Willkommen in der Scheinwelt
Der Berner Rapper Nativ ist die zurzeit dringlichste Stimme im Schweizer Hip-Hop. Sein aktuelles Album «Baobab» ist wütend, sensibel und musikalisch verspielt. Damit stellt es nicht nur Gewohnheiten im Rap auf den Kopf.
Von Timo Posselt (Text) und Diana Pfammatter (Bilder), 09.01.2019
Hier sitzt einfach alles. Jede berndeutsche Zeile ist schnurgerade, kein Beat klingt wie ein anderer. «Baobab» bricht zu Beginn schon mit den Gewohnheiten von Rap. In «Sanspapier» zertrümmert Nativ die Rap-typische Kathedrale der Selbstherrlichkeit in der ersten Zeile: «I bi so wichtig / Du bisch so wichtig / Mir aui sy wichtig / Auso tue nid so wichtig» («Ich bin so wichtig / Du bist so wichtig / Wir alle sind wichtig / Also tu nicht so wichtig»). Hi-Hats verteilen harte Ohrfeigen, der Bass wuchtet böse, und doch bimmelt irgendwo der helle Klang von etwas wie einem digitalen Xylofon.
Dann legt Nativ in eine einzige Zeile alles, was ihn an Humor, Dringlichkeit und Politischem auszeichnet: «Us dr Vagina vo myre Mère sägi / We si frage vo wo das i chum» («Aus der Vagina meiner Mutter, sage ich / Wenn sie fragen, woher ich komme»).
Die Szene feiert
Egal, wen man fragt, die Schweizer Hip-Hop-Community feiert dieses Album. «Halleluja, ich habe Rap schon lange nicht mehr so bedingungslos gefühlt», sagt Rap-Kollegin Steff La Cheffe zur Republik. Nativ schaffe es irgendwie, alle Hip-Hop-Codes zu bedienen und gleichzeitig einfach sich selbst zu sein. «Er zeigt Rückgrat und eine klare Haltung, ist subversiv, ohne verbittert zu wirken», sagt Kolumnistin und Moderatorin Gülsha Adilji. Und sie doppelt nach: «Er ist schlau, analytisch und hat die Energie, noch lange zu bestehen.»
Ohne Major-Label und Streaming-Dienste erreichte «Baobab» Platz drei der Schweizer Albumcharts. «Album vom Jahr», liess die für den Schweizer Hip-Hop unverzichtbare SRF-Virus-Sendung «Bounce» Ende 2018 verlauten, und das szeneprägende «Lyrics»-Magazin wählte Nativ kürzlich zum aktuell besten Mundartrapper. Nativs «Baobab» ist eines der dringlichsten Schweizer Musikalben der letzten Jahre.
Thierry Gnahoré alias Nativ ist eine eindrückliche Erscheinung, nicht nur aufgrund der Körpergrösse von 1,90 Metern. Im Gespräch wirkt er ruhig und ernsthaft, ob er politische Zusammenhänge aufzeigt oder seine eigenen Konflikte und Zweifel mitteilt.
Rassismus in Niederscherli
Aufgewachsen ist Gnahoré in der Berner Agglo-Gemeinde Niederscherli. Seine Mutter arbeitete, weshalb er die Kindheit zum grossen Teil unter der Obhut seiner Grossmutter verbrachte. Die Beziehung zum Vater war nicht einfach: «Er konnte mir nie die Liebe zeigen, die ich damals brauchte.»
Als Einziger seiner Klasse wohnte Gnahoré in einem Block statt in einem Einfamilienhaus. Andere Kinder lud er ungern nach Hause ein: Er fürchtete, sie würden denken, seine Familie sei arm.
Im dörflichen Umfeld aus Schweizer Mittelschicht- und Bauernfamilien war Gnahoré in der Schule eines der wenigen Kinder mit Migrationshintergrund. Er erlebte oft direkten und «subliminalen» Rassismus, wie er nicht offensichtliche Diskriminierung nennt. Das N-Wort ging den meisten in Niederscherli leicht über die Lippen. Heute sagte er: «Irgendwie musste ich damit klarkommen, wollte das aber nie.»
