Ein Ort, der für alle da ist: Der Hafen von Palermo solle auch Schiffe mit Migranten aufnehmen, sagt der Bürgermeister der Stadt. Im Hintergrund der Monte Pellegrino, der «Pilgerberg».

Der Idiot von Palermo

Die grösste Stadt Siziliens stemmt sich gegen die Populisten in Rom. Zumindest ihr Bürgermeister. Leoluca Orlando kann keinen Schritt ohne Leibwächter tun, doch er nimmt sich seine Freiheit.

Von Nicoletta Cimmino (Text) und Mauro D’Agati (Bilder), 26.10.2018

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Vorgelesen von Nicoletta Cimmino
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Eigentlich müsste er schon längst tot sein. Aber Leoluca Orlando gab noch nie viel darauf, die Erwartungen an ihn zu erfüllen.

«Ich war in meiner Kindheit darauf konditioniert, bald sterben zu müssen. ‹Lucchetto stirbt!› war wohl der Satz, den ich am meisten gehört habe. ‹Lucchetto, das darfst du nicht, sonst stirbst du.› – ‹Papa, darf ich ein Motorrad haben?› – ‹Nein, sonst stirbst du.›»

Beim Rauchverbot gibt es Ausnahmen: Leoluca Orlando, Bürgermeister von Palermo.

Leoluca Orlando leidet am Kartagener-Syndrom. Einige seiner wichtigsten Organe liegen seitenverkehrt im Körper. Das Herz rechts, die Leber links. Der Kinderarzt sagt seinem Vater Salvatore, einem sehr respektierten, sehr konservativen, sehr katholischen Juristen, dass sein Sohn wegen dieses Syndroms den 40. Geburtstag sicher nicht erleben würde.

Leoluca hat also schon als Bub keine Zeit zu verlieren. Er macht alles ganz und gar.

«Ich habe als Kind am Familientisch nie auch nur einen winzigen Rest im Teller gelassen. Nie. Das mache ich auch heute nicht. Stellen Sie mir einen übervollen Teller Pasta auf den Tisch, ich esse alles auf. Ich wollte und will immer mehr. Als 10-Jähriger las ich Dostojewski. ‹Schuld und Sühne›. Mit zehn Jahren ist das ein Schlag in den Magen. Meine Freunde lasen De Amicis’ Kinderklassiker ‹Cuore› – oder ‹Pinocchio› von Collodi. Und ich, ich las Dostojewski.»

Seine Eltern schicken ihn auf eine Jesuitenschule in Palermo. Er ist ein hervorragender Schüler, schliesst in seinem Jahrgang mit der besten Matura von ganz Italien ab.

Mit 18 reist er nach London, besucht im Tate-Museum eine Ausstellung über Van Gogh und lernt dort ein Mädchen kennen. Die Liebe seines Lebens. Seine Ehefrau, bis heute.

«Sie war wunderschön. Und Sizilianerin, wie ich. Sie sprach mich an, kannte mich. Ich sie nicht. Wir waren stundenlang in dem Museum und redeten über die ‹Kritik der reinen Vernunft› von Immanuel Kant.»

Er lebt

Leoluca Orlando (71), der Bürgermeister Palermos, erzählt das alles in seinem Büro im Palazzo delle Aquile. Der Raum hat die Grösse einer durchschnittlichen Schweizer Dreizimmerwohnung. Hohe Fenster, eleganter Steinboden. Und eine freskoverzierte Decke, durch die sich tiefe Risse ziehen. Viel Grandezza und ein wenig Zerfall.

Diese Grandezza aus einer anderen Epoche verkörpert auch Orlando in seinem klassisch geschnittenen dunklen Anzug, mit dem weissen Hemd und der Krawatte. Eine aus der Zeit gefallene Männlichkeit, wie ein Schauspieler der Sechzigerjahre. Vittorio De Sica, Michel Piccoli.

Orlando ist ein lebendiger Gesprächspartner, unterhaltsam – wenn man denn vor allem zuhören möchte. Denn unterbrochen wird er ungern.

