Ausschuss
Entschädigungen
und Nominationen
Auditausschuss
Ausschuss
Detailhandel
Migros (ADH)
Ausschuss
Finanzen
Generaldirektion
Departement I
HR, Kulturelles und
Soziales, Freizeit
Departement II
Marketing
Departement III
Logistik und
Informatik
Departement IV
Industrie und
Grosshandel
Departement V
Finanzen
Departement VI
Handel
Quelle: Migros
Da sind einerseits die zehn regionalen Genossenschaften: Aare, Basel, Genf, Luzern, Neuenburg-Freiburg, Ostschweiz, Tessin, Waadt, Wallis und Zürich. Sie sind formell eigenständige Unternehmen, mit eigener Geschäftsleitung, eigenem Verwaltungsrat und eigenen Genossenschaftsräten. Und darüber auch mit eigener Sortimentsauswahl, eigener Ladengestaltung und eigenen, verschiedensten Druck- und Online-Formaten für den Geschäftsbericht.
Und da ist andererseits der Migros-Genossenschafts-Bund (MGB): Er gehört rechtlich den Regionalgenossenschaften, besitzt aber die gesamten Migros-Markenrechte und kontrolliert auch die meisten Produktionsbetriebe: die Jowa-Bäckerei, die Micarna-Metzgerei, die Migrosbank und so weiter. Im MGB laufen alle Fäden zusammen, hier wird die Konzernberichterstattung erstellt – doch im MGB liegt nicht die volle Entscheidungsmacht.
Diese liegt in der Migros-Verwaltung, einem 23-köpfigen Verwaltungsratsgremium, in dem die regionalen Genossenschaften, der MGB und einige externe Mitglieder vertreten sind. Sie wählt den Präsidenten der Generaldirektion, der auch den MGB und seine sechs Departemente dirigiert.
Dann gibt es die Delegiertenversammlung, die mit Vertretern aus den Regionen bestückt ist und wiederum den Verwaltungspräsidenten und die externen Mitglieder der Verwaltung wählt – und die darüber hinaus auch entscheidet, ob der MGB-Chef überhaupt in der Verwaltung sitzen darf.
Und schliesslich: die Gottlieb- und Adele-Duttweiler-Stiftung, die über das Erbe des Migros-Gründers wacht. Ihre Chefs waren früher Strippenzieher im Konzern, haben in den letzten Jahren allerdings an Einfluss verloren. Mit einer Ausnahme: Wo Migros draufsteht, darf kein Alkohol verkauft werden.
Die komplizierte Struktur verhindert nach Ansicht vieler Kenner effiziente Führungsentscheide, führt zu Interessenkonflikten und verunmöglicht obendrein, dass sich überhaupt etwas Grundlegendes bei der Migros ändert.
Wie effizient wird entschieden?
Die Sache beginnt damit, dass es bei der Migros keinen klaren Chef gibt.
Formelles Oberhaupt der Organisation ist Ursula Nold, die Präsidentin der Delegiertenversammlung (die nun fürs Verwaltungspräsidium kandidiert). Ihre Macht entspricht der einer Nationalratspräsidentin: Sie hat fast keine.
Dann gibt es den Chef des Migros-Genossenschafts-Bunds. Seit einem Jahr heisst er Fabrice Zumbrunnen. Er hat innerhalb des MGB das Sagen und nach aussen die grösste Strahlkraft. Doch er steckt auch im grössten Dilemma: Einerseits muss er mangels Weisungsbefugnis gegenüber den Regionen eine überzeugende Persönlichkeit sein, um Ideen durchzubringen. Andererseits darf er in dieser Funktion aber nicht zu sehr brillieren: Ein Generaldirektor, der den Neid anderer auf sich zieht, hat in der Migros schnell ein Problem.
Die dritte Führungsfigur ist der Präsident der MGB-Verwaltung: Andrea Broggini. Sein Einfluss ist allerdings beschränkt: Im MGB und bei den regionalen Genossenschaften hat er nicht viel zu melden. Broggini, der sein Amt 2012 antrat, tritt 2019 vorzeitig zurück – frustriert, wie es heisst. Der Tessiner Jurist führte in der Verwaltung zwar Ausschüsse fürs Audit und für Nominierungen ein, so wie es bei den meisten Firmen üblich ist. Eine weiterreichende Strukturreform brachte Broggini aber nicht auf den Weg.
