Poesie & Prosa

Das Gedächtnis der Scham

Annie Ernaux: «Erinnerung eines Mädchens»

In Frankreich ist sie ein Star, bei uns wurde sie erst mit ihrem 2017 auf Deutsch erschienenen Bestseller «Die Jahre» entdeckt. Nun hat sich Annie Ernaux nach lebenslangem Zögern in ihr junges Selbst zurückversetzt.

Von Andrea Köhler, 10.12.2018

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«Es war, als sollte die Scham ihn überleben», lautet der letzte Satz von Franz Kafkas Roman «Der Prozess». «Die Scham war unvergänglich», heisst es in Annie Ernaux’ autobiografischer «Erinnerung eines Mädchens», die die heute 78-jährige Schriftstellerin in das Jahr 1958 zurückführt. Damals hat die 18-jährige Annie D. ein Erlebnis gehabt, mit dem sie nie fertiggeworden ist. Ihr Leben lang wird sie um diese blinde Stelle herum schreiben.

Nun hat sie, erklärtermassen aus Angst zu sterben, bevor diese Erinnerungen zu Papier gebracht worden sind, ihr früheres Ich in einem ebenso akribischen wie unerbittlichen Modus eingekreist. Annie E. will wissen, wer diese junge Annie D. war, die seinerzeit das Opfer eines sexuellen Übergriffs wurde, den Vergewaltigung zu nennen sich die Autorin bis heute scheut. Die Scham wird beide, die junge und die alte Frau, überleben.

Beschämung als Erziehungsmethode

Was macht die Scham so zählebig, dass sie die Jahrzehnte ungetrübt übersteht? Dass sie, auch wenn fast ein ganzes erfolgreiches Leben zwischen dem auslösenden Ereignis und der Erinnerung liegt, ungemildert in ihrer ganzen Vernichtungswucht brennt? Die autobiografischen Erkundungen der bei uns erst mit ihrem 2017 übersetzten Bestseller «Die Jahre» bekannt gewordenen Annie Ernaux sind dazu angetan, dem niederschmetternden Gefühl, das seit dem Sündenfall zum Erbgut des Menschen gehört, auf den Grund zu gehen. Genauer gesagt: den weiblichen Grund.

Denn Beschämung als Erziehungsmethode war noch bis in die Zeit, als der Feminismus gegen diese Form der Zurichtung zu protestieren begann, ein probates Mittel, das weibliche Geschlecht im Zaum der Demut zu halten.

«Für Mädchen war die Scham eine ständige Bedrohung. Wie man sich kleidete und schminkte, man war immer ‹zu› irgendwas: zu kurz, zu lang, zu tief ausgeschnitten, zu eng, zu durchsichtig etc. Wie hoch die Absätze waren, mit wem man seine Zeit verbrachte, wann man aus dem Haus ging, wann man zurückkam, ob man rote Flecken im Schlüpfer hatte, man stand unentwegt unter Überwachung der Gesellschaft.»

Dicke Brille und heisses Verlangen

Diese Überwachung glaubt die dem kleinbürgerlichen Elternhaus und der Klosterschule frisch entkommene Annie Duchesne endlich los zu sein, als sie für ihren Job als Betreuerin in einem Ferienlager das Haus zum ersten Mal ohne Begleitung verlassen darf. Der Algerienkrieg und die Präsidentschaft de Gaulles bilden den Hintergrund, Billie Holiday, Dalida oder Jeanne Moreau verkörpern die Sehnsucht der Zeit. Die durch Lektüren und Filme genährte Idee von «der Liebe» und der altersübliche Überschwang bereiten den Boden für Annies erotische Fantasien. «Alles in ihr ist Begehren und Stolz.»

Der Stolz wird gebrochen, als sie dem Chefbetreuer des Feriencamps, «gross, blond, breitschultrig, mit kleinem Bauch», nach einer Party aufs Zimmer folgt. Was dort geschieht, hat die typische Dramaturgie, die seit Harvey Weinstein «Chefbetreuer» diverser Couleur zu Fall gebracht hat. Und auch Annies Selbstbezichtigungsfuror kommt uns nach all den Zeugnissen der #MeToo-Kampagne nicht untypisch vor. Hat sie dem Vorgang mit ihrer Duldungsstarre nicht selbst sekundiert? Hat sie, verwirrt und gelähmt, den Mann, der hier nur unter «H» firmiert, nicht gewähren lassen, als er wieder und wieder brutal in sie einzudringen versucht («Ich bin halt gut bestückt»).

Die Scham wird sie ihr Leben lang martern: War sie, das naive Mädchen vom Lande, Krämerstochter mit dicker Brille und heissem Verlangen, nicht selber schuld?