Er erzählt. Vom Studium der Rechtswissenschaften in Palermo. Seiner Zeit in Heidelberg, wo er Deutsch lernt. Wie er zurück auf Sizilien an der Universität öffentliches Recht unterrichtet. Und wie er vom damaligen sizilianischen Präsidenten Piersanti Mattarella als juristischer Berater angestellt wird. Dem Bruder von Sergio, dem heutigen Staatspräsidenten Italiens.

Piersanti Mattarella wird am 6. Januar 1980 von der Mafia ermordet. Es wird nicht der letzte Freund sein, den Orlando auf diese Weise verliert.

Mit 38 steigt er selber in die Politik ein, Mattarellas Witwe bittet ihn darum. 1985 wird er zum Bürgermeister Palermos gewählt.

Dann der 40. Geburtstag.

«Ich köpfte eine Champagnerflasche und dachte mir: Ich habe gewonnen, mein Kinderarzt hat verloren. Ich bin 40 und lebe noch – jetzt kann ich sterben.»

Doch er stirbt nicht. Trotz Kartagener-Syndrom. Er wird 41, 42, 43, 44.

Mit 45, in den frühen Neunzigerjahren, steht er auf der Abschussliste der Mafia an dritter Stelle. Vor dem seinen stehen zwei andere Namen: Giovanni Falcone und Paolo Borsellino.

Falcone, den Richter, trifft es zuerst. Am 23. Mai 1992 wird sein Wagen auf der Flughafenautobahn nach Palermo von einer Bombe zerfetzt. Die Cosa Nostra hatte dafür 500 Kilogramm Sprengstoff in einem Drainagerohr unter der Strasse platziert. Niemand sieht etwas, niemand will etwas gesehen haben.

57 Tage später stirbt auch Paolo Borsellino, Falcones engster Vertrauter und Mitkämpfer. Der Sprengsatz ist in einem Fiat versteckt, der neben dem Haus von Borsellinos Mutter steht.

Die Botschaft der Mafia ist deutlich: Hier befehlen wir.

Die Sizilianer nennen diese dunkle Zeit der frühen Neunziger «gli anni delle stragi». Die Jahre der Massaker. Und das nächste Massaker wäre eigentlich die Ermordung von Bürgermeister Leoluca Orlando gewesen. Doch die Mafia wartet. Offenbar verweigert die «Kuppel», die Versammlung der Oberhäupter der Cosa Nostra, dem Boss Totò Riina in dieser Frage die Gefolgschaft.

Orlando stirbt also wieder nicht. Aber er muss auf etwas Kostbares verzichten, nämlich auf die selbst gewählte Einsamkeit. Allein durch die Strassen laufen, allein in eine Bar, allein an den Strand: nie wieder. Orlando darf fortan keinen Schritt mehr ohne Leibwächter machen – bis heute.

Widerstand gegen den Innenminister

«Ich bin trotzdem ein freier Mann», erzählt Orlando, «ich gehöre niemandem und will nirgends dazugehören. Das war immer so. Jedes Mal, wenn ich merke, dass sich um mich herum ein Clan bildet, dass es plötzlich so etwas wie ‹die Männer von Orlando› gibt, wechsle ich die Seite.»

Republik: Warum?
Orlando: Weil diese Zugehörigkeitskultur erstickend ist. Sie grenzt aus und diskriminiert. Wenn du nicht dazugehörst, bist du ein Niemand. Und wenn du dazugehörst, musst du dich dem Grossen und Ganzen unterwerfen. Das Palermo der Mafia war ein Palermo des «Zu wem gehörst du?». Ich will ein Palermo des «Wer bist du?».

Machen Sie es sich nicht zu einfach? Sie kommen aus einer respektierten Familie. Sie gehörten in der klassenbewussten sizilianischen Gesellschaft doch sowieso dazu.
Kennen Sie Don Milani? Das war ein italienischer Priester mit ziemlich fortschrittlichen Ideen (Lorenzo Milani; Anm. d. Red.). Er setzte sich ein für die Schulbildung von Kindern aus der Unterschicht. Und er war ein Freund eines Kommunisten, der hiess Pipetta. Als katholischer Priester Freund eines Kommunisten! Das war also ein bisschen wie Don Camillo und Peppone. Don Milani also schrieb Pipetta einen Brief. Einen wunderschönen Brief. Sinngemäss schrieb er: «Lieber Pipetta, ich werde mit dir für deine Ideale und deine Ideen kämpfen. Bis du sie erreicht hast. Und du wirst sehen, wir werden es schaffen. Aber ich muss dich jetzt schon um Verzeihung bitten. Wenn es so weit ist, werde ich dich umarmen und dann wieder die Seite wechseln.» Don Milani wollte also nicht aufgrund seiner Zugehörigkeit und seiner Herkunft irgendwo eingesperrt sein. Und ich will das auch nicht.