Diese Erfahrungen verarbeitete Nativ im zweiten Song auf «Baobab». Im Intro von «Noir» formuliert er sie mit runtergepitchter Bassstimme: «Du fragsch würklech / Werum ig mi immer ha schwerzer gfüut aus wyss?» («Du fragst wirklich / Warum ich mich immer schwärzer gefühlt habe als weiss?»). Und wirft dann der Schweizer Mehrheitsgesellschaft ihre Selbstgerechtigkeit zurück ins Gesicht: «Isch ganz eifach / Wäge öich» («Ist ganz einfach / Euretwegen»).
Nativ rekapituliert die ersten Jahre seiner Jugend «im ’45» – 3145 ist die Postleitzahl von Niederscherli – zwischen Geranienbalkonen und Alltagsrassismus: «13 Jahr im ’45 bini ufgwachse imne Dorf / Han mir 716 Mau aglost ig bin än Aff / Nachber isch a low-key racist / Myni Wurzle i mim Wou / Bis zum Punkt won är mir gseit het / I söu zrügg ga vo woni chum» («13 Jahre im ’45 bin ich aufgewachsen in einem Dorf / Hab mir 716 Mal angehört, ich wär ein Affe / Der Nachbar ist ein low-key racist / Meine Wurzeln in meinem Wohl / Bis zum Punkt, wo er mir sagte / Ich soll zurück, woher ich komme»). Nativ erzählt von der Wut, dem Hass, den Aggressionen und den Selbstzweifeln. Er wirft im Refrain die Frage nach politischer Repräsentation auf: «Würum i mad bi / Und du fragsch no / I schreie lut aber i wirde nid wahrgnoh / Mi si huere viu aber wo isch üse Platz da? / Mängisch chunnts mer vor aus hätte sie üs d Farb gnoh» («Warum ich mad bin / Und du fragst noch / Ich schreie laut, aber ich werde nicht wahrgenommen / Wir sind verdammt viele, aber wo ist unser Platz hier? / Manchmal kommt es mir vor, als hätten sie uns die Farbe genommen»).
Schon als kleiner Bub, so erzählt er heute, sass er freitagabends neben der Mutter auf dem Sofa und versuchte in der «Arena» rauszukriegen, wer die Guten und wer die Bösen sind. Später machte er die KV-Lehre bei der SP Schweiz. Es sollte seine einzige Berührung mit Parteipolitik bleiben: «Allen Parteien geht es nur darum, dass ihre Gesichter wieder gewählt werden.»
Als Dreizehnjähriger zog er mit der Familie nach Bern. Gnahoré fand schnell Anschluss. Er ging an Demonstrationen und hing oft im autonomen Kulturzentrum Reitschule ab. Ein-, zweimal wurde er bei Demos verhaftet, immer wieder von der Polizei kontrolliert. Als er einmal sah, wie drei Polizisten brutal und scheinbar grundlos auf einen Schwarzen sprangen, konnte er nicht zusehen. Er ging dazwischen. Ein Gefühl der Ungerechtigkeit kochte in ihm hoch: «Jemanden Neger zu nennen, ist das eine. Aber da merkte ich, es gibt wirklich einen Unterschied zwischen Schwarz und Weiss. Er ist real, und er löst genau solche Situationen aus.»
Gnahorés Neffe ist fünf Jahre alt und kennt diesen Unterschied schon. Wenn Nativs Mutter deutsche Soaps schaut, sitzt der Neffe manchmal daneben. Einmal habe er unvermittelt gefragt: «Warum gibt es in dieser Serie keine Schwarzen?» In «Noir» nimmt Nativ die Frage des Neffen auf. Die Wahrnehmung von Rassismus hängt vom Willen ab. Denn dass er existiert, ist unübersehbar.
