Aus einem Hund wird kein Speck
Dunkelkammer, Teil II: In ihrer Zürcher Poetikvorlesung spricht Melinda Nadj Abonji diesmal über das Verhältnis von Sprache und Gewalt – und darüber, weshalb wir die Verpflichtung haben, genau hinzuhören.
Von Melinda Nadj Abonji, 16.11.2018
Vielleicht macht nicht irgendeine Begabung den Menschen zum Schriftsteller, sondern die Tatsache, dass er die Sprache und die fertigen Begriffe nicht akzeptiert.
Vielleicht stimmt es, dass «im Anfang das Wort war». Welches Wort war im Anfang, ich wüsste es gern. War es wirklich ein ganzes Wort oder nur ein Laut? Eine Silbe? Ein Hauch? Oder ein Schrei? Ich wüsste es gern, weil ich Anfänge mag, dramatische Eröffnungen wie «Im Anfang war das Wort». Aber bereits der Folgesatz des Johannesevangeliums lässt keine Spekulationen oder Fragen zu: «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.» Kein konkretes Wort also, sondern ein Gleichnis; das Wort ist nicht nur bei Gott, in der unmittelbaren Nähe Gottes, gottähnlich, nein, das Wort ist Gott. Damit ist alles gesagt, abgeschlossen, verriegelt, und der nächste Satz vollzieht den rhetorischen Zirkel: «Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.»
Ich kehre nochmals und lieber zum Anfang zurück; die ersten fünf Worte bleiben brisant, auch wenn ich der Trinität von Gott/Wort/Anfang keinen Glauben schenke. Beginnt die Genesis mit den Worten «Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde», spricht Johannes von der elementaren, schöpferischen Kraft des Wortes – und ja, daran glaube ich, daran habe ich schon geglaubt, als ich angefangen habe zu lesen, dass die Welt durch die Wörter existiert – ohne Sprache wäre die Wirklichkeit nicht das, was wir Wirklichkeit nennen. Ausserdem zeigt der Evangelist Johannes eindrücklich und prägnant, dass Sprache nicht neutral ist. Seine Wörter sind jene eines Gläubigen, seine Sätze errichten die Welt, für die er lebt, und deshalb ist es folgerichtig, dass Johannes’ Quintessenz ein Gleichnis ist: «(...) und das Wort war Gott.»
Der britische Philosoph John Langshaw Austin hat knappe zweitausend Jahre später mit seiner Sprechakttheorie Furore gemacht. «How to do things with words». Diesen Titel von Austin habe ich seit meiner Uni-Zeit nicht vergessen und war deshalb nur im ersten Moment überrascht, dass ich den Beginn des Johannesevangeliums mit Austin verbunden habe; die Erzählung des Johannes wie auch die Genesis sind durch die Sprechakttheorie neu verstehbar, gerade unter dem Aspekt der performative sentences – Sätze, die nicht einfach etwas sagen, sondern durch die eine Handlung ausgeführt wird: «Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht.» In der Genesis begründet Gott die Welt der Dinge und Geschöpfe, indem er sie im Sprechen erschafft; bei Johannes beginnt alles im Wort, ein entscheidender Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament.
Und heute? Je lärmiger die Welt wird, desto weniger scheint klar zu sein, was wir mit den Wörtern tun – und was sie mit uns tun. Genau deshalb ist Austin immer noch revolutionär. Es dauert sehr lange, bis etwas, was revolutionär ist, von allen oder wenigstens von vielen begriffen wird. How to do things with words. Dinge tun mit Wörtern – wir tun es, und das ist so revolutionär wie alltäglich. Wir vollziehen Handlungen mit Wörtern; wenn das einer breiten Öffentlichkeit klar wäre, würde die Welt anders aussehen, behaupte ich.
«Bi oi isch es so schön eifach.» Diesen Satz pflegte eine steinreiche Frau zu sagen, Frau T., wenn sie gerade wieder einmal Lust dazu hatte, meine Eltern, mich und meine Geschwister zu besuchen, und sie setzte sich unaufgefordert hin, hatte alle Zeit der Welt und sagte dann den Satz, mit einem Seufzer begleitet: «Bi oi isch es so schön eifach.»
«Bi oi», bei euch – ich habe nie erfahren, wer genau damit gemeint war: meine Eltern, die während Jahren für Frau T. gebügelt hatten und die sie rührselig-zärtlich beim Vornamen nannte? Oder unsere ganze Familie, plus Sofa, Wohnwand, TV, inklusive Weisswein, den Frau T. in grosszügigen Schlucken trank? Mit Sicherheit aber war der zweite Teil des Satzes «so schön eifach» komplexer und dafür verantwortlich, dass meine Eltern zu uns Kindern sagten: Seht ihr, Geld allein macht nicht glücklich, und: Die Reichen haben auch Probleme! Ja, wir hatten uns davon überzeugen können, dass die Reichen auch Probleme haben, Frau T., die so lange in dieser schönen Einfachheit sitzen geblieben war, bis sie nicht mehr aufstehen, nur noch lallen konnte und mein Vater sie schliesslich nach Hause fahren musste.