Selfie mit der Stadtheiligen: Prozession mit dem Schrein von Santa Rosalia, die als Eremitin in einer Höhle am Monte Pellegrino gewohnt haben soll.
Ist automatisch Palermitaner, wer nach Palermo kommt? Das sehen nicht alle so: Ein Muslim beim Gebet.

Orlando mag es nicht, wenn man ihm sagt, wer er zu sein hat. Und er erträgt es nicht, wenn man ihm sagt, was er zu tun hat.

Auch nicht, wenn es die Regierung in Rom ist: Im Juni 2018 lanciert Italiens Innenminister Matteo Salvini auf Twitter den Hashtag #chiudiamoiporti («Schliessen wir die Häfen»). Salvini will verhindern, dass das Rettungsschiff Aquarius mit 629 Migranten an Bord in einem italienischen Hafen anlegen kann. Der Hashtag ist ein Befehl.

Ein paar Stunden später tritt in Palermo Bürgermeister Orlando an die Öffentlichkeit und sagt: Unser Hafen ist offen und bleibt es.

Der Anti-Salvini

Hier in seinem Büro beugt er sich nun über sein Pult nach vorne, als er von Salvini zu reden beginnt. Mit der flachen Hand schlägt er bei Vokalen auf die Tischfläche und gibt seinen Sätzen den Takt vor.

«Wir sind an einer historischen Wegkreuzung. Und ich will nicht falsch abbiegen. Salvini ist ein Populist. Populisten haben keine Achtung vor der Zeit. Sie denken, dass man Probleme sofort lösen kann, ohne Widerstände. Aber das geht nicht in wenigen Sekunden, und es geht nicht in Tweetlänge. Es braucht Zeit, viel Arbeit, es braucht Verzweiflung, Blut und Kompromisse. Ich bin Jurist. Ich habe gegen die Mafia gekämpft und stand mein Leben lang im Dienste des Rechtsstaates. Ich glaube an das Recht. Und trotzdem: Sollten Sie irgendwann erfahren, dass man mich verhaftet hat, weil ich einen sogenannten illegalen Migranten bei mir zu Hause versteckt habe, einen, den Salvini zurück ins Elend schicken will, dann haben Sie kein Mitleid mit mir. Schicken Sie keine Zigaretten oder Schokolade. Es wird der glücklichste Tag meines Lebens sein.»

Orlandos Haltung ist nicht neu. Bereits 2015 lancierte er die «Charta von Palermo». Diese fordert die absolute Bewegungsfreiheit für alle Menschen. Das Konzept der Aufenthaltsbewilligung soll abgeschafft werden. Im ersten Absatz steht:

Kein Mensch hat den Ort, an dem er geboren wird, ausgesucht oder sucht diesen aus; jeder Mensch hat den Anspruch darauf, den Ort, an dem er leben, besser leben oder nicht sterben möchte, frei zu wählen.

Klassischer ist kein Fortbewegungsmittel in Palermo: Männer auf Motorrollern.

Orlando sagt es so: «Wer nach Palermo kommt, ist Palermitaner.»

Verzweiflung

Einen knappen Kilometer von Orlandos Büro entfernt arbeitet Igor Gelarda. Im Polizeikommissariat gleich neben dem Bahnhof. Seine Mittagspause ist kurz, nun steht er auf dem Trottoir vor einer Bar, an einem wackeligen Tisch aus weissem Plastik.

«Orlando deliriert», sagt er.

Der Sizilianer, der sich ausgerechnet der Lega aus dem Norden des Landes anschloss: Igor Gelarda, Polizist.

