Zwischen Depeche Mode und Reichsflagge
Wie klingt das Leben in Sachsen, ein paar Kilometer von den Neonazi-Märschen in Chemnitz entfernt – jenseits der Mikrofone und Kameras? Wie blicken die Menschen auf den braunen Sumpf in ihrer Mitte? Ein Streifzug.
Von Daria Wild (Text) und Anne Morgenstern (Bilder), 28.09.2018
Die erste Farbe ist Grau. Sie grüsst matt zur Ankunft, begleitet auf der Fahrt, legt sich über Strassen und über Felder, hängt faul und fest in Laub- und Nadelbäumen. Abfahrt Chemnitz-Ost, Oberlichtenau an der A4. Traktorenlärm, Imbissbude. Mittags essen hier polnische LKW-Fahrer auf der Durchreise und Kontrolleurinnen vom Amt für Landwirtschaft. Soljanka mit Brötchen: 2,15 Euro, Fischsemmel: 1,55 Euro, Kaffee klein: 0,85 Euro.
Willkommen in Sachsen.
Seit vier Wochen meinen wir, Chemnitz zu kennen und Sachsen gleich mit: geschwollene Halsschlagadern, rote Gesichter, spuckende Münder, fremdenfeindliche Parolen, Hitlergrüsse – die Bilder der Protestmärsche gingen um die Welt. Und Chemnitz, drittgrösste Stadt Sachsens, und Sachsen selber, halb so gross wie die Schweiz, Gründungsdatum 3. Oktober 1990, CDU-Land, zweittiefste Arbeitslosigkeit der Ostländer, Spitzenplatz bei der Schulqualität, wurden zur Chiffre für die Entfesselung rechtsradikaler Kräfte.
Wen wir nicht kennen: die Sachsen, die ihre Gesichter nicht in Kameras und ihre Münder nicht vor Mikrofone hielten, die Sächsinnen, die uns begegnen, einfach so.
Also fahren wir, weil man in Sachsen, Motorenland, Autoland, Strassenland, fahren muss; durch Dörfer, Vororte, nach Chemnitz rein und wieder raus, an Waschanlagen und Tagebauen vorbei, durch frisch gejauchte Felder und weiche Hügellandschaften; Landdiskos und Fussballturniere und Jahrmärkte passierend.
Wir treffen auf Menschen, die sich nicht nach Chemnitz trauen wegen der Ausländer, auf Menschen, die sich nicht nach Chemnitz trauen wegen der Rechtsextremen, auf Menschen, die sowieso gar nie nach Chemnitz gehen, auf Menschen, die lieber über Hitzesommer statt Hetzjagden und Musik statt Mobs reden, und solche, denen Chemnitz unter den Nägeln brennt.
Fünf dieser Begegnungen haben wir festgehalten, einige mehr fotografisch.
Sie sind geblieben.
Und das Grau ist verschwunden.
Eins: Where’s the revolution?
Wer von Osten nach Chemnitz fährt, passiert eine Esse, einen Industriekamin, der in Pastellfarben angemalt ist und den man von weitem sieht; Pastellgelb, Pastelllila, Pastellorange und so weiter. Wer von Osten nach Chemnitz fährt, passiert ein Plakat, auf dem vor übermässigem Zuckerverzehr gewarnt wird: «Chemnitz ist überzuckert», Ausrufezeichen. Wer von Osten ins Zentrum von Chemnitz fährt, staunt ob der Leere und der Weite und der Farblosigkeit dieser Stadt. Unter diesem grauen Himmel.
You’ve been kept down
You’ve been pushed ’round
You’ve been lied to
You’ve been fed truths
Who’s making your decisions?
You or your religion
Your government, your countries
You patriotic junkies
Where’s the revolution?
Depeche Mode, die Musik der systemkritischen DDR-Jugend, die Band, die in Ostdeutschland zum Zeichen für Freiheit geworden ist, deren Industriesound und Ästhetik die Realität der DDR-Jugend widerspiegelten. Für die zahlreichen Fanclubs wurden Akten angelegt, die noch heute in den DDR-Archiven einsehbar sind, der Chemnitzer Fanclub hat sich gehalten, er ist heute der grösste Europas, über 700 Mitglieder aus dem ganzen Bundesland und aus angrenzenden Bundesländern und aus dem Rest Deutschlands sind dabei.