Damals war ich fünfzehn und hatte keine Ahnung von Austin, woher auch? Aber ich erinnere mich an dieses merkwürdige Gefühl, den dieser eine Satz hinterliess: Bei uns war es also schön und einfach, und ich hatte das vergessen oder nicht gebührend gewürdigt; meine Eltern waren dauernd am Arbeiten, für eine bessere Zukunft, aber Frau T. gab uns zu verstehen, dass wir jetzt schon, im Vergleich zu ihr, sehr glücklich waren, obwohl wir, im Vergleich zu ihr, arm waren; und weil wir glücklich waren und Frau T. unglücklich, mussten wir Mitleid haben mit ihr. Wir waren also, und das war das Allermerkwürdigste, an jenen Abenden, wenn mein Vater Frau T. nach Hause gefahren hatte, tatsächlich irgendwie glücklich oder glücklicher als sonst. Denn jetzt konnten wir sagen: arme Frau T. Hatte sie überhaupt eine Ahnung, was sie mit ihrem Satz tat?
Heute würde ich sagen, dass Frau T. es genau wusste, sie wusste um die unmittelbare Folge ihres Kompliments: Sie verwandelte unsere masslose Bewunderung und nicht eingestandene Wut auf die Reichen in Mitleid, sie öffnete uns die Augen für unsere eigene Ignoranz, dass wir es doch gut hatten, und wir hatten sie, Frau T., dafür gebraucht, um dies zu erkennen.
Sprache ist die Inkarnation der normativen Ordnung; mittels Sprache wird die normative Ordnung konserviert und weitergegeben.
Wir wachsen mit der (unbewussten) Annahme auf, dass es ein Territorium namens Sprache gibt, das es zu beherrschen gilt, ein System, das wir irgendwann besitzen und dass dieser Besitz uns legitimiert, ihn zu instrumentalisieren, ihn mehr oder weniger geschickt zu nutzen; eine Sprache (in der Schule) lernen heisst lesen lernen, fliessend Buchstaben aneinanderfügen, Regeln büffeln, sich ins Mysterienspiel der Grammatik zu schicken, im Aufsatzschreiben darauf zu achten, niemals zwei gleiche Wörter hintereinander zu verwenden, kreativ zu sein, ein Wort wie «Fahrrad» durch «Drahtesel» zu ersetzen, Wörter wie «haben» zu vermeiden etc.
Ich habe nichts gegen die Adverbiale, nichts gegen die consecutio temporum, ich bin vom Nutzen der Grammatik überzeugt – aber warum um Himmels Willen wird uns beigebracht, dass wir Sprache haben, dass wir möglichst viel lernen sollen, damit wir mehr Sprache haben? Warum wird uns nicht beigebracht, von Anfang an, dass wir etwas mit Sprache tun und die Sprache auch etwas mit uns tut? Und vor allem: dass wir eine Sprache lernen, die nicht einfach ist, sondern geworden ist? (Wir haben Sprache nicht, sondern sind Sprache.)
Frau T. hat mir Austin beigebracht, lange bevor ich von Austin wusste. Mit ihrem Satz «Bi oi isch es so schön eifach» wurde mir wahrscheinlich zum ersten Mal klar, dass in einer Sprache viele verschiedene Sprachen existieren und dass Wörter eine Handlung sind, die unmittelbare und längerfristige Folgen haben.
Fehlender Abstand
Mariella Mehrs Trilogie der Gewalt (deren geistiger Vater Michel Foucault ist) war lange nicht mehr erhältlich, ist nun aber glücklicherweise im Limmat Verlag wiederaufgelegt worden. «Daskind» – so heisst der erste Roman der Trilogie. Daskind in einem Wort:
Hat keinen Namen, Daskind. Wird Daskind genannt. Oder Kleinerbub, obwohl es ein Mädchen ist. Wenn den Frauen im Dorf danach zumute ist, wird es Kleinerbub genannt, oder Kleinerfratz, zärtlich. Auch Frecherfratz, wenn Daskind Bedürfnisse hat, oder Saumädchen, Hürchen, Dreckigerbalg.
So fängt der Roman an, mit einem namenlosen Kind. Das Subjekt ist nur von seiner grammatischen Form her ein Subjekt und steht am Schluss des ersten Satzes: Daskind, ohnehin schon doppelt sächlich – als Kind und Mädchen – wird durch die zusammengezogene Schreibweise ein weiteres Mal versächlicht, das heisst zum Ding, also entmenschlicht. Und ein Ding kann eben mal «Daskind» oder «Kleinerbub» oder «Kleinerfratz» heissen, wie es den Frauen im Dorf gerade passt, «Hürchen» oder «Saumädchen» – nur folgerichtig, dass auch die Bezeichnungen für das Kind, die ein Adjektiv und ein Nomen beinhalten, in einem Wort geschrieben sind.
Durch den fehlenden Leerschlag zwischen den Wörtern wird vom ersten Moment an und mit ungeheurer Prägnanz erzählt, wie die Gewalt gegenüber dem Mädchen da ist, eine Gewalt, die in der Sprache beginnt und von der ganzen dörflichen Gemeinschaft einvernehmlich mitgetragen wird: Ein ganz normaler, kollektiver Wahn rückt dem Mädchen zu Leibe, vergreift sich an ihr, ausnahmslos und respektlos. Es wäre «zu aufwendig, zu umständlich, sich des Namens des Kindes zu erinnern», heisst es ein paar Zeilen weiter.
