Das Ende der Sozialdemokratie – ein Nachtrag

Letzte Woche beschäftigte sich Nils Markwardt mit der europaweiten Krise einer linken Volksbewegung. Der Text fand breite Resonanz bei unseren Verlegerinnen – und provozierte Fragen. Auf die wichtigsten geht der Autor noch einmal ein.

Von Nils Markwardt, 26.11.2018

1. Hat nicht die britische Labour Party unter dem Vorsitz Jeremy Corbyns bewiesen, dass die Sozialdemokratie den Turnaround schaffen kann?

In der Tat konnte die Labour Party durch Jeremy Corbyns Bruch mit der Blair-Ära nicht nur einen starken Zulauf an Mitgliedern aufweisen, sondern bei der Unterhauswahl 2017 auch einen Stimmenzuwachs von 9,5 Prozentpunkten verzeichnen. Allein deshalb scheint es zunächst plausibel, den Linksschwenk der britischen Sozialdemokratie als Vorbild für ihre europäischen Schwesterparteien zu sehen.

Es gibt hier jedoch ein grosses Aber: zum einen, weil die innerparteilichen Zerreissproben der Corbyn-Ära vermutlich erst noch bevorstehen, insbesondere mit Blick auf das unklare Verhältnis zur EU und zum Brexit sowie hinsichtlich der antisemitischen Tendenzen in Teilen der Partei.

Zum anderen und vor allem gibt es einen ganz wesentlichen Grund, warum sich Labour nicht einfach mit anderen sozialdemokratischen Parteien vergleichen lässt. Er lautet, kurz gesagt: relatives Mehrheitswahlrecht. Durch dieses unterscheidet sich das politische System Grossbritanniens von demjenigen der meisten anderen europäischen Länder. Im Gegensatz zu Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden (Verhältniswahlrecht), Frankreich (romanisches Mehrheitswahlrecht) oder Italien (minderheitsfreundliches Mehrheitswahlrecht) macht das relative Mehrheitswahlrecht den Aufstieg kleinerer und neuerer Parteien extrem schwierig und führt zu einem De-facto-Zweiparteiensystem. Das wiederum hat zur Folge, dass, ähnlich wie in den USA, der politische Wettbewerb vergleichsweise stärker innerhalb der Parteien als zwischen den Parteien stattfindet.

Vor diesem Hintergrund wird klar, dass sich die britische Sozialdemokratie – im Gegensatz zu vielen ihrer kontinentaleuropäischen Pendants – auch und vor allem deshalb erneuern konnte, weil das spezifische Wahl- und Parteiensystem Grossbritanniens dies ermöglicht. Anders gesagt: Labour befindet sich in der speziellen Situation, dass sie mit keiner anderen linken Partei (ernsthaft) konkurrieren muss – und seit der Implosion der Einthemenpartei Ukip auch mit keiner rechtspopulistischen mehr. Ohne diesen Konkurrenzdruck von aussen konnte sich Labour intern reformieren – und wurde nach dem Ende der Blair-Ära nicht von anderen Parteien abgelöst. Innerhalb eines Mehrparteiensystems und mit Verhältniswahlrecht wäre das wesentlich schwieriger gewesen.

Kurzum: Wenn sich europäische Sozialdemokraten Corbyn zumindest in sozialpolitischer Hinsicht zum Vorbild nähmen, wäre das ein Anfang. Allein daraus den eigenen Turnaround abzuleiten, wird jedoch nicht funktionieren.

2. Kann man unterschiedliche sozialdemokratische Parteien in Europa wirklich in einen Topf werfen?

Dass die Situation sozialdemokratischer Parteien auch durch jeweilig spezifische nationale Faktoren (konkrete Programmatik, politisches Personal, Wahlrecht, politische Kultur, wirtschaftliche Situation usw.) bestimmt ist, steht ausser Frage. Deshalb behauptet mein Essay ja auch nicht, dass es keine nationalen Spezifika gebe.

Andererseits, das behauptet der Text hingegen schon, lassen sich gewisse strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen vielen verschiedenen sozialdemokratischen Parteien in Europa ausmachen: allen voran deren gleichzeitiger Abstieg in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Griechenland oder Italien. Dementsprechend muss es auch länderübergreifende Gründe geben, zumal dieser Abstieg sich in manchen Staaten bereits über Jahre und Jahrzehnte zieht. Ebendiesen Gründen versucht sich mein Essay zu nähern.

Dass die Agenda 2010 dabei ein deutsches Spezifikum ist, stimmt zwar. Dennoch sind die Hartz-Gesetze am Ende auch nur ein besonders deutlicher Ausdruck jener «Neue Mitte»-Orientierung, die sich auch bei anderen sozialdemokratischen Parteien findet. Wenn auch in unterschiedlicher Intensität, vollzog sich bei ihnen ebenfalls das, was man gemeinhin unter dem – zugegeben etwas schwammigen – Begriff der «Neoliberalisierung» fasst: Deregulierung von Finanz- und Arbeitsmärkten, Rückbau des Sozialstaats, Ausweitung des Niedriglohnsektors und so weiter.

3. Warum fällt bei diesem Thema der Name Macron, der doch kein Vorbild für die Sozialdemokratie sein kann? Und wird seine Politik nicht gerade den Aufstieg Marine Le Pens weiter befeuern?

Emmanuel Macron taugt auf politisch-inhaltlicher Ebene sicher nicht als Vorbild für die Sozialdemokratie. Worauf mein Text aber aufmerksam machen möchte: Bei der Wählereinbindung und -aktivierung können sich sozialdemokratische Parteien durchaus etwas von ihm abschauen. Ganz gleich, wie man politisch zu Macron und La République en marche steht – man muss zur Kenntnis nehmen, dass Macron Wähler mobilisiert hat, mittels Inszenierung und auf organisatorischer Ebene. Davon können viele sozialdemokratische Parteien nur träumen.

Freilich kommt hier auch noch jener Aspekt des Politischen hinzu, aus dem Max Weber einst eine ganze Herrschaftsform ableitete: Charisma. Ob Macrons programmatischer Mix aus links- und neoliberalen Elementen am Ende zu einer weiteren Stärkung des Rassemblement national (ehemals: Front national) führt, so wie es etwa der französische Philosoph Didier Eribon vor einiger Zeit prophezeite, lässt sich noch nicht abschliessend beurteilen. Aktuelle französische Umfragen zur Europawahl deuten jedoch klar darauf hin. Anders gesagt: dass Macron das eine richtig macht, bedeutet nicht, dass er nicht anderswo anfällig ist. Die europäischen Sozialdemokraten tun deshalb gut daran, sich inhaltlich klar von La République en marche abzugrenzen – und in der Form dennoch von der Bewegung zu lernen.

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Lesen Sie dazu Nils Markwardts Beitrag «Das Ende der Sozialdemokratie».

Zum Autor

Nils Markwardt, 1986 in Grevesmühlen (Mecklenburg-Vorpommern) geboren, studierte Literatur- und Sozialwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist leitender Redakteur des «Philosophie-Magazins».