Eine solche Reform scheint bei der Migros allerdings angezeigt.
Das Hauptproblem ist die Verwaltung, das wichtigste gruppenweite Entscheidungsorgan. Sämtliche zehn regionalen Genossenschaften sind darin vertreten. Doch der MGB-Chef hat bloss eine Stimme unter 23. Das zieht Diskussionen in die Länge. Und gereicht der Migros in einer Zeit, in der sich das geschäftliche Umfeld immer schneller verändert, zum Nachteil.
Bei Coop, der Konkurrenz, kommt man in den Nullerjahren schneller voran beim Ausbau von Franchise-Formaten wie Coop Pronto. Und expandiert mit der Gastro-Grosshändlerin Transgourmet erfolgreich im Ausland. Ohne zentrale Entscheidungskompetenz wäre dieser Schritt schwierig gewesen.
Wer hat welche Interessen?
Es geht damit weiter, dass bei der Migros die Macht nicht nur zu stark verteilt, sondern auch ungenügend kontrolliert ist. Dass die Regionen in der Verwaltung sitzen, ist ein fundamentales Corporate-Governance-Problem.
Ein Teil des Kaders – die Leiter der Regionen – kontrolliert sich damit selbst.
Und nimmt starken Einfluss aufs Geschäft. Etwa über Gremien wie den sogenannten Vorhimmel, den Ausschuss für Detailhandel, in dem die Strategie für das «orange M» gemacht wird, also für die Fach- und Supermärkte.
Die zehn Regionalleiter bereiten Geschäfte im Vorhimmel untereinander vor. Und sprechen dann in der Verwaltung, wo sie fast die Hälfte aller Sitze haben, mit einer Stimme. Gegen den Willen der «Regionalfürsten» passiert im Migros-Kerngeschäft somit nichts. Die externen Verwaltungsmitglieder, es sind 9 von total 23 Personen, sind zu schwach, um ihnen Paroli zu bieten.
Die Macht der Regionalfürsten bremst die Migros bei der Digitalisierung aus. Zentral auf den Onlinehandel zu setzen, würde die Gruppe eigentlich weiterbringen. Doch den Regionalchefs fehlt oft das Know-how dafür. Und auch der Anreiz: Denn der Umsatz in ihrer eigenen Region ginge mit dem Internethandel zurück, der eine gewisse Zentralisierung mit sich bringt.
Doppelspurigkeiten und Abstimmungsprobleme zwischen dem MGB und den Regionen sind die Folge. Diese existieren etwa bei der Elektronik mit Digitec (MGB) und Melectronics (Regionen); etwa im Möbelgeschäft mit Interio (MGB) und Micasa (Regionen), die nun in einem Projekt («Intercasa») zusammengeschlossen werden – allerdings ohne Erfolg, wie zu hören ist.
Mit Ausnahme des Warenhauses Digitec/Galaxus steht der gesamte Onlinebereich bei der Migros auf schwachen Beinen. LeShop bringt im Vergleich zum genossenschaftlichen Detailhandel gerade einmal 1,2 Prozent des Umsatzes auf die Waage. Ein nicht ganz unwesentlicher Teil davon übrigens mit Alkohol: Jeder zweite bestellte LeShop-Warenkorb enthält Bier, Wein oder Spirituosen.
Die Situation ist paradox. Einerseits gewinnt die Migros internationale Digital-Awards – ihre App ist die meistgenutzte Handels-App der Schweiz. Andererseits ist die Migros im Internet mit angezogener Handbremse unterwegs. Wer die Migros-App installiert, kann zwar Einkaufszettel erstellen und Aktionen studieren. Nur eines fehlt: ein «Bestellen»-Knopf. Um sich Lebensmittel tatsächlich liefern zu lassen, braucht es nochmals eine andere App: jene von LeShop. Mit separatem Nutzerkonto und Passwort.
Einen einheitlichen Online-Service hat die Migros somit nicht. Stattdessen verzettelt sie sich mit Versuchsballonen wie die im April lancierte Social-Shopping-App «Amigos», mit der man Personen aus der Nachbarschaft für den Einkauf einspannen kann. Das Zagen liegt nicht an den Fähigkeiten der IT-Entwickler, sondern hat nur einen Grund: der Widerstand der Regionen.