Dadurch, dass das Kind keinen Namen hat, wird die dem Kind zugefügte Gewalt ebenso namenlos, indem sie zum alltäglichen Verhalten normalisiert und damit inexistent gemacht wird; daraus folgt wiederum, dass das namenlose Mädchen nicht einmal Opfer sein kann. Würde die «Gemeinschaft» Daskind als Opfer anerkennen, gäbe es ein Bewusstsein, dass ein Verbrechen geschieht. Doch die Gemeinschaft ist taub, bewusstseinslos, durchdrungen von Gewalt, die aber nicht nur dem Kind zugefügt wird. Grausam und logisch ist der Satz des Mädchens: «Wenn wir gross sind, werden wir einen von ihnen töten.» Bis an die Schmerzgrenze verstörend ist, dass alle – das Dorf, die Pflegeeltern, das Kind – nur durch die psychischen und physischen Übergriffe lebendig zu sein scheinen. Ansonsten ist nichts, nur Leere und Starre, Rollen, die der Herr Pfarrer, der Coiffeur, die Nonnen, Pflegemutter und Pflegevater etc. einnehmen.
Die Schreibweise ohne Leerschlag kommt auch hier zum Zug, aber in einem anderen Sinn, als Inbegriff für die emotionslose, rein funktionale Beziehung des Kindes zu den Erwachsenen: Herrpfarrer, Derpensionist, Diefrau, Dermann (Letztere für die Pflegeeltern des Kindes).
Wer erzählt? Eine distanzierte Erzählfigur, die in harten, knappen Sätzen das Geschehen sezierend freilegt, die Sprache des Kollektivs hörbar macht, den hämischen Chor der normalen Unmenschlichkeit – und sie schaut dem namenlosen Kind über die Schulter, wie es selbst zu dem wird, was ihm angetan worden ist; eine Stimme, die sich in ihrer Härte und Genauigkeit über die Grenze des Sagbaren bewegt und gleichzeitig mit jedem Satz zu verstummen droht.
Keine Dichterin hat Gewalt so genau erforscht wie Mariella Mehr. Ihr Schreiben ist voller Bezüge zur Welt der griechischen Mythologie und zu Figuren, Motiven und Sätzen aus der Bibel; die Kulturgeschichte der Gewalt reicht weit, auch in die Schweiz, die für alles andere zuständig zu sein scheint, für Humanität, Demokratie, Völkerverständigung, Idylle. Die andere Schweiz, es gibt sie, und Mariella Mehr holt das Verborgene und willentlich Verschüttete ans Licht (beispielsweise die «Aktion Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute); sie beleuchtet damit nicht, wie so oft behauptet wird, die Ränder der Gesellschaft, sondern im Gegenteil: Sie leuchtet mitten ins Herz der Dominanzgesellschaft. Ihre Sprache bildet «Wirklichkeit» nicht ab, sie tut viel mehr; sie lässt die Wirklichkeit der Gewalt durch Sprache entstehen und ermöglicht mit dieser Sprachbewegung eine sehr schmerzhafte Einsicht: Im Anfang war die Gewalt und die Gewalt war Sprache – jeder Satz ist ein Urteil oder wird zum Urteil.
Diese Klarsicht der Schriftstellerin Mariella Mehr, ihr unermüdliches Bohren, wie sich die Herrschaft immer aufs Neue formiert, bleibt nicht ungestraft. Weil sie die Mitte trifft, da, wo es weh tut, wird sie selbst (mit ihrem Schreiben) an den Rand (des Literaturbetriebs) gedrängt; ein gängiges Mittel dazu ist die Reduktion ihrer Literatur auf ihre Biografie.
Nein, die Sprache ist nicht neutral, nicht transparent und nicht objektiv. Every sentence is a sentence.
Sprichwörter, Redewendungen
Vor zehn Jahren habe ich eine kurze Erzählung mit dem Titel «Aus einem Hund wird kein Speck» geschrieben. Die Bedeutung des Titels wird erst im letzten Teil der Erzählung klar, was eine bewusste Entscheidung war; weshalb, erkläre ich später. Zunächst die Frage:
Woran denken Sie, wenn Sie den Satz «Aus einem Hund wird kein Speck» hören?
Wie klingt er in Ihren Ohren? Witzig? Grotesk? Oder makaber? Haben Sie ein Bild vor Augen?
Der Satz ist eine Übertragung aus dem Ungarischen: kutyából nem lesz szalonna, und bedeutet, ein Taugenichts bleibt ein Taugenichts – und die sprichwörtliche Wendung trifft im Ungarischen genauso hart wie im Deutschen, vielleicht sogar noch härter.
Während des Schreibens des Textes wurde mir klar, wie einschneidend Sprichwörter sind. Einprägsam in ihrer Form, oft bestückt mit Stab- oder Endreim – überlieferte Lebensweisheiten, so definiert sie der Wahrig.
Mir fallen, so muss ich gestehen, nur (deutsche) Sprichwörter ein, die ich nicht mag und die ich nicht als Lebensweisheiten bezeichnen würde: Eine Hand wäscht die andere. Lügen haben kurze Beine. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Unkraut vergeht nicht. Oder eben: Ein Taugenichts bleibt ein Taugenichts.