Gelarda ist Polizist. 44 Jahre. Hobbyhistoriker. Und er verzweifelt wegen Palermo. Das jedenfalls steht in seiner Twitterbiografie. Der Grund für Gelardas Verzweiflung hat einen Namen: Leoluca Orlando.

Gelarda schaut leicht misstrauisch. Warum interessiert sich ein Schweizer Medium für seine Meinung? Wie ist die politische Ausrichtung der Republik? Die Frage hinter diesen Fragen ist: Will mich mal wieder jemand in die Pfanne hauen?

Gelardas Skepsis ist nachvollziehbar. Die letzten Monate waren hart für ihn. Bei den Wahlen im Frühling kandidierte er in Palermo für die 5-Sterne-Bewegung. Er wurde in den Gemeinderat gewählt. Dann trat er aus der Partei aus und wechselte zur Lega.

Zur Lega! Als Sizilianer! Das hört er dauernd. Für viele grenzte das an Verrat.

Denn die heutige Lega hiess bis vor einem Jahr Lega Nord. Das «Nord» im Namen war nicht zufällig, der Traum der Partei war Padanien, ein eigener Staat in Norditalien. Und das grösste Feindbild waren die terroni. Die Süditaliener. Taugenichtse, Geldverschwender, ungebildet und kriminell.

Und wenn der Süditaliener in den Augen der leghisti übel war, so war der südlichste Italiener, der Sizilianer, das grösste Übel überhaupt.

«Tempi passati, das ist Vergangenheit», sagt Gelarda. Die Parteiverantwortlichen von damals seien nicht die von heute. «Jetzt will die Lega auch für uns Süditaliener das Beste. Soll mich mein verletzter Stolz wegen gestern davon abhalten, morgen gute Politik zu machen?»

Gute Politik, nicht wie die von Orlando, meint Gelarda.

Prozession für die Madonna della Mercede auf der Piazza Sant’Anna.
Wohnblocks am Oreto, der unweit von hier ins Meer mündet.

Die Zeit des Bürgermeisters sei schon lange abgelaufen. «‹Wer nach Palermo kommt, ist Palermitaner›, bla bla bla! Viele junge Palermitaner müssen noch heute die Insel verlassen, weil es hier keine Arbeit gibt für sie. Unser Bürgermeister sollte sich besser um sie kümmern. Und um das da» – mit einer vagen Handbewegung zeigt Igor Gelarda vor sich auf die Strasse.

«Während Monaten funktionierte hier im Quartier die Strassenbeleuchtung nicht. Und der Stadtverwaltung fehlte das Geld, um sie zu reparieren. Das ist symptomatisch. Orlando hat es nicht im Griff. Aber ihn kümmerts nicht, er drischt lieber pathetische Phrasen auf der Titelseite der ‹New York Times›.»

Gelarda muss gleich los, seine Mittagspause ist zu Ende. Aber er will noch über Giuseppe Tomasi di Lampedusa sprechen, den sizilianischen Aristokraten und Schriftsteller.

«Tomasi di Lampedusa sagte: Wir Sizilianer haben viele glorreiche Momente erlebt in unserer Geschichte. Aber diese Momente wurden uns beschert von den Invasoren, sie wurden dem Sizilianer gewissermassen übergestülpt. Es ist Zeit, dass wir selber für diese Grossartigkeit sorgen, dass wir sie aus unserem Innersten hervornehmen. Dass wir aufwachen. Und ich glaube, die Lega wird das hier schaffen.»

Gelarda lässt den letzten Satz in der Luft stehen und verabschiedet sich freundlich.

Tomasi di Lampedusa wird auf Sizilien oft zitiert. Jeder nimmt sich aus dem Werk, was ihm nützt. «Il Gattopardo» heisst sein berühmter Roman, der die Geschichte einer italienischen Adelsfamilie erzählt. Die Geschichte eines Niedergangs vor dem Hintergrund des risorgimento, der italienischen Wiedervereinigung Mitte des 19. Jahrhunderts.

Hyänen und Heidegger

Noi fummo i gattopardi, i leoni. Chi ci sostituirà saranno gli sciacali, le iene. (Wir waren die Leoparden, die Löwen. Die, die uns ersetzen, sind die Schakale, die Hyänen.)