Welche Leute arbeiten bei der Migros?
Ein dritter Punkt ist: das Personal. Die Strukturen seien nicht so wichtig, meint man bei der Migros – solange die richtigen Leute am Drücker seien.
Das Problem daran ist: Niemand kann dafür sorgen, dass dies auch wirklich der Fall ist. Mittelmässige Manager wird die Gruppe fast nicht mehr los.
Etwa in den Regionen: Theoretisch müssten die regionalen Verwaltungen einschreiten, wenn ein Regionalchef seine Leistung nicht bringt – denn im Zürcher «Kreml» hat niemand den Durchgriff dorthin. Doch ausserhalb von Zürich, von Sitten bis Lugano, sind die persönlichen Bande stark. Niemand will dem Nächsten wehtun. Obwohl dies manchmal nötig wäre: Immerhin steuern die Regionalgenossenschaften 55 Prozent des Migros-Gruppenumsatzes bei.
Wenn schlechte Leute auf ihren Sesseln kleben, kommen die Guten gar nicht erst zum Unternehmen. Ein deutliches Indiz dafür ist: die Geschlechterquote.
Die Migros wird fast nur von Herren geleitet. 77 Geschäftsleitungsposten existieren verteilt über die diversen Genossenschaften. 69 dieser Posten wurden per Ende 2017 von Männern bekleidet. Das entspricht einer Quote von 90 Prozent. In 4 von 10 Migros-Regionen – Aare, Genf, Waadt und Wallis – sitzt sogar überhaupt keine Frau in der Geschäftsleitung.
Das Kollektiv der Regionalchefs ist ein reines Männergremium. Und auch in der eine Ebene darunter angesiedelten Fachkommission der Marketingleiter ist die Stimmkraft einseitig verteilt: siebzehn Männer – eine Frau.
Böse Zungen frotzeln, der Frauenmangel im Kader schlage sich im Sortiment nieder: Seien gerade schmale Ärmel und breite Kragen in Mode, so hätten die Poloshirts bei der Migros garantiert breite Ärmel und schmale Kragen.
Auch beim MGB ist die Frauenvertretung nicht erquickend. In der dortigen Geschäftsleitung sitzt gerade mal eine Frau: Sarah Kreienbühl verantwortet seit diesem Jahr das Departement Human Resources, Kommunikation, Kultur und Freizeit. Eine Stufe unterhalb sieht es teils besser aus, teils aber auch schlechter: So wird zum Beispiel das über tausend Mitarbeiter grosse MGB-Departement Marketing von sechs Männern geleitet, aber von keiner Frau.
Führungsjobs werden oft nach dem Anciennitätsprinzip vergeben. So etwa im Fall von LeShop: Dort wurde letztes Jahr ein neuer Chef installiert, der zwar dreissig Jahre im Detailhandel auf dem Buckel hat und laut der Migros-Pressestelle eine «grosse digitale Affinität» aufweist – aber zuvor nie ein digitales Unternehmen oder einen Onlineshop leitete.
Die Migros präsentiert sich als Antithese zum modernen Arbeitsmarkt. Angestellte harren ewig bei der Firma aus, wer einen Posten ergattert hat, gibt ihn fast nicht mehr her. Immerhin: Die Frauenförderung sei der Migros ein Anliegen, heisst es, «Diversity» werde in der Führungsausbildung geschult, eine weitergehende Initiative sei zudem in Planung. Allerdings heisst es dies bereits seit Jahren – verändert hat sich in der Zeit wenig.
Unfertige Reformen, verpasste Fusionen
Kein klarer Chef, diffuse Machtverhältnisse, konservatives Personal: All dies lähmt die Migros. Und hält sie davon ab, ähnlich wie Coop vor mittlerweile fast zwanzig Jahren eine einheitliche Organisation mit moderner Corporate Governance und mit direkten Entscheidungswegen einzuführen.
Und auch eine intensivere Zusammenarbeit unter den Regionen zu fördern. Doch besonders gegen dieses Anliegen regt sich seit Jahren Widerstand.