Sprichwörter missfallen mir, weil sie geronnene Sprache sind, weil sie sich so freimütig zum Gebrauch anbieten, eben als ewig gültige, ahistorische Weisheiten. Aber nein, meine Formulierung ist falsch und trifft genau deshalb den Kern: Nicht die Sprichwörter missfallen mir, sondern das Bedürfnis des Menschen, Sprichwörter zu benutzen, um dem eigenen (Sprach)Handeln den Anstrich einer allgemeingültigen Ordnung zu geben; der Gebrauch jedes Sprichwortes dient aber einem konkreten Interesse, einem Ziel, einer Absicht, die durch die einprägsam-formelhafte Wendung den Anschein erweckt, als sei sie wertfrei und Ausdruck einer klugen, kollektiven Welterfahrung.
Als ich nun «Aus einem Hund wird kein Speck» geschrieben habe, wurde mir während des Schreibens bewusst, dass die Übertragung von sprichwörtlichen Wendungen vom Ungarischen ins Deutsche eine Möglichkeit ist, deren Problematik aufzuzeigen; wenn also ein wohlklingender, witziger Satz, dessen Bedeutung vorerst unklar ist, sich im Verlauf der Erzählung unerwartet als Sprichwort entpuppt, das benutzt wird, um eine Figur, in diesem Fall die Hauptfigur, zu diskreditieren, ist zumindest die Möglichkeit gegeben, dass man auf die formelhafte Verknappung der sprichwörtlichen Wendung aufmerksam wird und deren Bedeutung hinterfragt.
Ein nicht vertrauter Satz ist so eine Art Lockvogel: Das Nichtverstehen, Vermuten kann die Aufmerksamkeit erhöhen und hellhörig machen für die Automatismen und Fallen der eigenen Sprache.
Die Hauptfigur in «Schildkrötensoldat», Zoltán Kertész, wird auch als Taugenichts beschimpft, als Idiot, Lump, Bastard. Sein Lehrmeister prügelt ihn, sodass Zoltán in der Backstube ohnmächtig wird. Als er wieder bei Bewusstsein ist, sein Vater ihn frühmorgens von der Arbeit abholt, sagt der Lehrmeister lachend zu Zoltán: «Morgenstund hat Gold im Mund.»
Das vom Lehrmeister zitierte Sprichwort trägt eine doppelte Botschaft: Der frühe Morgen ist die produktive Zeit der Fleissigen – das ist für die Ohren von Zoltáns Vater bestimmt; Zoltán hingegen soll die verhüllte Botschaft des Sprichwortes hören, die er auch sofort versteht, nämlich die Drohung, seinem Vater nichts von den Schlägen zu erzählen; Zoltáns Vorgesetzter bedient sich des Sprichwortes, an seinem Mund hängt die Drohung, die Zoltán den Mund stopft.
Das, was nicht akzeptabel ist, macht der Lehrmeister mit der Verwendung des Sprichwortes akzeptabel, und zwar, indem er auf eine Formulierung zurückgreift, die alle kennen und deren Bedeutung (vermeintlich) alle verstehen und akzeptieren.
Im Essayband «In der Falle» hat Herta Müller Folgendes über Redewendungen und Sprichwörter geschrieben:
Im Deutschen haben sie [die Redewendungen und Sprichwörter] die Steigerung ins Töten begleitet. Vielleicht sollte man in jeder Sprache, und besonders in der deutschen, ohne diese Treffer auskommen und Worte finden, die im eigenen Mund entstehen.
Umkehrungen
Der Schriftsteller und Philosoph Sreten Ugričić hat mich auf ein rhetorisches Verfahren aufmerksam gemacht, die Paradiastole, die (gegenwärtig) in politischen Reden und dementsprechend auch in der medialen Vermittlung und Verbreitung anzutreffen ist.
Die Paradiastole bedeutet eine Sprachhandlung, die mittels Euphemismus eine negative Charakteristik in eine positive umwandelt. Oder umgekehrt, mittels Dysphemismus eine positive Charakteristik in eine negative umändert: Heuchelei wird zu Schlauheit, Schamlosigkeit zu Schneid, wütend wird zu mutig; ein Freiheitskämpfer wird zu einem Terroristen, eine Flüchtlingshelferin zu einer humanitätsduseligen Verbrecherin. Ein Laster wird in eine Tugend umgewandelt und vice versa.
Das ist laut Ugričić deshalb brisant, weil die Paradiastole einen normativen Wechsel herbeiführt; durch die Paradiastole ändern sich die Erwartungen und Überzeugungen eines Menschen: Was moralisch war, wird amoralisch. Was legal war, wird illegal. Oder umgekehrt.
Sie erinnern sich vermutlich an den Sommer 2015, als Angela Merkel den viel zitierten Satz «Wir schaffen das» prägte und «Welcome Refugees» in aller Munde war. Innerhalb von schwindelerregend kurzer Zeit waren die Geflüchteten nicht mehr willkommen – sondern suspekt; der «willkommene Flüchtling» wurde zum «illegalen Migranten» umdefiniert; die Geflüchteten, die Schutz suchen, wurden – und werden immer noch – mit Gesetzesbrechern gleichgesetzt, mit Terroristen oder Kriminellen.