Einer der meistzitierten Sätze aus «Il Gattopardo» schmückt als Graffito in Grossbuchstaben eine Mauer in der Kalsa. Das arabische Quartier wurde im Zweiten Weltkrieg stark bombardiert. Dann war es während Jahrzehnten heruntergekommen und verrufen, bis es saniert wurde. Heute steht das Viertel symbolisch für das Palermo, das sich aufgerafft und neu erfunden hat.

Ballonverkäufer im arabischen Quartier Kalsa, das auf eine lange Geschichte zurückblickt und heute für den Wiederaufbau von Palermo steht.

In der Kalsa steht auch der Palazzo Butera. Ein kleiner Palast aus dem 18. Jahrhundert mit freiem Blick auf den Golf von Palermo. Lange war der Palazzo sich selbst überlassen, bis ihn der Mailänder Kunstsammler und Mäzen Massimo Valsecchi kaufte und renovierte. Heute wohnt Valsecchi hier, zusammen mit seiner Frau. Zugleich ist der Palast ein Kunstmuseum und Teil der Manifesta, der Kunstbiennale, die dieses Jahr in Palermo gastiert.

An einem Freitagabend im September drängeln sich im zweiten Stock des Palazzo Butera um die sechzig junge Leute in einen Saal. Es sind Kunststudentinnen, Architekten, Politikwissenschaftlerinnen, Fotografen. Sie sind gekommen, um Bürgermeister Orlando zuzuhören.

Der setzt an und erzählt. Mehr als eineinhalb Stunden lang. Ein höchst unterhaltsamer Monolog über die Politik, die Mafia, die Flüchtlingskrise. Die Luft im Raum ist stickig. Aber niemand steht auf und geht. Niemand blickt auf sein Smartphone. Alle hören Orlando zu.

Er sagt typische Orlando-Sätze wie: «Ich bin der Idiot von Palermo, und ich wünsche mir, dass Palermo dereinst keinen Idioten wie mich mehr braucht.»

Oder: «Als junger Mann war ich so unbedarft und dachte, dass eine Frau nicht schön und gescheit gleichzeitig sein kann. Und dann lernst du irgendwann eine schöne Frau kennen, die so gescheit ist, dass du Lust bekommst, dich zu erschiessen.»

Und er redet über seine grosse Leidenschaft, den Philosophen Martin Heidegger.

«Ich lebte in Heidelberg und erfuhr per Zufall, dass Heidegger in der Nähe einen Auftritt haben würde. Ich wollte ihn sehen. Also fuhr ich hin. Aber ich hatte keine Chance, sah Heidegger nicht einmal aus der Ferne. Dafür lernte ich per Zufall seinen Fahrer kennen. Das war ein junger Amerikaner, sehr exzentrisch. Wir redeten lange miteinander, ich war beeindruckt, weil der Typ zwar als Fahrer arbeitete, aber wahnsinnig viel Geld hatte.»

Erst viele Jahre später habe er dann erfahren, erzählt Orlando, womit der Mann eigentlich sein Geld verdiente. Er verkaufte Drogen. «Und ich habe auch erfahren, wie er hiess: Terrence Malick, der später als Filmregisseur Karriere machte.»

Unzählige Male habe er in den Jahren danach versucht, mit Malick Kontakt aufzunehmen, immer ohne Erfolg. «Falls jemand von euch seine Nummer hätte, wäre ich sehr dankbar», ruft Orlando in die Menge. Und alle lachen.

In Palermo liegt eine Ahnung in der Luft

«Leoluca ist der beste Geschichtenerzähler, den ich kenne», sagt am nächsten Tag Dario Nepoti.

Nepoti ist der, der Orlando in den Palazzo Butera eingeladen hat.

Und Nepoti ist der Gründer der Scuola Politica Gibel, einer Art politischer Sommerakademie für unter 35-Jährige. Sechs Tage Debatten und Workshops mit Politikern, Künstlerinnen, Architekten und Wissenschaftlerinnen. Und eben, als Ehrengast: Leoluca Orlando.