Die letzte Migros-Reform datiert vom April 2002, aus der Ära von Anton Scherrer und Claude Hauser. Damals werden die Departementsleiter des MGB aus der Verwaltung bugsiert, in der sie zuvor sassen. Weiter kommt man allerdings nicht, wie die «Basler Zeitung» ernüchtert festhält: «Die Leiter der regionalen Genossenschaften sitzen nach wie vor in der Verwaltung und überprüfen sich selbst, das ist doch keine richtige Gewaltenteilung.»
Die unvollendete Reform vor fünfzehn Jahren wird zum Hemmschuh. Es entsteht ein Ungleichgewicht: Der MGB wird geschwächt, die Regionen behalten ihre Macht. Und können sich weiter gegen Fusionen sperren. «Innerhalb von vier bis acht Jahren» sollten einige Genossenschaften zusammengelegt werden, verkündet der damalige Präsident Claude Hauser 2003. Und zwar auf «sechs bis sieben Regionen», präzisiert er 2004.
Doch die Zusammenschlüsse bleiben aus. Die letzte Fusion liegt über zwanzig Jahre zurück. Damals entstand aus den Sektionen Bern und Aargau die Genossenschaft Aare als grösste aller Regionen. Gerüchteweise sollten 2007 Genf und die Waadt zusammengehen. Doch daraus wurde nichts.
Dabei wären weitere Fusionen unter den Regionen durchaus wünschenswert.
Dies allein schon aus Kostengründen. Bei der Migros verfolgt jede Region ihre eigene Auslandsstrategie – Zürich übernahm etwa in Eigenregie 290 Filialen der deutschen Supermarktkette Tegut. Die Regionen führen auch eigene Fitnessketten, die sich teils konkurrenzieren. Jeder regionale Markt wird einzeln bearbeitet. Der Verzicht auf diese Doppelspurigkeiten würde enorme Einsparungen ermöglichen. Er liegt betriebswirtschaftlich auf der Hand.
Der Einkauf ist ein weiteres Thema. Coop konnte dank der Zentralisierung günstigere Konditionen bei den Herstellern aushandeln. Die Migros verzichtet mit ihrer dezentralen Struktur auf einen Teil dieser Synergien.
Wer dazu bei der Migros Fragen stellt, hört indes erstaunliche Formulierungen. Die Migros sei eben keine normale Firma, wird gesagt, sondern eine «Nachfolgelösung» – als stünde die Gruppe mit einem Bein bereits im Museum. Dabei ist es nur wenige Jahrzehnte her, dass die Migros der dynamischste Betrieb im ganzen Land war: gefürchtet für seine Innovationskraft und geschätzt dafür, die tiefsten Preise anzubieten.
Wer sich bei Coop dazu umhört, vernimmt: Nichts macht dort mehr Angst als die Vorstellung, die Migros könnte sich doch noch zusammenraufen. Und ihre komplexe Struktur radikal entschlacken – so wie es Coop einst tat.
Zehn ungleiche Regionen
In der Migros-Zentrale, im Hochhaus am Zürcher Limmatplatz, scheint dies allerdings kein Thema. Seit Fabrice Zumbrunnen beim MGB das Zepter übernommen hat, sind erst einmal andere Veränderungen angesagt. Die Migros will Kosten sparen, führt Rationalisierungsprogramme durch.
Eines von ihnen heisst «Fast Forward»: Es zielt auf den MGB-Hauptsitz ab und beinhaltet den Abbau von 290 Stellen, unter anderem im Marketing und in der Informatik. Ein weiteres heisst «Puma», es will die «Zusammenarbeit entlang der Wertschöpfungskette» verbessern. Konkret heisst das: Gewisse interne Dienstleistungen wie die Logistik, die Finanzdienstleistungen, das Personalmanagement oder die Immobilienwirtschaft sollen bei grösseren Genossenschaften konzentriert werden.
Es sind Reförmchen im kleinen Stil. Doch Fabrice Zumbrunnen und seine Kommunikationschefin Sarah Kreienbühl gehen dabei nicht zimperlich vor.