Diese Umdeutungen vollziehen sich über die Sprache, das kann gar nicht genügend betont werden, und darauf folgen die Änderungen auf institutioneller Ebene: Gesetze werden verschärft. In Ungarn können Flüchtlingshelferinnen und -helfer derzeit verhaftet werden (die mittlerweile europaweit als «Gutmenschen» oder, wie bereits erwähnt, als «humanitätsduselige Verbrecher» beschimpft werden); die Regierungen sprechen jetzt statt von «Flüchtlingshilfe» von «notwendiger Grenzsicherung».
In der Schweiz geschah diese Umwandlung schon viel früher, und die Schweizerische Volkspartei gab, wie so oft, den Ton an, die anderen Parteien folgten bei Fuss. Die Umwandlung vollzog sich über die Paradiastole von «Asylsuchenden» (Personen, die einen Antrag auf Anerkennung als politische Verfolgte stellen) zu «Scheinasylanten» («Asylanten» war der Zwischenschritt). Damit wird zweierlei evoziert, nämlich, dass die Suche nach Schutz nicht echt, also nur vorgespielt ist, und zweitens, dass es nicht um Asyl, sondern um ein anderes, heimliches und unredliches Begehren geht.
Seit 1981 das Asylgesetz in der Schweiz in Kraft trat, wurde es in etwas über dreissig Jahren annähernd vierzigmal in kleinerem und grösserem Umfang ergänzt und teilrevidiert und 1998 vollständig überarbeitet, wie Jonathan Pärli in «Die Welt ist unser Boot» schreibt. In den allermeisten Fällen fielen die Änderungen zuungunsten der Asylsuchenden aus. So können seit der Asylgesetzrevision im Jahre 2006 Menschen, deren Asylgesuch abgelehnt worden ist, jederzeit verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden, weil sie sich, laut Gesetz, «illegal» in der Schweiz aufhalten (Art. 115, «rechtswidriger Aufenthalt und rechtswidrige Einreise»). Eine kantonale Behörde kann einem «illegal anwesenden Ausländer» ausserdem die Auflage machen, «ein ihm zugewiesenes Gebiet nicht zu verlassen oder ein bestimmtes Gebiet nicht zu betreten». Eklatante Widersprüche zu den in der Verfassung festgeschriebenen Menschenrechten.
«Scheinbevölkerung»
In einer seiner Performances referiert der Dichter und Sänger Jurczok 1001 über die «Scheinbevölkerung»; seine Stimme etabliert einen eigentümlichen Singsang, wird laut, dann wieder verschwörerisch leise, kippt in ein nasales, amüsiertes Lachen, und die Finger, sie sind immer zur Stelle, um alles zu takten. Eine verschwenderische, opulente Rhetorik, die die Aufmerksamkeit des Publikums zerstreut, es nahezu unmöglich macht zu verstehen, wovon hier eigentlich die Rede ist:
Wir haben es ja, wenn wir ehrlich sind, mit einer Scheinbevölkerung zu tun, das ist Ihnen womöglich gar nicht bewusst, aber das ist schon lange nicht mehr die Bevölkerung, was Sie hier sehen, nein, in der Schweiz sind wir in dieser Beziehung viel zu leichtgläubig, natürlich sieht das nach einer Bevölkerung aus, das Menschenmögliche wird dafür ja auch auf die Beine gestellt (...).
Ja, wovon ist hier die Rede? Die hergestellten Bezüge sind bizarr, die semantischen Ungereimtheiten und Unschärfen so eklatant, dass ich eigentlich schreien oder die Ohren zuhalten und spätestens dann gehen müsste, als sich nach einer langen Pause die diabolischen Verdrehungen im folgenden Satz entladen:
Wenn eine Bevölkerung sich so weit vom Volk entfernt hat, dass sie nicht mehr weiss, wer das Volk ist, dann ist sie eben eine Scheinbevölkerung.
Warum ich gehen oder meinen Protest hörbar machen müsste? Weil die Performance keine Persiflage ist (die sich damit begnügt, das Publikum von einer Pointe zur nächsten zu unterhalten); die politische Rede der Demagogen ist vielmehr in Echtzeit hörbar und körperlich spürbar. Aus dem Dschungel einer perfiden Logik des Unlogischen wird der Begriff «Scheinbevölkerung» herausgehauen, um schliesslich eine unverblümt nazistische Konsequenz einzufordern: «Wer Scheinbevölkerung sagt, muss auch Blutbürger sagen.»
Die Performance ist somit ein Aufruf, mit klarem Kopf die Reden der gegenwärtigen Demagogen zu analysieren, deren Schnittmengen mit dem historischen Nazismus zu untersuchen. Die Manipulation der Gefühle und Instinkte als politische Methode ist eine der zahlreichen Überschneidungen. Eine weitere ist die ständige Implementierung, die nationale Identität sei wichtiger, elementarer als diejenige des Menschseins.
