«Das Soziale darf man nicht den Populisten überlassen»

Nach zwanzig Jahren tritt Paul Rechsteiner als oberster Gewerkschafter der Schweiz zurück. Ein Gespräch über Macht und Motivation und die Erfolgsgeschichte der Schweiz in einem schwierigen europäischen Umfeld.

Von Urs Bruderer, Christof Moser (Interview) und Linus Bill (Bilder), 24.10.2018

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Mittelscheitel, Schnauz und ein wacher Blick: So kennt man Paul Rechsteiner (aufgenommen im Bundeshaus).

Paul Rechsteiner ist ein Rätsel. Er ist so alt wie Bundesrat Johann Schneider-Ammann, 66, und so motiviert wie Xherdan Shaqiri. Seit 32 Jahren sitzt er im Parlament, denkt nicht ans Aufhören und wird auch von niemandem dazu aufgefordert. Er gilt als einer der ganz linken Linken und steht im Ruf, der heimliche Vater der wichtigsten Kompromisse unter der Bundeshauskuppel zu sein.

Rätselhaft ist auch, wie er neben seinen Mandaten als Ständerat und Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) als Anwalt auch noch regelmässig einfache Leute verteidigen kann, ohne je müde zu wirken. Weil er öffentlich nur über Löhne und Renten spricht, ist kaum bekannt, dass er sich in Literatur und Kunst auskennt. Auch soziologische und politische Wälzer zieht er sich rein, und zwar wohl so wie andere Leute Netflix-Serien – zur Entspannung nämlich. Denn als Politiker versagt er sich jedes grossdenkerische Dozieren und kämpft strikt für die nächsten konkreten Schritte. Bei alldem wirkt er bescheiden, obwohl er sich Nebenbemerkungen zu seinem Anteil an der politischen Geschichte der Schweiz der letzten Jahrzehnte nicht immer verklemmen kann.

Paul Rechsteiner ist das unauffälligste politische Ausnahmetalent der Schweiz. Als Gewerkschaftslinker gewann er im konservativen St. Gallen vor sieben Jahren die Wahl in den Ständerat – gegen den beliebten SVP-Präsidenten Toni Brunner. Zwanzig Jahre lang stand er unangefochten an der Spitze des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Er polte den Verband um. Aus einem Becken aufs Gewerkschaftliche eingeengter Sozialdemokraten am rechten Flügel der Partei wurde ein schlagkräftiger Verband, der sich für eine offene, linke Politik einsetzt. Gemessen am Organisationsgrad sind die Schweizer Gewerkschaften im internationalen Vergleich schwach. Doch unter Rechsteiners Führung entwickelten sie grosse politische Kraft. Nun gibt er die SGB-Führung im November ab.

Wir treffen Paul Rechsteiner in seiner Kanzlei in St. Gallen. Zwei Stunden hat er Zeit, dann muss er zu einer Gerichtsverhandlung. Wir legen gleich los, er denkt nicht mal an ein Glas Wasser, weder für sich noch für seine Gäste.

Herr Rechsteiner, Sie haben den Ruf eines Strategen, der mit einem klaren Ziel in jede Begegnung geht. Was ist Ihr Ziel für dieses Gespräch?
Wir reden offen miteinander, ich lasse mich überraschen.

Wie immer werden Sie nicht über die Privatperson Paul Rechsteiner reden wollen.
Ich würde nicht mit Ihnen reden, wenn es nicht um Politik ginge.

Es ist beinahe bewundernswert, wie stur Sie private Auskünfte verweigern. Warum halten Sie das so?
Erstens liegt mir das nicht, und zweitens geht es mir um politische Anliegen. Das hat zur Folge, dass man in der Öffentlichkeit steht. Dem stelle ich mich, aber nicht als Privatperson.

SGB-Präsident, Ständerat, Rechtsanwalt – gibts da überhaupt noch ein Privatleben?
Ich kann mich nicht beklagen.