Zwei langjährige Manager, Marketingchef Hansueli Siber und Industriechef Walter Huber, haben letztes Jahr ihren Abgang angekündigt. Diverse andere Leute haben die Migros verlassen – teils wegen baldiger Pensionierung, teils auch wegen der neuen Führung: Roman Reichelt, Leiter der Direktion Marketing-Kommunikation; Monica Glisenti, Leiterin der Direktion Unternehmenskommunikation; Cornelia Diethelm, Leiterin der Direktion Nachhaltigkeit; Hans Schneeberger, Chefredaktor des Migros-Magazins; Lorenz Brügger, Leiter Migros-Medien; Martin Schläpfer, Cheflobbyist.
In ein bis zwei Jahren solle die Migros wieder fit sein, lautet die Botschaft. So fit wie Sarah Kreienbühl, die angeblich jeden Morgen hundert Liegestütze macht, sich intern mit einem Foto vorgestellt hat, das sie selbst auf der Dufourspitze zeigt, dem höchsten Berg der Schweiz. Oder so fit wie Matthias Wunderlin: Der neue Marketingchef ist ein ehemaliger Profi-Triathlet, der die Erstausgabe des Inferno-Triathlons von Thun auf das Schilthorn gewann.
Mit den Aktivitäten sendet MGB-Chef Zumbrunnen – der nur dank externen Verwaltungsmitgliedern ins Amt kam; neun von zehn Genossenschaftsleitern waren gegen ihn – ein Signal in die Regionen: Seht her, ich bin nicht bloss der charmante Romand, sondern ich räume den Laden am Limmatplatz auf. Das verschafft ihm Kredit, sollte er dereinst doch die grosse Reform anpacken.
Das Problem ist: In der Zwischenzeit ist die Stimmung mies. Zumbrunnen versteckt sich hinter der ungeliebten Sarah Kreienbühl, die er selbst zur Migros geholt hat und die als Kommunikationschefin für Unruhe sorgt. Das interne Misstrauen ist gewachsen, seitdem Kaderleute wegen einer Lappalie (ein bevorstehender Stellenabbau, von dem bereits die halbe Migros wusste, sickerte an die Presse durch) ausspioniert und von Anwälten verhört wurden.
Derweil nehmen als Folge der Synergieprogramme die Ungleichgewichte unter den Regionen weiter zu: Die Genossenschaft Aare trägt bereits heute siebenmal mehr zum Umsatz bei als die kleinste Genossenschaft Tessin.
Die Regionen driften in ihrem Geschäft immer weiter auseinander: Im Vergleich zur Einwohnerzahl war im laufenden Jahrzehnt nur Luzern stabil. Regionen wie Genf und Waadt verzeichneten dagegen Umsatzeinbrüche von bis zu zwanzig Prozent. Die Unterschiede werden bei der Migros gern mit dem Einkaufstourismus begründet. Allerdings genügt diese Erklärung nicht.
Auf Anfrage sagen die Genossenschaften Genf, Tessin, Waadt und Wallis, sie wollten die Prozesse optimieren, in neue Verkaufspunkte sowie in Formate wie Fitnesscenter investieren. Eine Fusion erwähnt niemand als Option.
Die Gegenperspektive
Dies wohl auch, weil das Thema innerhalb der Migros extrem heikel ist. Und weil die Gegenthese zur Strukturreform immer noch viele Freunde hat: jene These, wonach die Migros mit ihrer dezentralen Struktur einige einzigartige Vorteile besitze, die man auf keinen Fall preisgeben dürfe.
Das häufigste Argument dazu lautet: Die Regionen seien näher beim Kunden. Vor Ort könne das Sortiment besser an die lokalen Geschmäcker angepasst werden: In Genf wird kein Schabziger angeboten, in der Ostschweiz steht keine Stopfleber im Regal. Darum wäre ein Zusammenschluss schädlich.
Ein weiteres Argument: Zwischen den Genossenschaften sollte der Wettbewerb spielen – eine Region probiert ein neues Ladenkonzept aus, eine andere Region übernimmt das Konzept, wenn es sich bewährt. «Sich aneinander emporarbeiten» heisst diese Philosophie im Migros-Sprech.