Politischer Aktivismus
Immer wieder stelle ich erstaunt fest, dass Schriftstellerinnen und Schriftsteller sich selbst als «apolitisch» bezeichnen, also behaupten, sie wollten nichts als schreiben und mit ihren Texten nichts bezwecken. Diese so genannt apolitische Haltung will glauben machen, dass es möglich und wünschenswert sei, ausserhalb eines gesellschaftspolitischen Systems zu stehen.
Ist das Bekenntnis zu einer apolitischen Kunst nicht ein beredtes Zeugnis, dass der eminent politische Imperativ längst wirksam geworden ist, Kunst solle in einer vom Leben ausgeklammerten Sphäre der Abgeschiedenheit entstehen und dann (wenn überhaupt) tröstend, kathartisch wirken? Oder vielleicht ist das Stichwort «apolitisch» der etwas unbeholfene Versuch, ein gefälliges Schreiben zu legitimieren, das nichts anderes wollen kann, als in einem immer aggressiveren, neoliberalen Markt der Verantwortungslosigkeit zu «funktionieren»?
Ja, Literatur (Kunst) muss zweckfrei sein, hat niemandem zu dienen und lässt sich nicht dirigieren. Literatur «reagiert» nicht auf irgendwelche Forderungen; die punktuelle Gegenwart wird im poetischen Verfahren zur Dauer, zu einem temporalen Gewebe von Bezügen und Ähnlichkeiten. Und, wie bereits gesagt: Literatur stellt unhinterfragte gesellschaftliche Annahmen infrage, die Fundamente der normativen Ordnung. Nichts kann politischer sein, auch der politische Aktivismus nicht, der stets ein bestimmtes Ziel hat und immer auf die Gegenwart reagiert.
In den letzten Jahren habe ich mich immer wieder in Zeitungen zu Wort gemeldet, auf Podien, in Schulen, weil es mir notwendig erschien, mich als Bürgerin dieses Landes zu Wort zu melden. Das ist politischer Aktivismus – und keine Kunst. Schwierig ist dies (nur) deshalb, weil das journalistische Schreiben, das Reagieren auf Gegenwart eine andere Sprache erfordert, die an der Formulierbarkeit festhält und somit am Status quo, am ausgesprochen konservativen Charakter der Sprache; eine Sprache, die unabhängig von mir bereits existiert und mir eine Denkweise aufzwingt, die ich im Grunde wieder bekämpfen muss.
Nur bis zu einem gewissen Grad kann ich mich also in dieser berichtenden Sprache bewegen. Umso dringender ist es, einzelne Wörter zu reflektieren, immer wieder darauf aufmerksam zu machen, was wir mit den Wörtern tun, was ich mit ihnen tue, und der scheinbar journalistischen Objektivität meine Subjektivität entgegenzusetzen. Ausserdem finden sich in meinen Artikeln oft Reanimationsversuche von Wörtern, die im Verschwinden begriffen oder bereits verschwunden sind. Ein Ausschnitt aus einem Artikel zu «Flucht», den ich letztes Jahr für die Wochenzeitung (WOZ) geschrieben habe:
Flucht. Ich denke an Fluch, obwohl das etymologisch nicht haltbar ist. Ich denke an Fluch und Flucht. An die Vertriebenen, die man Flüchtlinge nennt. Wie Feiglinge, Emporkömmlinge, Fremdlinge, Schädlinge. Oder Winzlinge, Säuglinge, Lehrlinge. Negativ konnotierte oder schutzlos-passiv konnotierte Wörter. Ein -ling scheint kein Mensch, zumindest kein ganzer Mensch zu sein. Ich finde das Wort «flüchtigen», im grimmschen Wörterbuch. «Flüchtigen» heisst in fugam vertere, jemanden in die Flucht schlagen. Warum, frage ich mich, ist dieses Wort verschwunden? Es würde uns anders denken lernen, es würde uns zwingen, auch an jene zu denken, die die Menschen in die Flucht schlagen, Angst und Schrecken verbreiten, die «Fluchtbereiter» – auch dieses Wort existiert nicht mehr. Flüchten. Gewaltsam an der Fortführung des alltäglichen Lebens gehindert zu werden, schwerwiegende Entscheidungen treffen zu müssen.
Feindessprache
Agota Kristof, die 1956 mit einundzwanzig Jahren in die Schweiz flüchten musste, mit ihrem Mann und ihrer viermonatigen Tochter, hat über den Verlust ihrer Sprache geschrieben, das Ungarische, und wie sie ein Leben lang darum gekämpft hat, das Französische zu lernen. Sie bezeichnete das Französische als «Feindessprache», weil «diese Sprache allmählich meine Muttersprache tötet», so Kristof; sie hatte bereits als Mädchen geschrieben und schon als Jugendliche Gedichte auf Ungarisch veröffentlicht.
Als ich diesen Satz in «Die Analphabetin» gelesen hatte, war ich unangenehm berührt; der martialische Ausdruck «Feindessprache» erinnerte mich daran, dass ich lange Zeit, ganz im Gegensatz zu Agota Kristof, von einer starken und euphorischen Verbundenheit mit der deutschen Sprache erfüllt gewesen war – «Glücksdeutsch» hatte ich meine zweite Sprache genannt, da ich mit ihr die Welt des Lesens entdeckt hatte. Dieses innige Sprachglück wurde aber während meines Geschichtsstudiums sehr grundsätzlich erschüttert, als ich in die Quellen der nationalsozialistischen Propaganda vor und während des Zweiten Weltkriegs eintauchte. Die Analyse des Totalitarismus, der faschistischen Meinungslenkung brachte mich zur Einsicht, dass die deutsche Sprache – die Sprache von Heinrich von Kleist, Johann Gottfried Herder, Adalbert Stifter, Franz Kafka, Käthe Kollwitz, Else Lasker-Schüler, Marieluise Fleisser und vielen anderen – nie mehr dieselbe sein würde wie vor der nationalsozialistischen Machtergreifung.