Drei davon, inklusive des Gründers, stehen jetzt vor dem Karl-Marx-Kopf im Zentrum von Chemnitz, fröstelnd im Abendwind trotz Depeche-Mode-Pullis, angereist aus dem nahen Umland, und sagen: «Ja, siehste. Chemnitz hat viele Gesichter. Aber reden wir nicht über Politik. Wie gefällt euch Depeche Mode?»
Also plaudern wir mit André, 45, Mitarbeiter in einem Grafikbüro für Beschilderungen, mit Sebastian, 35, Verkäufer bei Edeka, und mit Julia, 25, Grafikerin, über Musik und Konzerte und das älteste Fanclub-Mitglied und das jüngste Fanclub-Mitglied und Häuser und Gärten und Urlaub, und Dinge, die das Leben halt so macht.
Nur Sebastian sagt einmal, die Stimmung in der Stadt sei angespannt, er sei gerade gar nicht gerne hier, seit dauernd Demonstrationen stattfänden, und André sagt, das Bild, das Chemnitz gerade abgebe, die Medienberichte darüber, das sei traurig, egal, was man von der Politik halte.
Viel einschneidender aber eben als die aktuelle Politik: DDR, Mauerfall. «Schaut euch all die Gebäude an», sagt André und zeigt auf den funktionalistischen Bürokomplex hinter dem Karl-Marx-Monument, Domizil der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, «alles DDR-Klötze.» Und André erzählt, wie er Militärpilot hätte werden sollen und mit dem Mauerfall 1989 plötzlich alle Papiere wertlos waren. Aufrappeln, Neuanfang. Depeche Mode.
Wie blickst du heute auf die DDR zurück?
André: Viele, die sich Freiheit gewünscht haben, sind auf die Nase gefallen, als sie merkten, dass diese Freiheit auch etwas kostet. Aber wir wollten das. Ich wollte all die Dinge, die ich im Fernsehen sah. Ich wollte diese Freiheit, und vor allem wollte ich Depeche Mode live sehen.
Ist die Wende noch ein Thema?
Julia: Über den Ossi wird auch in meiner Generation noch gelacht. Das ändert sich wohl erst mit der nächsten oder übernächsten Generation.
Was wünscht ihr euch?
Schwierige Frage. Vieles.
Zum Beispiel?
Dass Depeche Mode nach Chemnitz kommt.
Wir schlendern durch die in der Dämmerung fast leer gefegte Brückenstrasse, vorbei an Bäumen, hinter denen angeblich massenhaft Drogen gedealt werden, vorbei am Marx-Kopf, hinter dem das «Chemnitz ist weder grau noch braun, sondern bunt»-Transparent hängt, und sind erstaunt ob der Ruhe und Stille dieser Stadt. Unter diesem grauen Himmel.
Zwei: Starker Tobak
Abfahrt Chemnitz-Ost, Oberlichtenau an der A4, ein Gladiolenfeld zum Selberpflücken, ein Industriegebiet, eine Imbissbude, dahinter UPS-Lastwagen zwischen grauen Scheunen vor grauem Himmel. In der Mitte des Geländes eine Waschstrasse, «Truck Wash Station», Qualität zu Toppreisen, PKW-Handwäsche nach Vereinbarung möglich. In der Waschstrasse rotieren Bürsten lautstark um einen LKW, auf der Frontscheibe «Erzgebirge» in Frakturschrift. Das Erzgebirge sei der schönste Landkreis in Sachsen, sagt der LKW-Besitzer, Heimat sei das und diese Waschstrasse die beste weit und breit.