«Das alles hier bin ich»
Mit der Schweiz verbindet Gnahoré eine Hassliebe. Er fühlt sich oft missverstanden, und die hiesige Konzentration auf Leistung, Materialismus und Verlustängste stört ihn. Damit rechnet er in «Nicce» bitter-ironisch ab: «Wiukomme ir ä Schynwäut!» («Willkommen in einer Scheinwelt!»), heisst es zu Beginn. Dann richtet Nativ seine kritische Stimme gegen das eigene Land: «Suechsch du Ignoranz muesch du nur i Spiegu luege» («Suchst du Ignoranz, musst du nur in den Spiegel blicken»).
Im vergangenen Januar reiste Gnahoré für fünf Wochen in den Senegal, nach Gambia und in die Republik Côte d’Ivoire. Aus diesem Land kam einst sein Vater in die Schweiz. Als Nativ das erste Mal nach zehn Jahren wieder über die Lagune von Abidjan, der grössten Stadt der Elfenbeinküste, flog, war er überwältigt: «Es war, als sähe ich nach langem meinen Vater wieder, und ich dachte, das alles hier bin ich.»
Das Essen, die Musik, selbst der Wortschatz: Kulturell fühlt er sich zur Elfenbeinküste gehörig. Auch wenn er dort erst nicht als Schwarzer wahrgenommen wurde. «Viele Mischlinge kennen das. Hier bist du eine Mischung aus Schwarz und Weiss, und in Afrika wirst du als Weisser wahrgenommen.»
In einem eigens organisierten Austausch mit anderen mixed race stellte er fest, wie sehr seine Geschichte der von anderen gleicht: «Nirgends gibt man dir das Gefühl, dass du hundertprozentig zu Hause bist.» Dennoch, sagt Nativ, werde er nicht vergessen, dass er in der Schweiz geboren und aufgewachsen ist. «Ich muss es als das nehmen, was ich bin: Ich bin ein Mischling. Etwas anderes bin ich nicht.»
Dieses Selbstbild löst Nativ auch als Teil der Crew S.O.S. ein. Das Kürzel steht für «Saviours of Soul». Er und sein Berner Rap-Kollege Dawill verkörpern mit Selbstverständlichkeit die postmigrantische Realität der Schweiz und propagieren diese an ihren Konzerten mit unzähmbarer Energie.
Der Journalist und Szenekenner Ugur Gültekin attestierte S.O.S. in einem Artikel bei «Vice» 2017 die Rückkehr zur politischen Grundbewegung der Hip-Hop-Kultur: «Geschichten aus der Sicht der Minderheitsgesellschaft erzählen und eine Stimme für die Stimmlosen sein.» Die Erzählung des Rap-Charakters Nativ wirkt authentisch und lässt eine Vielzahl identitätspolitischer Bezüge zu. Hier spricht einer aus einer vermeintlichen Minderheit zur Mehrheit in diesem Land. «Ich bin ein Sprachrohr der Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die Probleme und Träume hat.»
Lange dominierten weisse, männliche Künstler den erfolgreichen Schweizer Hip-Hop. Von seltenen, aber wichtigen Ausnahmen wie Griot abgesehen. Die Rapper spiegelten damit meist ihr Publikum aus der Mittelschicht. Andere Vorbilder wurden nicht nur der musikalischen Progressivität wegen in Frankreich, Deutschland und den USA gesucht.
Inzwischen hat sich die hiesige Szene gewandelt. In der Schweiz ist Nativ einer unter vielen erfolgreichen Rapperinnen und Rappern mit Migrationsvordergrund. Andere sind Pronto, XEN und KT Gorique. Trotz der überwältigenden männlichen Dominanz ist kein anderes Genre hierzulande so vielfältig. Musikalisch ist man sich in der Szene einig: Selten klang Hip-Hop aus der Schweiz aufregender und noch nie so international.