Bevor Sie die Spitze des SGB übernahmen, sagten Sie: «Der Megatrend des Neoliberalismus kann gebrochen werden.» Das ist zwanzig Jahre her. Hatten Sie, rückblickend betrachtet, recht?
Wir standen damals vor enormen Weichenstellungen. Die Krise der 90er-Jahre hatte erstmals in der Schweiz zu massiven sozialen Rückschlägen geführt und zu Druck auf die Arbeitsbedingungen. Das war völlig neu. Noch 1990 lag die Arbeitslosigkeit in der Schweiz bei null, das kann man sich fast nicht mehr vorstellen. Die Krise hat alles verändert. Die Unsicherheit der Jungen, einen Job zu finden, die Diskreditierung des Staates, Privatisierungen als Allheilrezept und der Angriff auf den Sozialstaat – all das kam aufs Mal, und die Gewerkschaften standen mit dem Rücken zur Wand. Sie mussten sich neu erfinden, in die Offensive gehen und den Streik als Kampfform neu entdecken.

Gelang der Bruch mit dem Neoliberalismus?
In der Schweiz ja. Weil wir, die Gewerkschaften, damals sagten, dass wir für eine Öffnung sind mit der Personenfreizügigkeit als dem harten Kern der bilateralen Verträge mit der EU – aber nur unter der Bedingung eines neuen Systems zum Schutz der Löhne. Dass es Mindestlöhne und Lohnkontrollen geben könnte in der Schweiz, war vorher unvorstellbar. Aber das waren unsere Bedingungen.

Warum konnten Sie sich durchsetzen?
Entscheidend war, dass die Sozialdemokratie und dann auch die Grünen die Politik der Gewerkschaften mittrugen. Aber auch die Arbeitgeberseite musste mitziehen und ein zwar rechter, aber weitsichtiger Bundesrat. So kam es zu dem, was wir heute als flankierende Massnahmen für selbstverständlich halten.

Und die Mindestlöhne?
Da brauchte es unsere Kampagne für einen Mindestlohn von 3000 Franken. Das war nicht nur auf Arbeitgeberseite umstritten. Auch sozial orientierte Kreise wie die grüne Zürcher Stadträtin Monika Stocker wollten Tieflöhne mit staatlichen Lohnzuschüssen ergänzen. Unser Gegenkonzept waren existenzsichernde Löhne. Wir sagten: «Arbeit hat einen Wert, und der Lohn muss zum Leben reichen.» Wir kamen mit unserer Kampagne enorm schnell vorwärts, mit dem Mittel von Gesamtarbeitsverträgen und auch einigen Streiks – und die stiessen auf ein erstaunlich positives Echo in einem Land, das Streiks eigentlich gar nicht mehr kannte.

Das Momentum gehörte Ihnen.
Wir konnten bei uns die Wende einleiten, während in Deutschland genau das Gegenteil lief, Lohnsenkungen bis hin zu Ein-Euro-Jobs. Als Folge davon kam es dort zur Spaltung zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften. Die Politik der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer erzeugte ungeheuren Druck auf die Löhne, es kam zu einem massiven Sozialabbau, Hartz I bis IV. Auch Rentenalter 67 hätte eine CDU-Regierung allein nie geschafft. In der Schweiz lief das Gegenprogramm, die Verteidigung von Löhnen und Renten.

Warum war das möglich?
Die Gewerkschaften waren zentral. Sie stellten sich politisch neu und offensiv auf und organisierten sich neu, etwa mit der Gründung der Unia, die auf die Veränderungen in der Arbeitswelt reagierte. Wichtig war auch die direkte Demokratie und besonders das Instrument des Referendums. Es erlaubt Verbänden, unabhängig von den politischen Parteien den Sozialabbau zu bekämpfen.

Das politische System der Schweiz hat ihr die Exzesse des Neoliberalismus erspart?
Ja, das kann man sagen.

Warum ist die SP Schweiz nicht auf den «Dritten Weg» eingeschwenkt oder – wie Sie sagen – auf den neoliberalen Weg der deutschen SPD oder von Labour in Grossbritannien unter Tony Blair?
Diese Strömung gab es in der SP durchaus, Stichwort Gurten-Manifest. (Lacht.) Die Kräfte waren da, aber sie haben verloren.