Die Waschstrasse gehört Frank, 1965 «gleich um die Ecke» geboren, kräftig, ein braun gebranntes Schauspielergesicht – mit Gojko Mitić sei er schon verglichen worden oder Tom Selleck. Vor diesem grauen Himmel sagt Frank: «Ich rammle und rammle, und doch reicht es kaum», und meint damit: Er schufte, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen. Sein Lebenslauf ein Wende-Lebenslauf, lange vorgezeichnet, Lehre, Armee, Arbeit, und plötzlich fällt die Mauer, plötzlich heisst es, entscheide dich, Frank, auf welcher Seite stehst du, und Frank will auf keiner stehen und wartet ab, und irgendwann ist die Wende passiert und Frank hat weder Job noch Aussichten; «das gesamte Leben für die Tonne».
Und Frank geht in seiner Baracke mit Autopflegeprodukten bis unter die Decke gestapelt auf und ab, denkt nach, doziert, poltert, reflektiert, über zwei Stunden lang, sagt, dass eine Semmel damals noch 5 Pfennig kostete und eine Wohnungsmiete mit Warmwasser und Heizung 100 Mark, dass der Ostdeutsche der bessere Handwerker sei und überhaupt der ehrlichere Mensch, dass die Stasi zwar blöd war, aber dass halt auch viel für die Bürger getan wurde, dass es heute immer mehr schlecht erzogene Kinder und immer weniger Anstand vor der Polizei gebe. Ein Hoch auf Grenzen! In der Erziehung. Und rund um Deutschland.
Als ein Freund und Kunde von Frank die Baracke betritt, einer, der schon eine Abmahnung von seinem Arbeitgeber kassierte, weil er auf Facebook rassistische Äusserungen postete, Frank hatte es erwähnt, wird es expliziter, lauter, es geht jetzt um mordende Immigranten und Frauen verteidigende Deutsche, um mafiöse Strukturen ausländischer Grossfamilien, berechtigte Hitlergrüsse und Töchter, die man vor «dem, was jetzt kommt», beschützen müsse. Und Frank wirft ein, man wolle keine «Zustände» wie in Berlin-Neukölln, wo sich die Polizei nicht mehr hintraue. «Das gabs in der DDR nicht.»
War früher alles besser, Frank?
Man hatte etwas, es gab Arbeit, man war stolz. Was die Wessis mit uns gemacht haben, war schon starker Tobak. Daher kommt auch all die Wut der Menschen, die jetzt auf der Strasse marschieren. Aber das wissen viele nicht.
Bist du wütend?
Ich habe mich selbstständig gemacht, wir haben alles mit unseren eigenen Händen aufgebaut. Und wie viel konnten wir uns rausnehmen? Vielleicht 1000 Euro im Monat, brutto.
Das ist nicht viel.
Es ist sinnlos. Wir sind die verlängerte Werkbank des Westens. Wenns eine Krise gibt, machen die zuerst hier zu. Die Hauptwerke werden ja nie zugemacht. Die Hauptwerke sind im Westen. Und wir werden immer weniger.
Wer ist wir?
Wir, überhaupt.
Die Ostdeutschen?
Guck doch mal, wer bleibt noch hier? Nur die Alten.
Wenn du heute ins Bett gehen könntest und morgen in einer anderen Welt aufwachen würdest, was wäre anders, was würdest du dir wünschen?
Gerechtigkeit. Das wär was.
Vierzig Jahre Teilung brauchen vierzig Jahre Heilung, sagt man, und in Frank, diesem vierschrötigen Waschanlagenbesitzer und freundlichen, aber beinharten Rassisten zeigt sich, wie tief die Wende sitzt, zeigt sich Sehnsucht nach Struktur und nach Ordnung und nach Einfachheit und nach Regeln, Sehnsucht danach, ernst genommen zu werden – als Mann, als Mensch, als Arbeiter.
Drei: Reichsflaggen in der Disko
Chancen haben. Chancen nutzen. Chancen haben. Chancen nutzen.
Tanzzeit, Aufrisszeit, Feierzeit in Hartmannsdorf, im Braugut, wo auf einer Tafel über dem Eingang in Buchstaben aus leuchtenden LED-Punkten in die Gesichter geblinkt wird, worum es hier, heute Abend, gehen soll: Chancen.