Kippende Beats, singender Rapper
So vielschichtig die Lyrics auf «Baobab» sind, so innovativ ist Nativ darin musikalisch. Von elf Tracks hat er acht Beats selbst produziert. Nur «Sira», «Parisienne Vert» und «Noir» sind vom Produzenten Questbeatz. Abgesehen von der Anti-Drogen-Hymne «Doris» hat kein Track Boom-Bap-Beats, wie sie für den Old-School-Hip-Hop prägend waren. Sowieso durchbrechen die Tracks immer wieder die orthodoxe Reihenfolge von Verse-Hook-Verse. Wiederholt wechseln Beats zum Schluss in einen völlig anderen Rhythmus und Klang. Doch nicht nur deswegen klingt «Baobab» so unerwartet.
Mit diesem Album geht Nativ erstmals stimmlich aufs Ganze: In «Noir» nuschelt er fast wie im Mumble-Rap, was im Hip-Hop inzwischen ein eigenes Genre ist. Auffällig oft singt er, statt lediglich zu rappen, wie im souligen «Gaou» oder dem elektropoppigen «Interlude 2». «Sira» ist der Song, den man inzwischen am meisten im Radio hört. Er paart den eingängigen Klang des westafrikanischen Saiteninstruments Kora mit einem optimistischen Beat.
Den grössten Wurf des Albums macht Nativ jedoch mit «Parisienne Vert»: Zum schlaflosen Codein-Beat bricht darin die ganze Zerrissenheit seiner Persönlichkeit auf. Das Smartphone ist auf stumm, und Nativ setzt an zur Selbstläuterung: «Au die schlächte Entscheidige verdiene mi» («Alle diese schlechten Entscheidungen verdienen mich»). Das ist berührend und hallt nach. Hier kehrt einer in sich und denkt an den drängenden Sturm der letzten Jahre: Partys, Drogen, Promiskuität. Trotz aller Ernsthaftigkeit blitzt im letzten Drittel des Songs Nativs Verspieltheit wieder auf. Dann nämlich, wenn die Melancholie in einen trappigen Beat kippt.
Kopfüber wie der Baobab
Neben der Wut als Antrieb hat Nativ eine Botschaft: «Love», wie es in «Interlude 2» mit seinem Kopfnick-Beat heisst. In Richtung Liebe zielt thematisch auch das feinfühlige «Jigeen». Das Lied ist den Frauen seines Umfelds gewidmet. Im Gespräch beteuert Nativ, wie schwierig es war, im machistisch dominierten Rap derart seine Gefühle zu zeigen. Auch er sei Frauen gegenüber ein «Arschloch» gewesen, sagt er. Das kann man aus dem teilweise harten Sexismus alter Songs wie «Höhlälöiläder» heraushören.
«Darum sind diese neuen Lieder wie eine Selbsttherapie für mich», sagt Nativ und gesteht: «Wenn ich heute Bitch sage, komme ich mir dumm vor.» Persönlich sei er immer schon sensibel gewesen. «Aber ich wollte es nicht zugeben, weil man im Rap stark sein muss.» In «Jigeen» überhöht er Frauen als Königinnen. Hoffentlich führt der Weg von der Hure über die typologische Heilige noch weiter.
Maison Baobab heisst der Laden von Nativs Mutter in Biel. Nach ihm ist das aktuelle Album benannt. Um den namensgebenden Affenbrotbaum ranken sich zahlreiche westafrikanische Sagen. So soll der Teufel ihn einst wütend ausgerissen haben, um ihn kopfüber wieder in die Erde zu stecken. Auch in den Songs von «Baobab» stellt Nativ vieles auf den Kopf. Nicht zuletzt die frühere Attitüde. Man mag ihm glauben, wenn er das Album als sein persönlichstes bezeichnet. Nun ist er heimisch bei sich selbst.
Nativ: «Baobab» (HRD Records).
Timo Posselt, 1991 geboren, studierte in Basel und im norwegischen Bergen Deutsch, Gender Studies und Geschichte. Er schreibt als freier Journalist über Pop, Film und Literatur und lebt in Basel. Für die Republik schrieb er bereits über die Hip-Hop-Variante Trap und die Band Element of Crime.