Dario Nepoti ist halb Mailänder, halb Sizilianer. Ein 30-jähriger Mann mit abgebrochenem Studium der Politikwissenschaften. «Ich hab mich an der Universität zu Tode gelangweilt.»

Er verlässt die Uni und organisiert ein experimentelles Festival, in den Gärten eines barocken Palastes im Nordwesten Mailands. Ein dreitägiges Fest mit Musik, Kunst und Architektur und vielen schönen Menschen, die schöne Dinge hören und machen.

Dann gründet Nepoti ein Plattenlabel. Und er reist regelmässig nach Sizilien, nach Cefalù, arbeitet dort auf dem Bauernhof seiner inzwischen 104-jährigen Grossmuter. Die Villa Catalfamo erstreckt sich über 35 Hektaren, vom Meer bis in die Hügel. Oliven, Zitronen und Orangen. 2016 werden grosse Teile davon zerstört, als der Scirocco über das Land fegt und das Feuer mit sich bringt. Seither arbeitet Nepoti am Wiederaufbau.

Nepoti spricht ein Italienisch ohne dialektalen Einschlag, er gestikuliert kaum. Nichts ist störend, nichts zu viel. Ein bisschen wie ein zum Leben erweckter David von Michelangelo.

Zum Treffen hat er zwei Bücher mitgebracht. Die gesammelten Reden von Robert Kennedy. Und einen englischen Essayband des japanischen Architekten Tadao Ando. Dass sie oft gelesen werden, sieht man beiden Büchern an.

Er schlägt den Ando auf und zeigt seine Lieblingsstelle:

Given that we all have a limited time here on earth, I came to the conclusion that I would fight for my own personal goals and beliefs. I made this clear in a willful proclamation to myself, adopting a guerilla mentality and declaring: «I will use my profession to resist deprivation of freedom, and, with belief in myself, will fight against the status quo.»

Diese Erklärung, die der Architekt mit 24 Jahren niederschrieb, wird zu Nepotis Mantra. Die Freiheit verteidigen, den Status quo bekämpfen. Mit seiner Scuola Politica will er, dass sich seine Generation wieder in die Politik verliebt.

Über Generationen hinweg spielt die katholische Kirche eine zentrale Rolle: Prozession der Madonna della Mercede am letzten Sonntag im September.
Friedensboten: Die Tauben sind bereit für das Fest zu Ehren der Madonna della Mercede.

«Viele junge Italiener wenden sich ab von der Politik. Wir haben oft das Gefühl, das alles habe gar nichts mehr mit uns zu tun. Aber das dürfen wir nicht», sagt er, «wir dürfen das nicht den Leuten im Land überlassen, die am lautesten schreien und am schnellsten twittern.»

Palermo sei die richtige Stadt für sein Projekt. Nicht Rom, nicht Mailand. Hier liege etwas in der Luft, eine Ahnung, wie vielleicht in Berlin vor 25 Jahren.

«Und Palermo hat Orlando. Zum Glück hat Palermo Leoluca Orlando.»

Vergangenen Mai flog dieser mit einer Delegation nach Kolumbien. Die Stadtbehörden von Medellín hatten Orlando eingeladen. Man wollte Erfahrungen austauschen, beide Städte haben ihre gewaltsame Vergangenheit, beide ihre Erfahrung mit dem organisierten Verbrechen. Dario Nepoti durfte Orlando begleiten.

«In Medellín konnte ich ihn vier Tage lang beobachten. Er war an zwanzig Treffen und hat zwanzigmal eine Geschichte über Palermo erzählt, immer eine andere», erzählt Nepoti. An einem Treffen mit Militärpolizisten seien diese mitten in seinem Vortrag aufgestanden und hätten minutenlang applaudiert.

Kultur als Chefsache

«Guten Tag allerseits!» Orlandos Bassstimme erfüllt die überhitzte Luft in der Kirche Santa Maria dello Spasimo.

Er steht unter dem Bogen beim Eingang und ist sich der Wirkung seines Auftrittes bewusst. Mit Orlando kommt Energie in die Szene: Frauen, die ermattet von der Hitze halb auf ihren Stühlen lagen, setzen sich gerade hin und schlagen die Beine übereinander. Ein paar Männer springen auf, richten sich die Hemdkragen, fahren sich durchs Haar und eilen zum hohen Gast.