Hartmannsdorf, ein Kaff im mittelsächsischen Hügelland, mit eigener Schnellstrassenausfahrt, zwischen Leipziger Tieflandsbucht und Erzgebirgischem Becken, zwischen tief eingeschnittenen Flusstälern im Osten und der Zwickauer Mulde im Westen. Hartmannsdorf, irgendwo im nirgendwo und doch gleich angrenzend an Chemnitz. Hartmannsdorf – nicht gerade ein Ort, der nach Chancen aussieht.
Und doch hat uns fast jeder Mensch, dem wir begegnet sind, das Braugut empfohlen, diesen alten Gutshof mitten im Dorf, mit grossem Pflastersteinhof, mehreren Räumen und mehreren Bars. Da gebe es Tanz und Go-go-Tänzer, und vor allem koste das keinen Eintritt und es sei sehr locker, und übernachten könne man da auch. Waschanlagen-Frank hatte lobend hinzugefügt, der lasse auch keine Ausländer rein, der Besitzer, der Jugoslawe.
Diskokugel unter massivem Gebälk, farbige Lichter, Holzboden, hölzerne Tresen, Trinksprüche an den Wänden, Männerüberschuss, Altersdurchschnitt wahrscheinlich Ende dreissig, auf der Tanzfläche bewegen sich mehrheitlich die Frauen zu allem, was die Charts die letzten zwanzig Jahre so hergegeben haben, am Rand stehen mehrheitlich die Männer und gucken, gaffen, trinken, tratschen. Am Rand steht auch ein Mann mit Reichsflagge auf dem Pulli, und er sagt ohne Scham, man müsse alle Ausländer an die Wand stellen, und ja, er sei ein Neonazi. Viele tragen Shirts des Sachsener Labels Yakuza – beliebt bei Neonazis und Hooligans.
So ein Ort also.
Und während drinnen «Moi ... Lolita» zum Tanz ruft, trifft man draussen die Freundinnen und Freunde des Reichsflaggenpullis, und sie sind freundlich und rassistisch bis auf die Knochen, und sie haben berechtigte Sorgen, was ihre hohen Mieten betrifft und die drohende Altersarmut, und irrationale Ängste vor Ausländern, die sie nie sehen, von denen sie aber wissen, dass sie Schuhe tragen, die sie sich niemals leisten könnten, und ein schrecklich patriarchales Verständnis der Gesellschaft, die es zu schützen gilt, mit Fäusten und Waffen.
Und wir reden mit einem CDU-Wähler, der zwischen guten und schlechten Ausländern unterscheidet, als wären sie Bananen im Supermarkt, und wir reden mit einer jungen Frau über die Demonstrationen in Chemnitz, und sie sagt, sie verstehe es nicht, wenn Hartz-IV-Empfänger mit «Asylbetrug Nein»-Shirts rumlaufen und also selber dem Staat auf der Tasche liegen würden, und wir reden mit einem jungen Mann, der sagt, so ein Typ wie der mit dem Reichsflaggenpulli dürfe niemals hier reinkommen, Migrationsproblem hin oder her, und wir sollen auch gar nicht mit dem reden, wofür es aber schon zu spät ist.
Warum trägst du einen Reichsflaggenpulli?
Weil ich ein Neonazi bin.
Was heisst das für dich?
Ich verteidige mein Land.
Was ist das für ein Land?
Deutschland.
Ich meine, was ist das für ein Deutschland?
Eines mit dichten Grenzen.
Hast du schlechte Erfahrungen mit Ausländern gemacht?
Nein. Aber man hört ja, was los ist.
Hast du gute Erfahrungen mit Ausländern gemacht?
Gegen die, die sich benehmen können, und die, die arbeiten, habe ich nichts. Ich gehe auch gern Döner essen.
Was wünschst du dir: Wenn du jetzt aufwachen würdest, und irgendwas wäre anders in deinem Leben, was wäre es?
Eine Freundin an meiner Seite.
Hartmannsdorf; hier ist der Schrei nach Liebe gar nicht so stumm, hier liegen sich Klischees in den Armen und prosten sich Ausnahmen zu. Chancen haben. Chancen nutzen. Prost.