Wir vermuten, weil die SP im Schweizer System eine extremere Position einnehmen kann, bevor sie am Ende des politischen Prozesses einen Kompromiss mitträgt. Die SPD in Deutschland muss sich nach der Macht und nach der Mitte orientieren und ist darum den Moden der Zeit mehr ausgeliefert.
Das ist eine oberflächliche, politologische Analyse. Ein Schlüsselmoment war das Referendum gegen die Strommarkt-Liberalisierung 2002. Das haben wir vom SGB aus geführt, auch gegen Leute aus der eigenen Partei wie Simonetta Sommaruga, Ruedi Rechsteiner oder den zuständigen SP-Bundesrat Moritz Leuenberger. Warum haben wir diesen Kampf gewonnen? Weil wir zeigen konnten, dass das Monopol beim Strom effizient ist und eine Liberalisierung ökonomischer Unsinn.

Die entscheidende ideologische Schlacht um den Fetisch des freien Marktes.
Es war nicht einfach eine Frage von links oder rechts. Wer das Dossier kannte, gab uns recht. Die geplante Liberalisierung und Privatisierung widersprach den Interessen der Bevölkerung. Und das galt auch für andere Privatisierungen. Warum sind alle Volksabstimmungen über die SBB derart glorios zugunsten der Bahn ausgefallen, ob mit oder gegen den Bundesrat? Zum Beispiel bei der Alpeninitiative? Der Service public hat starken Rückhalt in der Bevölkerung, und der blinde Liberalisierungskurs, wie er von Teilen der Sozialdemokratie mitgetragen wurde, war gegen die Bevölkerung. Das gilt auch für England, für Deutschland.

Reden wir von Europa. Auch dort ist der Neoliberalismus, der Glaube an Freihandel und an möglichst viel Markt, gebrochen worden. Aber nicht von der Sozialdemokratie, sondern von der Finanzkrise.
Es ist umgekehrt. Mit der Finanzkrise wurde das neoliberale Programm in der EU noch verstärkt, wie das [der Ökonom und ehemalige griechische Finanzminister] Yanis Varoufakis in seinem Buch beschreibt: Abbau sozialer Errungenschaften als Folge der Krise, die Durchsetzung eines neoliberalen Programms, und alles der Demokratie entzogen. Diese negative Entwicklung diskreditiert das EU-Modell zum Teil bis heute. Als ich in die Politik kam, in den 80er-Jahren, stand an der Spitze der EU noch Jacques Delors, ein christlicher Sozialist, der für einen EU-Markt im Rahmen eines europäischen Sozialmodells eintrat.

Delors setzte sich nicht durch. Und die Finanzkrise trieb die Wählerinnen und Wähler in Europa den Rechtspopulisten zu, die den Freihandel verteufeln und gegen Flüchtlinge hetzen.
Es ist die Tragödie der europäischen Linken, dass sie keine Antworten auf die Herausforderungen der 90er- und Nullerjahre gefunden hat. Jetzt stehen ironischerweise Altlinke für das Bedürfnis nach einer Neuorientierung. Am Erfolg älterer Herren wie Jeremy Corbyn in England oder Bernie Sanders in den USA kristallisiert sich das Bedürfnis nach einer neuen, sozialen, linken Perspektive. Schlimm ist, dass in vielen Ländern Europas die klassischen sozialdemokratischen Parteien massiv verloren haben oder aufgerieben wurden wie in Frankreich. Sie müssen soziale Fragen wieder ins Zentrum rücken, damit wieder Wahlen und Mehrheiten gewonnen werden können.

Führt der Weg über einen linken Populismus, wie ihn zum Beispiel die belgische Soziologin Chantal Mouffe fordert?
Populismus – ich denke lieber über konkrete Schritte nach als in Grosskategorien. Und die linkspopulistischen Projekte, die es in Europa bereits gibt, haben oft eine alte, nationalistische Komponente. Da ziehe ich eine Grenze. Die internationalistische Ausrichtung der Linken ist für mich zentral. Für mich ist Populismus darum als Kategorie mässig brauchbar.

Sahra Wagenknecht von der deutschen Linkspartei und ihre Bewegung «Aufstehen» – ist das für Sie ein Holzweg?
Kurze Antwort: Ja.

