Rasterelektronenmikroskop-Aufnahme zeigt eine grosse Menge Bifidobakterien. Durch die ca. 3000-fache Vergrösserung und Kolorierung sehen sie aus wie farbige Stäbchen.
Im Fokus der Forschung: Darmbakterien. Science Photo Library/Keystone

Wer im Darm wohnt, bestimmt unser Schicksal

Die bis zu 100 Billionen Darmbakterien sind entscheidend für die Gesundheit. Ein ETH-Spin-off sucht den optimalen Mikroben-Cocktail. Das wäre ein Durchbruch bei der Therapie von Krankheiten.

Von Anna Julia Schlegel, 19.11.2018

Ein bis zwei Kilo wiegt das Mikrobiom, die Gemeinschaft der Darmbakterien des Menschen. Das entspricht 10 bis 100 Billionen einzelnen Bakterien. Wissenschaftlerinnen haben in den vergangenen Jahren immer mehr Hinweise gefunden, dass schwere Krankheiten mit den Darmbakterien eines Patienten zusammenhängen könnten: von Diabetes bis Leberzirrhose, von Autismus bis Depression.

Die Bakterien sind mehr als nur der Inhalt des Darms, in dem sie wohnen. Die Medizin betrachtet das Mikrobiom mittlerweile als Organ – als abgegrenzte Einheit des menschlichen Organismus, mit lebenswichtigen Funktionen. Manche gehen so weit, darin eine der drei Säulen menschlicher Gesundheit zu sehen, zusammen mit den Genen und dem Immunsystem.

2014 haben Wissenschaftler die Gene aller Darmbakterien von über tausend Europäern, Amerikanerinnen und Chinesen untersucht und dabei rund 13 Millionen Darmbakterien-Gene aufgeschlüsselt, eine ziemlich komplette Sammlung aller möglichen Einzeller im menschlichen Verdauungstrakt.

Was die Mediziner noch lange nicht kennen, ist die ideale Zusammensetzung der Darmbakterien. Jene Mischung, die für optimale Gesundheit sorgt. Denn die Unterschiede von Mensch zu Mensch, von Darm zu Darm sind gewaltig. Gewiss ist bislang nur eines: Je vielfältiger die Bakterien innerhalb eines Darms, desto vorteilhafter. Fehlen gewisse Species, kann das zu allen möglichen negativen Folgen führen – bis hin zu verringerter Überlebenschance bei einigen Krebsarten.

Um das zu erklären, müssen wir kurz ausholen: Bei der Immuntherapie bekommen Krebskranke Antikörper verabreicht. Der Amerikaner James Allison und der Japaner Tasuku Honjo entwickelten die Grundlagen der Therapie – und erhielten dafür dieses Jahr den Medizin-Nobelpreis. Erstmals wurden Antikörper 1975 im Labor hergestellt, was 1984 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Heute sind etwa 80 verschiedene Antikörper als Medikamente zugelassen.

Krebszellen docken an den Fresszellen des Immunsystems an, an deren «Checkpoint». Er ist es, der den Fresszellen dabei hilft, fremde, schädliche Zellen zu erkennen und zu zerstören. Da nun aber die Krebszellen darauf hocken, erkennen die Fresszellen sie nicht als zerstörungswürdig. Bei der Krebsimmuntherapie besetzen die Antikörper nun anstelle der Krebszellen den Checkpoint. Damit sehen die Fresszellen wieder klar, erkennen die Finsterlinge und zerstören sie. Die Therapie entspricht einer Immunantwort. Sie wird aber nicht – wie von der Natur vorgesehen – durch das Immunsystem selbst, sondern medikamentös ausgelöst.

Immuntherapie ist die neueste, schonendste und gezielteste Behandlung gegen einige Krebsarten. Ihr Nachteil: Sie wirkt nur bei 40 Prozent der Patienten. Weshalb sie bei der Mehrheit versagt, dazu haben Wissenschaftler verschiedene Theorien entwickelt. Und eine davon betrifft das Mikrobiom.

So fanden französische Forscher kürzlich heraus, dass bei Patienten mit Lungen- oder Nierenkrebs, die auf Immuntherapie nicht ansprechen, das Bakterium Akkermansia muciniphila im Darm fehlt. Und Wissenschaftler der University of Texas untersuchten die Darmbakterien von Patienten mit schwarzem Hautkrebs. Schlug die Immuntherapie gut an, fanden die Forscher eine Menge des Bakteriums Faecalibacterium, wirkte sie nicht, herrschten Bakterien der Ordnung Bacteroidales vor. Es gibt viele weitere Studien mit ähnlichen Ergebnissen.

Auch wenn die Forschung hier noch einen weiten Weg zu gehen hat – es sind Studien wie diese, die den Beginn einer Präzisionsmedizin mithilfe von Darmbakterien markieren könnten.

Ein Schweizer ETH-Start-up mit Namen Pharmabiome arbeitet aktuell daran, ein künstliches Standard-Mikrobiom herzustellen – also einen Darm-Cocktail, der alle wichtigen Bakterienstämme enthält und Forscher davon entbindet, echten Kot verpflanzen zu müssen. Kein leichter Job: Denn eine der grossen Herausforderungen von Firmenchef Tomas de Wouters und seines Teams ist, dass die allermeisten Darmbakterien an der Luft nicht überleben. «Mikrobiologen konnten deswegen bisher nur einen Bruchteil aller Darmbakterien isolieren und studieren», sagt Wouters.

Zwar weiss man dank der Gendatensammlung bereits, wieviele und welche Darmbakterien es insgesamt gibt. Einzelne lebende Darmbakterien zu isolieren, zu vermehren und experimentell zu untersuchen, bleibt aber schwierig. Die paar Bakterienarten, die man seit den 1960er-Jahren kennt, die in der Käse- und Joghurtherstellung verwendet und als Nahrungsergänzungsmittel auf dem Markt sind, gehören zu den 1 Prozent der Darmbakterien, die etwas Sauerstoff vertragen – für alle anderen gilt das nicht.

Das Team von Pharmabiome glaubt dennoch an ihr zukünftiges Produkt. Eine Art minimales künstliches Mikrobiom haben sie bereits patentieren lassen. Klappt es mit der Weiterentwicklung, steigt die Hoffnung von Patientinnen auf eine Therapie mit Darmbakterien – ohne echten Kot.

Zur Autorin

Anna Julia Schlegel ist Fachjournalistin. Sie hat interdisziplinäre Naturwissenschaften an der ETH studiert und in Organischer Chemie promoviert. Für die Republik verfasste sie «Der Mann an der Sonne».