Vier: Zwischentöne
Das Haus der Kreissls fällt auf in Stollberg, einer hügeligen Kleinstadt 20 Kilometer südwestlich von Chemnitz, zwischen Erzgebirgischem Becken und ehemaligem Steinkohlerevier Lugau-Oelsnitz. Eigentlich nur eine knappe halbe Stunde von Chemnitz entfernt, doch die Ausläufer der Stadt haben sich längst in den Wäldern verloren, kurvige Landstrassen, zwei, drei Plattenbauten, und schon ist man in der malerischen Altstadt mit Marktplatz, Reisebüro und Café, das seit hundert Jahren gleich aussieht, Jugendstil. Über der Stadt, am anderen Ende, nach dem Haus der Kreissls, thront das Schloss Hoheneck, zu DDR-Zeiten Frauengefängnis, heute Museum, Führungen nach Vereinbarung.
Das Haus der Kreissls ist eine alte Zigarrenfabrik mit grosszügigem Kiesplatz zur Strasse hin, dort lässt sich Frau Kreissl gern fotografieren und gern auch im Wagen ihres Sohnes, ein amerikanischer Oldtimer mit seltenem Paisley-Muster-Dach, «wer hätte gedacht, dass ich heute noch zu so was komme!», sagt Frau Kreissl.
Frau Kreissl ist eine fröhliche Frau mit blondiertem Haar und Goldfüllung zwischen den Schneidezähnen. Frau Kreissl macht sich Sorgen, wenn Menschen auf der Strasse demonstrieren, wie damals 1989 und damals, als die Gemeinde Stollberg ein Asylaufnahmezentrum eröffnete, in den Neunzigern bei den Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien und dem Irakkrieg. «Es ist unheimlich, dieser Hass, finde ich», sagt Frau Kreissl. «Das sind ja auch nur Menschen.»
Herr Kreissl braust zum Feierabend auf den Kiesplatz, ein gemütlicher älterer Herr mit grauem Bart, feiner Brille, kariertem Schöffel-Hemd unter Faserpelzweste, an den Füssen schlichte, graue Turnschuhe. Herr Kreissl unterrichtet Werken und Informatik, er liest die «Zeit» und online manchmal die «Süddeutsche» und den «Spiegel».
Herr Kreissl erzählt gern, wie sich die Region hier entwickelt hat und wie es gewesen war, als er – im Vogtland aufgewachsen, dem Westen der DDR – Westfernsehen empfing und die anderen im «Tal der Ahnungslosen» nur Ostfernsehen, wie die Baumwollindustrie Tausende von Leuten beschäftigte und dann bei der Wende geschlossen wurde, wie sich hier aber doch rasch wieder Gewerbe angesiedelt habe, Continental, Fahrwerksysteme, und deshalb die Häuser besser aussähen als jene 20 Kilometer weiter.
Frau Kreissl sagt: «Jeder hat seine Wendegeschichte.»
Die der Kreissls ist nicht die eines starken Bruchs, beide gehen denselben Berufen nach wie vor der Wende, die Söhne sind nach dem Mauerfall geboren. Die Zigarrenproduktion der Familie (in Heimarbeit in der ganzen Umgebung), in deren Quasi-Hauptsitz die Kreissls heute wohnen, kein Opfer der Wende, sondern schon ein Opfer der Nachkriegszeit.
Herr Kreissl sagt, die Ereignisse in Chemnitz hätten ihn nicht überrascht, man habe ja gewusst, wie gut das rechte Lager organisiert sei, bereits in der DDR habe es Fremdenfeindlichkeit gegeben, gegen die kubanischen und vietnamesischen Gastarbeiter, die man geholt habe, nicht wenig, aber man müsse auch beachten, wenn man vom braunen Osten rede, dass die Parteispitzen, Verbandsspitzen, Vereinsspitzen oft von Leuten aus dem Westen besetzt seien.
Haben die Ereignisse in Chemnitz etwas mit der Wende zu tun?