Das emotionalste Argument für die dezentrale Struktur lautet schliesslich: Die Migros sei ein Abbild der Schweiz. Und deshalb müsse der Föderalismus, müsse die Demokratie innerhalb der Migros unbedingt bewahrt bleiben. Zulasten des Tempos, vielleicht, aber zugunsten der Nachhaltigkeit: 2000 Stellen auf einen Schlag zu streichen, wie es der Basler Pharmakonzern Novartis trotz seines Milliardengewinns zuletzt tat, dies wäre bei der Migros undenkbar – weil die Macht im Konzern eben nicht zentralisiert ist.
Die Gegenargumentation überzeugt nicht restlos, doch in einem Punkt haben die Traditionalisten recht. Blickt man genau hin, so erkennt man: Auch die zentralisierte Coop hat im neuen Millennium nicht alles besser gemacht.
Stichwort Kultur: Das Coop-Management ist genauso grauhaarig und männlich wie das der Migros. In der Geschäftsleitung sitzt keine einzige Frau.
Stichwort Online: Hier wächst Coop@home zwar etwas rascher als LeShop. Doch im Vergleich zum Gesamtgeschäft ist der Detailhandelsumsatz, den Coop im Internet erzielt, genauso mickrig wie jener der Migros.
Stichwort digitale Transformation: Mit dem Warenhaus Siroop hat Coop zuletzt einen der grössten Flops in der Geschichte des Schweizer E-Commerce produziert. 140 Millionen Franken gingen verloren, 180 Mitarbeitende mussten den Job wechseln. Die Plattform war 2016 von Coop und Swisscom lanciert worden. Präsident der beiden Firmen ist ausgerechnet Hansueli Loosli: der starke Mann, der bei Coop die grosse Reform umsetzte.
Duttweilers These
Wer wird sich an der Spitze des Schweizer Detailhandels halten können: Coop, der alte und serbelnde Verband der Konsumvereine, der nach einer kompletten Reorganisation im neuen Jahrtausend wie ein Phönix aus der Asche emporstieg und sich vor zwei Jahren an die Spitze schwang? Oder Migros, die einstige Innovatorin, die nach ihrem rasanten Wachstum über die letzten Jahrzehnte nichts anderes mehr ist als: gross und kompliziert?
Die jüngst publizierten Umsatzzahlen für 2018 geben darauf keine endgültige Antwort, bestätigen aber den Vorjahrestrend:
Bei Coop wuchs der gruppenweite Umsatz um 5,0 Prozent. Jener im Detailhandel wuchs um 2,0 Prozent, jener der Fachmärkte um 3,8 Prozent, jener im Nachhaltigkeitsbereich um 6,8 Prozent und jener im Onlinehandel um 20,4 Prozent.
Die Migros verzeichnete ein Plus von 1,3 Prozent beim gruppenweiten Wachstum, von 1,9 Prozent im Detailhandel, von 1 Prozent bei den Fachmärkten, von 4,7 Prozent im ökologischen und sozialen Bereich und von 9,9 Prozent im Onlinehandel.
Im Vergleich der beiden Detailhandelskonzerne gewinnt Coop damit weiter an Marktanteilen hinzu. Und setzt die Migros zusätzlich unter Druck. Muss sich der orange Riese neu erfinden, muss er sich grundlegend reformieren?
Die offizielle Linie der Migros ist, dass sie ihre Strukturen auf jeden Fall behalten will. Die Abläufe innerhalb der Firma könnten effizienter werden, doch die Schaffung einer Einzelgenossenschaft sei absolut kein Thema.
Mit anderen Worten: Was sich in der Vergangenheit bewährt hat, soll auch in der Zukunft das Richtige sein – alles wird nur als eine Frage der Optimierung verstanden, des sich Herausarbeitens aus einem zwischenzeitlichen Tief.
Allerdings können sich auch in einem Geschäft wie dem Verkauf von Zucker, Mehl und Kokosfett die Zeiten rasch ändern – und zwar grundlegend. Gottlieb Duttweiler bewies dies vor genau 93 Jahren, als er mit 5 Verkaufswagen den Detailhandel in der Schweiz revolutionierte.
Gottlieb Duttweiler und seine Frau Adele hinterliessen der Migros 15 Thesen. These Nr. 3 lautet: «Der Bestand unserer Genossenschaft beruht auf ihrem organisatorischen Leistungsvorsprung.»