Ja, Annie D., wie Annie Ernaux ihr junges unverheiratetes Selbst distanzierend nennt, ist im Zimmer geblieben, paralysiert und im Bann der fixen Idee, endlich «die Jungfräulichkeit zu verlieren». Sie ist überzeugt, «dem universellen Gesetz der wilden Männlichkeit» begegnet zu sein.

Stillhalten, ausharren, schweigen – das ist das komplementäre Gesetz der Weiblichkeit, dem die Scham assistiert. Versteht sich, dass diese «Gesetze» der universellen Bigotterie gehorchen. H wird die «Entehrte» vom nächsten Morgen an schneiden.

Am Pranger

Auf die Scham der Erniedrigung folgt der Schmerz der Zurückweisung. «Eine Art Wille zum Unglück» hat von der jungen Frau Besitz ergriffen. Sie wird sich in H verlieben. Wird darauf brennen, ihm wieder nahezukommen, als könne die Scham nur durch eine noch grössere Demütigung ausgelöscht werden. Annie lässt sich mit zwei andern Betreuern ein, um H für sich zu interessieren; der Ruf der «kleinen Nutte» ist ihr fortan gewiss.

Die Verachtung bleibt im Gedächtnis bis in den Wortlaut hinein. «Wo haben wir denn zusammen Schweine gehütet?», weist eine vermeintliche Freundin die verzweifelte Annie zurück. Ein Brief, den abzuschicken sie sich nicht traute, wird unter höhnischem Lachen ans schwarze Brett gehängt. Das Internet, das sich für diese universellste Form der menschlichen Niedertracht als so effektives Medium erweist, gab es noch nicht. Doch die Dynamik des Schikanierens war schon damals dieselbe – ebenso wie die Reaktion darauf. Die Gepeinigten suchen die Schuld bei sich selbst.

Der «Wille zum Unglück» nimmt den Körper der jungen Frau fortan in Geiselhaft. Die «peinliche Lust», alles in sich reinzustopfen, das Fressen und rabiate Fasten, auch Bulimie genannt, ergreift von Annie Besitz. Der Zwang, der verbotenen Lust zu gehorchen, der auf dem Fusse folgende Entzug, um «schlank zu bleiben», wie es die Schönheitsnorm den Frauen diktiert – hat diese ebenso lust- wie qualvolle Obsession nicht etwas pervers Sexuelles?

Ein bisschen ungläubig, ja beinahe staunend schaut die Autorin auf ihr jüngeres Selbst, das sie in unerbittlichen und zugleich tastenden Bewegungen zurückzuholen versucht. Fast gleicht die Haltung der Schreibenden der von Verbrechern, die immer wieder an den Ort der Tat zurückkehren müssen. Anhand alter Fotografien, Tagebücher und Briefe betreibt Ernaux eine Art Dekonstruktion der 18-jährigen Annie D.

An die unscheinbarsten Details legt sie schreibend die Lupe an, in der ausgenüchterten Sprache eines Berichts, der nichts beschönigen will, rückt sie ihr früheres Ich in die Distanz der dritten Person. «Das Mädchen auf dem Foto ist eine Fremde, die mir ihre Erinnerungen hinterlassen hat», heisst es an einer Stelle. Es ist die grosse Kunst der Annie Ernaux, dass sie uns die Erfahrungen dieser Fremden nahebringt, als würden sie gerade geschehen.

Im Lichte von MeToo

Es bleibt natürlich nicht aus, dass die Lektüre des Buches durch die #MeToo-Debatte eine gewisse Signifikanz erhält – selbst wenn es vor dem Erfolg der Bewegung beendet wurde. Und wenn die Verklemmtheit und die Rigidität des Erinnerten auch das Gepräge der Fünfzigerjahre haben – die existenzielle Mischung aus Schmerz, Verlangen und Scham, die die Autorin hier mit der Behutsamkeit und Präzision einer am Herzen operierenden Chirurgin herauspräpariert, ist ohne spezifische Zeitsignatur.

Denn zuletzt ist das Projekt, das die bekennende Bourdieu-Schülerin in all ihren Büchern verfolgt, eine gross angelegte literarische Archäologie der weiblichen conditio humana und ein aufwühlendes Monument der Erinnerungskunst, das die Scham überleben wird.

Zur Autorin

Andrea Köhler ist Schriftstellerin und Journalistin. Von 1995 bis 2017 war sie Mitglied der Feuilleton-Redaktion der NZZ, seit 2001 als Kulturkorrespondentin in New York. Letzte Veröffentlichung: «Scham. Vom Paradies zum Dschungelcamp».

Zum Buch

Annie Ernaux: «Erinnerung eines Mädchens». Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp 2018. 163 S., ca. 30 Franken. Hier gehts zur Leseprobe.

Annie Ernaux im Buchclub der Republik

Am 24. Oktober 2018 fand der erste Buchclub der Republik statt. Diskutiert wurde damals über «Erinnerung eines Mädchens» von Annie Ernaux. Hier können Sie die gesamte Debatte nachlesen.