Ich glaube nicht. Die Leute waren es immer gewohnt, auch jetzt noch, dass sie gut versorgt sind und davon leben können. Jetzt haben sie Angst, dass ihnen das weggenommen wird. Trotz sehr guter Wirtschaftslage. Es ist eine irrationale Angst, und sie wird geschickt instrumentalisiert.
Machen Sie sich Sorgen?
Was mich beschäftigt: Die, die Angst haben vor Ausländern, sind die, die noch keine getroffen haben. Man hört Dinge über drei Ecken und glaubt die dann.
Was würden Sie sich wünschen?
Ich habe es gut, ich bin zufrieden. Aber vielleicht, was dieses Thema betrifft: dass die Leute mehr auf ihre Erfahrungen zählen würden als auf das, was man sich erzählt.
Fünf: Unter blauem Himmel
Es gibt noch ein zweites Hartmannsdorf, eine Dreiviertelstunde südöstlich von Chemnitz, wir fahren dahin, weil Kirmes ist, Dorffest, es ist sonnig und alles blitzeblank aufgeräumt in diesen Dörfern, die wir passieren; Kirmes vorne links, ein leeres Festzelt, ein neues Freibad, ein leuchtend grüner Kunstrasenfussballplatz und zwanzig, dreissig Zuschauer, die in Jacken in der unterschätzten Septemberhitze brüten, darunter eine Gruppe junger Männer. «Ihr kommt aus der Schweiz?», fragen sie, «wie seid ihr denn bloss hier gelandet?»
Sie selbst sind da für ein Auswärtsspiel eines Freundes, «Ah», sagen sie, «schreibt ihr über unser Problem mit Rechtsextremen?», und reden ohne Antwort los, darüber, wie sie das sehen – vieles werde hochgekocht –, warum alle Linken nach Leipzig abhauen, «das andere Extrem», und die Rechten in den Dörfern bleiben, «auf dem Küchentisch die ‹Bild›-Zeitung», bei der man irgendwann glaube, was da drinstehe, wie uneinig sie selber sich in ihrem Freundeskreis sind, ein paar ticken links, die meisten rechts, und weshalb man deshalb lieber nicht über Politik rede, abends, wenn man sich treffe. Nun aber eben doch, schon geraten zwei in einen Streit, es geht um die Medien und um Chemnitz.
Kaspar: Es wird auch viel verheimlicht von den Medien, deshalb kam es doch überhaupt zu Ereignissen wie jenen in Chemnitz.
Rudi: Was wird denn verheimlicht?
Kaspar: Zum Beispiel, dass Hanke in Zwickau von zwanzig Kanaken verprügelt wurde, erst gerade.
Rudi: Du weisst genau, dass Hanke auch etwas damit zu tun gehabt hat, so aggressiv wie der gegenüber Ausländern ist.
Kaspar: Ich weiss genau, dass Hanke nichts damit zu tun gehabt hat, ich war ja dabei.
Rudi: Der provoziert ständig.
Kaspar: Er wollte seine Kappe zurück.
Rudi: Naja, ich kann mir ja vorstellen, wie der seine Kappe zurückwollte.
Kaspar: Die haben seine Kappe geklaut.
Rudi: Ach, lassen wirs.
Damit wäre der Streit beendet, und Rudi, 24 Jahre alt, bei VW angestellt, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, gross und schlaksig und grossspurig und gescheit, sagt: «Ich habe die letzten drei Jahre versucht, mit meinen Freunden zu diskutieren, inzwischen lasse ich das bleiben.» Und mit Blick auf Chemnitz: «Diese Typen mit den Hitlergrüssen und Reichsflaggen haben vierzig Jahre lang die Fresse gehalten, und jetzt fühlen sie sich bestätigt, haben einen Grund, laut zu sein.» Rudi sagt: «Es gibt null Ausländer auf dem Dorf, kommt ausnahmsweise mal einer da einkaufen, schwellen alle Halsschlagadern an.»
Was meinst du, ist das eine Generationenfrage?
Nein, ich glaube nicht. Ich habe viele Freunde in meinem Alter, die ausländerfeindlich sind.
