Mannaggia la miseria!
Eine Fussball-Weltmeisterschaft ohne Italien ist wie ein Rendez-vous, zu dem der Schwarm nicht erscheint. Davon geht die Welt nicht unter. Aber weh tuts trotzdem. Dabei war es mal so schön. Vor langer Zeit.
Von Nicoletta Cimmino, 22.06.2018
Es ist die alte Wahrheit: Wie schön etwas war, merkt man oft erst, wenn es fehlt. Und schön war es, im Sommer 1982, als Italien seinen dritten Weltmeisterschaftstitel holte. Es war ein langer, freier, glücklicher und schier endloser Sommer, wie man ihn vielleicht nur als achtjähriges Kind erleben kann. Grosse Ferien mit goldenen Tagen.
In jenem Juli war es so heiss, dass der Asphalt weich wurde. Im Radio sang Riccardo Fogli, der ein paar Wochen zuvor das Sanremo-Festival gewonnen hatte, von einfachen Leuten mit zu grossen Träumen. Und zu kleinen Lieben.
Für mich waren zu kleine Lieben noch weit weg im Sommer 1982. Für das achtjährige Mich gab es nichts anderes als Vergnügen, chlorgerötete Augen, aufgeschürfte Knie, Glace und: Fussball.
Fussball: Das war mein Vater. Mein Vater, der sogar aussah wie die italienischen Fussballer, die damals im Fernsehen zu sehen waren. Dunkle, ein wenig längere Haare als die Väter meiner Freundinnen. Koteletten an den Wangen. Ein imponierender Adamsapfel. Und der typische Gang eines Fussballers. Ein energisches Vorwärtsschreiten, zackige Knie, der Oberkörper, der bei jedem Schritt ein wenig nach vorne schnellt, grosszügig schlenkernde Arme und: O-Beine. Ich bilde mir heute ein, dass ich es einem Mann an seiner Art zu gehen ansehe, ob er jemals ernsthaft Fussball gespielt hat.
Zoff spielte ein wenig mit Krawatte
Mein Vater war Norditaliener. Das heisst, er war immer mit angezogener Handbremse unterwegs, wenn es darum ging, Gefühle zu zeigen. So wie Dino Zoff, der 1982 im Tor stand. Zoff kommt aus dem Friaul und hat den passenden Übernamen «Der Schweiger». Über ihn sagte jemand neulich sehr treffend: Zoff spielte immer ein wenig mit Krawatte. So war auch mein Vater. Ausser eben wenn es um Fussball ging. Wenn es um Fussball ging, wurde aus dem Gletscherbach ein Lavastrom.
Vielleicht mochte ich es deshalb so sehr als Kind, wenn wir im Fernsehen Fussball schauten. Da zeigte mein Vater Gefühle. Lava. Er lachte, schrie Befehle für Pässe in Richtung Bildschirm, spornte an und: fluchte. Er teilte aus. «Pirla!» – Depp. Das war noch harmlos. Die Steigerung war «Mannaggia la miseria!» – verdammt! Er fluchte sich durch die Bibel, angefangen bei Judas bis hin zur Mutter Gottes. Was etwas heissen will, wenn man die Beziehung kennt, die Italiener für gewöhnlich mit allem Mütterlichen und der Mutter aller Mütter haben.
Das Fluchen meines Vaters ist meine Erinnerung an den 11. Juli 1982: Anpfiff 20 Uhr. Bernabéu-Stadion in Madrid. Den Italienern gegenüber stand Deutschland. Das Deutschland mit Rummenigge, Littbarski, Stielike. Und Schumacher im Tor. Der böse Schumacher hatte im Halbfinal dem Franzosen Battiston mit einem niederträchtigen Foul die Zähne ausgeschlagen.
Fussball sah ich am Abend des 11. Juli 1982 keinen. Aber ich hörte ihn.
Wir Kinder sassen auf der Quartierstrasse auf dem Boden. Auf der linken Strassenseite stand ein kleines Mehrfamilienhaus. Dort wohnte der Deutsche. Auf der rechten Strassenseite stand ein grosser Wohnblock. Dort wohnte der Italiener. Mein Vater.
Alle Fenster standen weit offen. Wir hörten den Deutschen, wir hörten den Italiener. Wir sahen keine Sekunde des Finals und bekamen doch alles mit. Wir hörten das ungläubige Jaulen von rechts, als Cabrini in der 26. Minute einen Penalty verschoss. Ein paar Minuten später das Geschimpfe von rechts und links, Conti bekam eine gelbe Karte. Und dann, viel zu viele Minuten später, ein erlöstes Schreien von der rechten Seite: Paolo Rossi hatte das erste Tor geschossen.
So blendend italienisch
Der Rest ist Geschichte. Die Italiener wurden Weltmeister. Nach Rossi kamen die Tore von Tardelli und Altobelli. «Rossi, Tardelli e Altobelli» wurde in den folgenden Jahren zu einer Art Eselsbrücke, wann immer über dieses Finale gesprochen wurde. Ich schwöre, mein Vater hat das so nie gesagt. Wie er übrigens auch nie vom bel paese redete, wenn er von seiner Heimat sprach. Ich glaube, das machen nur Schweizer, wenn sie über Italien reden.
Der Rest also ist längst Geschichte, und die Geschichte gehört allen. Jeder nimmt sich daraus, was er will. Für mich aber war der Abend gewissermassen das erste Kapitel einer langen, tiefen und – wie immer, wenn viel Liebe dabei ist – aufreibenden Beziehung. Die Liebe zur italienischen Fussball-Nationalmannschaft als Nabelschnur, die mich mit dem Heimatland meines Vaters verbindet.
Die Fernsehbilder dieses WM-Finals sah ich erst später. Wenn ich sie mir heute anschaue, ist der damalige Sommer wieder da. Man sieht den italienischen Staatspräsidenten Sandro Pertini, wie er auf der Tribüne das Spiel verfolgt, er sitzt neben dem spanischen Königspaar. Immer wieder springt er auf, glättet sein Sakko, knöpft es auf und wieder zu. Nach dem dritten Tor der Italiener dreht er sich zur deutschen Delegation und schüttelt den Zeigefinger. «Das holt ihr nicht auf», will das heissen.
Man sieht den «Mister», Trainer Enzo Bearzot. Er sitzt auf der Bank und schaukelt mit dem Oberkörper vor und zurück. Die Anspannung eines eingesperrten Raubtieres. Aber blendend, und so italienisch, mit hellblauem Hemd und weissem Jackett, die Haare nach hinten gestrichen. Man sieht Dino Zoff. Elegant und wohlerzogen nimmt er den Pokal in die Hände, überreicht von König Juan Carlos.
Man sieht sie alle jubeln und den Pokal über den Rasen tragen. Sie sind jung und verschwitzt, und das Königsblau ihrer Trikots kontrastiert mit dem Weiss ihrer Zähne und dem Dunkelbraun ihrer Augen. Man sieht den besten Libero aller Zeiten, Gaetano Scirea, wie er sein schönes Liberolächeln lächelt. Ein Lächeln, das nur sieben Jahre später für immer erlöschen soll, auf einer polnischen Autobahn.
Ich höre, wie das Publikum im Stadion in den blauen Himmel schreit. Ich höre Gesang.
Und wenn ich ganz genau hinhöre, dann höre ich auch meinen Vater.
Ich höre ihn fluchen. Aber dieses Mal vor lauter Glück.