Ich wurde auf eine grundsätzliche, schmerzliche Art hellhörig auf die Hinterhalte der deutschen Sprache, was auch Auswirkungen auf alle anderen Sprachen hatte, die mir vertraut sind.
Die totalitäre Sprache hatte den Genozid vorbereitet; die ideologischen Vollstrecker versprachen der als überlegen dargestellten «arischen Volksgemeinschaft» ein besseres Leben und propagierten in aller Offenheit und von allem Anfang an die brutale Ausgrenzung von Menschen aus der «Gemeinschaft», die als «unwert» diffamiert wurden. Nationalsozialistische Propaganda war also – was den Genozid betrifft – keine Verschleierung, keine Beschönigung, keine Andeutung, sondern im Gegenteil ein immer aggressiveres Aussprechen und Versprechen: Auf die Worte würden Taten folgen.
Diese Einsicht erschütterte meine Gedanken- und Gefühlswelt bis zur Unerträglichkeit, und das Leben setzte sich nicht einfach fort, es stockte.
Imre Kertész schrieb in «Die exilierte Sprache»:
Ich glaube, es ist eines der schwerwiegendsten und vielleicht noch gar nicht recht ausgeloteten Ereignisse unseres Jahrhunderts, dass es die Sprache mit der Seuche der Ideologien angesteckt und damit enorm gefährlich gemacht hat. In seinen «Vermischten Bemerkungen» sagt Wittgenstein, dass man «manchmal einen Ausdruck aus der Sprache herausziehen, ihn zum Reinigen geben» muss, bevor man ihn wieder in den Gebrauch nimmt. Und auch Paul Celan stellte, als er den Bremer Literaturpreis entgegennahm, den Untergang der Sprache fest: «Sie musste hindurchgehen ... durch die tausend Finsternisse todbringender Reden. (...) Bei alledem geht es darum, dass die Begriffe nicht mehr in der Weise gültig sind, in der wir sie früher verwandten.»
Heimat
Seit 2010 wurde ich in fast jedem Interview gefragt, was mir «Heimat» bedeutet. Ich versuchte möglichst genau zu antworten, höflich zu bleiben, obwohl mir die Frage nicht nur zum Hals, sondern auch zu den Ohren heraushing. Heimat ist kleinräumig, hat nichts mit Nation zu tun, sondern mit einem bestimmten Singsang, Stimmen von geliebten Menschen und Tieren, mit Gerüchen, Liedern – so habe ich geantwortet, mich abgearbeitet an diesem Begriff, der wieder in aller Munde war, relevant und auch schmackhaft zu sein schien; ich stellte die Frage nach der Heimat also nicht infrage, sondern schickte sie mit meinen Antworten auf weitere Umlaufbahnen – bis ich endlich merkte, dass ich durch die Hervorhebung des Kleinräumigen, Sinnlichen der negativen Schubkraft des Begriffs nicht beikommen konnte: Ich hörte und höre «Heimat» immer noch als grössenwahnsinnigen Kampfbegriff der nationalsozialistischen Vernichtungsideologie; die schmetternden Nackenstimmen der NS-Ideologen riefen «Heim ins Reich!», was die brutale Vertreibung von Millionen von Menschen bedeutete; «Heimatfront» war die bis zur Drohung sich zuspitzende Forderung an die «deutschen Frauen», sich bedingungslos für den Krieg einzusetzen (in der Rüstungsindustrie, als Flakhelferin etc.).
Ich kann «Heimat» nicht wegdenken vom «Patriotismus» eines jungen Staates, der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien, in der nach dem Zweiten Weltkrieg Hunderttausende von Menschen enteignet, als «Kulaken» beschimpft und in Arbeitslager verschleppt worden waren; mein Grossvater hatte zu ihnen gehört. Und ein halbes Jahrhundert später existierte die Sozialistische Föderative Volksrepublik Jugoslawien nicht mehr; die kommunistischen Führer hatten sich quasi über Nacht zu Nationalisten transformiert – und das bedeutete Bürgerkrieg.
Sreten Ugričić, der aus politischen Gründen seines Amtes als Direktor der serbischen Nationalbibliothek enthoben wurde und seit sechs Jahren im Exil lebt, bewegt sich mit klarem Verstand in eine ganz andere Richtung, wenn er von «Heimat» spricht.
Heimat hat nichts mit dem Ort zu tun, wo wir aufgewachsen sind; es geht nicht ums Elternhaus, um Nachbarschaften oder Landschaften. Heimat ist an keinem Ort sichtbar und auffindbar, ganz im Gegenteil: Heimat ist unsichtbar. Sie ist ausschliesslich durch die Kindheit bestimmt, die von der Imagination, der Vorstellungskraft geprägt ist. Das heisst, alle Menschen teilen dieselbe Heimat, da wir alle «aus der Kindheit kommen», so Ugričić.