Möchtest du wegziehen?
Nein. Naja, vielleicht, irgendwann schon.
Was wünschst du dir?
Dass die Rechten wieder mal die Fresse halten. Und dass wieder Ruhe einkehrt.
Wieder die Stadt-Land-Frage, wieder das Bedauern darüber, dass die Linken aus den Dörfern ziehen und die Rechten die Clubs und Vereine besetzen, die Alternativlosigkeit. Neu an diesem Gespräch: dass Chemnitz unter den Nägeln brennt, dass die rechtsradikalen Kräfte auf dem Land die Jungen beschäftigen, vielleicht sogar noch mehr als die Wende die Alten beschäftigt, und dass der Graben zwischen links und rechts, die Haltung gegenüber den Ereignissen in Chemnitz mitten durch die Freundeskreise führt.
Von Grau zu Blau
Wer von Osten nach Chemnitz fährt, passiert eine Esse, einen Industriekamin, der in Pastellfarben angemalt ist und den man von weitem sieht; Pastellgelb, Pastelllila, Pastellorange und so weiter. Wer von Osten nach Chemnitz fährt, passiert ein Plakat, auf dem vor übermässigem Zuckerverzehr gewarnt wird: «Chemnitz ist überzuckert», Ausrufezeichen. Wer von Osten ins Zentrum von Chemnitz fährt, staunt ob der Leere und der Weite und der Farblosigkeit dieser Stadt. Unter grauem Himmel.
Wer von Westen nach Chemnitz fährt, passiert ein amerikanisches Diner, das aussieht wie ein Raumschiff, der Parkplatz gefüllt bis auf den letzten Platz. Wer von Westen nach Chemnitz fährt, passiert die wunderschönen, stillgelegten Industrieanlagen der Wanderer-Werke, Fahrzeugbau, vor denen sich Knaben auf Fahrrädern gegenseitig im Kreis verfolgen und in deren Fenster sich die Abendsonne spiegelt. Wer von Westen ins Zentrum von Chemnitz fährt, ist erstaunt ob der Stille und der Weite und der verstaubt-schönen Architektur dieser Stadt. Unter diesem blauen Himmel.
Wir sind von Osten nach Chemnitz reingefahren am Anfang unserer Reise und von Westen nach Chemnitz reingefahren am Ende unserer Reise, die Himmelsrichtung spielt dabei keine Rolle, einzig der Himmel, nicht mehr grau, sondern blau, taucht Chemnitz, Sachsen, in ein anderes Licht.
Was die Sachsen beschäftigt, dafür gibt es repräsentativere Analysen als diese Fahrt, und doch haben wir genug gehört und gesehen; Chemnitz und Sachsen sind zwar auch, aber eben auch mehr als eine Chiffre für die Entfesselung rechtsradikaler Kräfte.
Da ist die Wende, die das Leben so vieler verändert hat. Da ist die fehlende Demokratieerfahrung, Gründungsdatum 1990. Da ist das fehlende Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gegenüber den Westdeutschen, das Gefühl, über den Tisch gezogen worden zu sein nach der Wende. Da ist die Landflucht, die die Dörfer den Rechten überlässt und wahrscheinlich der grossen, schweigenden Mehrheit, da ist die Verschiebung der Arbeitsplätze, weg von den Kohlewerken, weg von der Industrie, weg vom Handwerk, da ist die Angst der Männer vor Bedeutungsverlust. Und da ist simpler, knallharter Rassismus gegenüber Ausländern, die man nie zu Gesicht bekommt.
In der Nacht schlendern wir zurück ins Zentrum von Chemnitz, durch den Stadtpark, den berüchtigten, den viel zitierten, und es ist still und leer, und vereinzelt sitzen Menschen rum und trinken Bier und labern und lachen.
Anne Morgenstern wurde in Leipzig, Sachsen, geboren. Sie studierte Fotografie in München und in Zürich, wo sie heute lebt und arbeitet. 2015 veröffentlichte sie ein Buch über Sachsen. Mehr Bilder von Morgenstern finden Sie hier.