Dieser trägt, was er als Bürgermeister immer trägt: dunklen Anzug, weisses Hemd, Krawatte. Die Sonne brennt auf die Anwesenden herunter, denn dem Gotteshaus fehlt das Dach. Orlando schwitzt. Und schüttelt trotzdem Hände, umarmt, verteilt Küsse. Er schenkt jedem Gegenüber seine ungeteilte Aufmerksamkeit, als wäre dieser der wichtigste Mensch auf der Welt.

Orlando ist da, um vor versammelter Lokalpresse ein klassisches Konzert anzukündigen. Hundert Cellisten werden zusammen in dieser Kirche auftreten. Palermo ist diesen Sommer nicht nur Austragungsort der Manifesta, sondern auch italienische Kulturhauptstadt 2018. Das Konzert ist Teil des offiziellen Programms. Eine grosse Veranstaltung. Und somit: Chefsache.

«Palermo dürstet es nach Kultur!», ruft er auf einer kleinen Bühne den Anwesenden zu. Die Organisatoren nicken, die Musiker schwärmen, die Lokalpresse stellt kaum Fragen. Kritische ohnehin nicht.

Die Kunstbiennale Manifesta machte Palermo zur italienischen Kulturhauptstadt 2018: «Il Giardino dei Giusti» in der Via Alloro ist Teil des Projekts «The Planetary Garden».
Manifesta II: Die Installation «The Soul of Salt» von Patricia Kaersenhout im Palazzo Forcella De Seta.

Dabei gäbe es durchaus Kritik. Gerade auch aus Kulturkreisen. Nur kommt diese Kritik nicht unbedingt laut und gehässig. Manchmal ist sie besonnen und leise und trägt den wunderbaren Namen Luisa Tuttolomondo.

Was ist, wenn er nicht mehr da ist?

Luisa Tuttolomondo ist Heimkehrerin. Sie hat einige Jahre in Norditalien gelebt und studiert. Wie die meisten Menschen, die weg waren und dann zurückkehren an den Ort, der sie ins Leben spuckte, hat sie einen unbestechlichen Blick auf ihre Heimat. Sie kann schliesslich vergleichen.

Tuttolomondo ist Soziologin, ihr Fachgebiet ist Bürgerbeteiligung. Palermo habe unter Orlando vieles in diese Richtung unternommen, sagt die zurückhaltende Frau. Und trotzdem: «Es macht sich ein Unbehagen breit.»

Die Heimkehrerin aus dem Norden stellt ein wachsendes Unbehagen fest in der Stadt: Luisa Tuttolomondo, Soziologin.

Sie zeigt mit dem Daumen über die Schulter hinter sich, wo das Teatro Massimo steht, das Opernhaus. «Wer nicht zur etablierten Kultur gehört wie die da, der hat es schwer. Aber niemand muckt auf, Palermo ist klein. Alle kennen sich. Darum sagen sie nichts, weil sie vielleicht irgendwann wieder was voneinander wollen. Geld, Zeit, was auch immer.»

Zeit und Geld, von beidem habe es immer weniger für die kleinen kulturellen Initiativen in der Stadt.

«Wir haben das Gefühl, dass alle Mittel, die früher da waren, in die Manifesta und die Programme der Kulturhauptstadt 2018 geflossen sind. Alles für die Grossen.» Für die internationalen Schlagzeilen. «Und wir, wir machen trotzdem weiter und arbeiten praktisch gratis. Wir haben auf Sizilien dieses selbstausbeuterische Gen.»

Luisa Tuttolomondo nimmt einen Schluck Zitronenlimonade und fährt weiter. Sie erzählt von einem kleinen Filmfestival, das hätte stattfinden sollen. Kurz vor dem Start hätten die Organisatoren alles abgeblasen, weil die Stadt die Unterstützungsgelder trotz Zusagen nicht überwiesen habe.