Heimat ist deshalb von einem Nimbus umgeben, weil wir in der Kindheit diese umfassende Kraft der Imagination erlebt haben, die wir dann im Laufe der Zeit verlieren. Und wenn wir uns nach Heimat sehnen, sehnen wir uns nicht nach einer bestimmten Geografie, nach einer spezifischen Küche etc., sondern wir sehnen uns nach der verlorenen Kindheit, dem Königreich der Imagination.
Wer spricht wie und warum?
Ich habe den heutigen Abend mit einem Zitat von Imre Kertész begonnen: «Vielleicht macht nicht irgendeine Begabung den Menschen zum Schriftsteller, sondern die Tatsache, dass er die Sprache und die fertigen Begriffe nicht akzeptiert.»
Dieser eine einfache Satz impliziert viel, nämlich die Ablehnung der normativen Ordnung, die sich durch die Sprache Geltung verschafft; das Nichtakzeptieren, dass Sätze Vorschriften sind, Urteile und Befehle; dass Tradition, Geschichte, Gesellschaft, Schicksal, der Lauf der Dinge über Sprache und fertige Begriffe fraglos fortgeschrieben werden.
Die Weigerung, diese normative Ordnung zu akzeptieren, ist meines Erachtens nicht zu trennen von einem ethischen Anspruch dem eigenen Schreiben gegenüber.
Für sein eigenes Schreiben einzustehen, bedeutet, die Ethik nicht unabhängig von der Ästhetik zu verstehen (und umgekehrt). Die Frage aber, wie Ethik und Ästhetik im Einzelnen zusammenspielen, kann ich hier nur andeuten, obwohl mich diese Frage beschäftigt, seit ich zu schreiben begonnen habe.
Die Demaskierung der Sprache im Schreiben entspringt einer Verantwortung gegenüber der grundsätzlichen Freiheit jedes Menschen; der gelernten Sprache wird eine Sprache gegenübergestellt, die erst im Schreiben oder, wie Herta Müller es formuliert hat, im eigenen Mund entsteht.
Wie und warum wird (was) erzählt? Das sind ethische Fragen, die sich im Erzählen immer wieder stellen.
Wie kann beispielsweise von Gewalt erzählt werden, ohne dass die Gewalt (in der Sprache) reproduziert wird?
Die Verantwortung betrifft den Vorgang des Erzählens und das Erzählte: die Charaktere des Textes und deren Interaktionen.
«Die Erzählfigur muss die Karten auf den Tisch legen, auf möglichst elegante Weise», wie es W. G. Sebald in einem Interview formuliert hat.
Zuhören, wie der eigene Text klingt, auch das bedeutet Verantwortung.
Melinda Nadj Abonji ist eine der wichtigsten Stimmen der Schweizer Gegenwartsliteratur. Im Jahr 2010 wurde sie für ihren Roman «Tauben fliegen auf» mit dem Deutschen Buchpreis und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Der Roman erzählt vom «Gastarbeiter»-Leben in der Schweiz und von einer Sommerreise in die heute serbische Vojvodina, die in atmosphärisch dichten Schilderungen die Vorboten der Jugoslawienkriege spürbar werden lässt.
2017 erschien ihr Roman «Schildkrötensoldat», der mit dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank ausgezeichnet wurde. Das Werk erzählt die Geschichte von Zoltán Kertész, einem Jungen aus der Vojvodina, der «nicht ganz richtig im Kopf» ist, sich auf seine Weise aber dem Krieg und der gesellschaftlichen Ordnung verweigert. Und von seiner Cousine Hanna, die zwar depressiv und mit Medikamenten sediert ist, aber Zoltán – und der Literatur – die Treue hält.
Die Zürcher Poetikvorlesungen finden seit 1996 statt und wurden von Schriftstellerinnen wie Herta Müller, Brigitte Kronauer, Lukas Bärfuss oder Durs Grünbein gehalten. Sie werden begleitet von den ebenfalls öffentlichen Werkstattgesprächen. Die Republik publiziert die Manuskripte der drei diesjährigen Poetikvorlesungen von Melinda Nadj Abonji in leicht gekürzter Form.
Zürcher Poetikvorlesungen mit Melinda Nadj Abonji
Im Literaturhaus Zürich begann am 8. November die dreiteilige Reihe der Poetikvorlesungen. Auf Teil I, «Zu Ohren kommen», folgte gestern Teil II: «Aus einem Hund wird kein Speck». Teil III, «Worte, nach Luft schnappend», beschliesst am 22. November (20 Uhr) die Reihe.
Die Poetikvorlesungen werden in Kooperation mit dem Deutschen Seminar der Universität Zürich durchgeführt. Jeweils am Freitag nach den Veranstaltungen im Literaturhaus findet von 10.15 bis 12 Uhr am Deutschen Seminar (Schönberggasse 9, 8001 Zürich) ein Kolloquium statt, in dem Melinda Nadj Abonji mit Studierenden und Interessierten über ihre Texte spricht. Auch diese Kolloquien sind öffentlich.