Oder: Es gebe jetzt diese geführten Touren durch das Ballarò-Quartier, das für seine Street-Art bekannt ist. Für die Premiere sei ein grosses Tamtam veranstaltet worden, mit hohen geladenen Gästen aus der Politik und der Kunstszene. Doch an die normalen Palermitaner habe niemand gedacht, klagt Tuttolomondo, «nicht mal die Quartierbewohner hat man eingeladen».

Die kulturelle Vielfalt lebt inmitten des historischen Palermo: Markt im Ballarò-Quartier.

Luisa Tuttolomondo gibt sich Mühe, nicht laut zu werden. Sie möge den Bürgermeister, Orlando sei charismatisch und seine Haltung zu den Migranten mache sie stolz. Aber Orlando nehme oft den Mund zu voll. Und sei dann nirgends mehr, wenn es darauf ankomme.

«Es kann doch nicht sein, dass in Palermo alles über ihn läuft, alles mit ihm steht und fällt. Dass er wie ein Sonnenkönig Geld verteilt oder eben nicht verteilt. Was passiert, wenn er mal nicht mehr da ist?»

Das Geheimnis

Noch ist er da. In seinem Büro im Palazzo delle Aquile serviert ein junger Mann in Uniform den Kaffee. «Dolce o amaro?» – möchten Sie ihn süss oder bitter?, fragt der Diener und verschwindet wieder diskret.

Orlando ist seit 1985 – mit einigen Jahren Unterbrechung – Bürgermeister von Palermo. Im Jahr, als Orlando gewählt wurde, gewann ein 17-jähriger Deutscher namens Boris Becker zum ersten Mal Wimbledon. In Moskau wurde Michail Gorbatschow zum Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt.

Orlandos letzte Amtszeit dauert noch vier Jahre. Er hätte dann fast vier Jahrzehnte die Politik in Palermo geprägt.

Besuch mittendrin im typischen Palermo: Taverna Azzurra in der Via Maccherronai.
Un caffè, prego! Was vom Tage übrig blieb.

Wenn es nach ihm geht, wird er bis zuletzt jeden Tag hier auftauchen. «Ich habe in all den Jahren keinen einzigen Tag gefehlt, nicht einmal mit Lungenentzündung», sagt Orlando.

«Meine Frau hat das nie verstanden, diese Obsession mit meiner Arbeit. Vor ein paar Jahren hat sie verzweifelt versucht, ihren Psychoanalytiker davon zu überzeugen, mich als Patienten zu nehmen. Was natürlich nicht geht, weil schon sie seine Patientin ist. Er sagte ihr dann – Gott segne den Mann – dass ich keinen Psychoanalytiker brauche, solange ich Politik mache. Und er hat vollkommen recht damit.»

«Das Geheimnis liegt hier»: Orlando macht eine Geste an der Schläfe, als würde er dort etwas aufschliessen.

Seine letzte Amtszeit dauert noch vier Jahre, und dann? Leoluca Orlando macht sich keine Sorgen.

«Ich drehe jeden Tag das Schlüsselchen und überzeuge mich, dass das, was ich mache, das Wichtigste der Welt ist. Sollten Sie mich eines Tages antreffen, wie ich in Kinshasa am Busbahnhof Kaugummis vom Boden wegkratze, werde ich Ihnen in die Augen schauen und Ihnen voller Überzeugung sagen: ‹Kaugummis in Kinshasa vom Boden zu kratzen ist die wichtigste Arbeit der Welt.›»

Wie Orlando so da sitzt, dunkler Anzug, weisses Hemd, Krawatte, das Gesicht voller Entschlossenheit, eine schwarze Haarsträhne in der Stirn, die beiden Hände zu Fäusten auf der Tischplatte – man glaubt es ihm. Man weiss, die Chance ist gering, dass dieser Mann je Kaugummis wird vom Boden kratzen müssen. Aber so, wie er es erzählt, glaubt man es ihm.

Und vielleicht liegt ja darin das ganze Geheimnis.

Zur Autorin

Nicoletta Cimmino, Jahrgang 1974, in Biel geboren, ist Journalistin. Und Moderatorin bei der Sendung «Echo der Zeit» von Radio SRF. Für die Republik hat sie sich schon mit der Misere des italienischen Fussballnationalteams befasst, das die WM 2018 verpasste.