Die Frage bleibt, wie man dem Rassismus begegnet, den die Rechtspopulisten schüren, und woher er kommt. Der französische Soziologe Didier Eribon sagt: Rassismus war in den unteren Klassen immer da, nur wurde er früher von mächtigen linken Parteien und Gewerkschaften im Zaum gehalten. Teilen Sie diese Analyse?
Ich möchte feststellen, dass Rassismus auch oben sehr entwickelt ist, man denke an den Ku-Klux-Klan in den USA oder an den Schweizer Politiker James Schwarzenbach und seine Überfremdungsinitiative Anfang der 70er-Jahre. Für Leute meines Jahrgangs war die damalige Fremdenfeindlichkeit zentral für die Politisierung. Die Virulenz und Aggressivität des Hasses auf die Italiener in den 60er- und 70er-Jahren kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Warum? Weil die wirtschaftlich-gesellschaftliche Integrationsmaschine läuft, auch das gehört zur Erfolgsgeschichte Schweiz. Sie spiegelt sich in der Fussball-Nati, aber auch in der Arbeitswelt oder den Heiratsstatistiken.

Sie sind in armen Verhältnissen am Rande der Stadt St. Gallen aufgewachsen. Gab es viele Italiener in Ihrem Quartier?
Ja. Aber meine Politisierung erfolgte auf dem katholischen Weg. Ich war arm und katholisch, Ministrant und so weiter. Der Aufbruchskatholizismus im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils hat mich geprägt, das muss ich mir rückblickend eingestehen. Wie überhaupt die Aufbrüche der 60er-Jahre. Doch meine Herkunft hat mich sensibilisiert für Machtfragen.

Wie das?
Das fängt früh an. Ich war der Einzige aus meiner riesigen Verwandtschaft und meinem Umfeld, der den Sprung in die Lateinklasse der katholischen Kantonsrealschule schaffte. Ein Erlebnis dort in der zweiten Sekundar hat sich mir tief eingeprägt. Wir sollten im Unterricht den Beruf unserer Väter vorstellen. Die anderen Schüler erzählten von Ingenieuren, Anwälten und so weiter. Mein Vater aber putzte damals. Ich musste mich durchmogeln.

Was haben Sie über Ihren Vater erzählt?
Ich bin ausgewichen und musste am Schluss nichts erzählen. Solche Momente gab es viele. Das geht Aufsteigerkindern heute vermutlich nicht anders. Wie eine Gesellschaft sich strukturiert, spürt man sofort, wenn man von unten kommt.

Der französische Soziologe Didier Eribon kommt auch aus der Arbeiterklasse. Er beschreibt, wie schwierig es war, diesem Milieu zu entkommen.
Bei ihm ist eine grosse Schamkomponente drin. Sein Buch «Rückkehr nach Reims» ist grossartig in seiner Ehrlichkeit. Wie er mit seinem Schwulsein ringt und wie die soziale Scham wegen seiner Herkunft noch viel stärker ist. Ausserdem gab es da dieses hermetische Milieu, das er im Umfeld der Kommunistischen Partei in Frankreich erlebte. Das gab es bei uns nicht. Ich hatte auch nie das Gefühl, ich müsse mich abgrenzen von meinem Milieu. Im Gegenteil, auch als Anwalt habe ich mich von Anfang an auf das Arbeits- und Strafrecht konzentriert, wo die soziale Frage zentral ist.

Liegt es an Ihrer Herkunft, dass Sie manche Irrwege nicht gegangen sind, die Ihre Genossen in den 70er-Jahren einschlugen?
All diese linken Sekten …

Man schwärmte für Mao.
Ich habe früh viel gelesen, zuerst die Existenzialisten, Camus, dann zunehmend Marx. Ich wählte Jus, weil dieses Studium die meisten Möglichkeiten offenliess, und ging dann nach dem vierten Semester an die Freie Universität in Berlin und beschäftigte mich mit politischer Ökonomie. Dort habe ich mir das ganze linke Spektrum angeschaut und gesehen, dass diese Auswüchse nirgendwohin führen. Das galt auch für die Poch in der Schweiz. Deren dogmatische, revolutionäre Generallinie war so dumm, dass ich schnell wusste, dass ich da nicht hingehöre.

Paul Rechsteiner und die Gelassenheit des gewieften Taktikers.

Gingen Sie den Weg eines Einzelgängers?
Ich war nie ein einsamer Mensch. Aber eine eigenständige Entwicklung habe ich mir zugetraut.

Wann haben Sie gemerkt, dass nicht nur die Analyse der Macht Sie interessiert, sondern auch die Macht selber?
«Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern», sagt Marx. Da hatte ich sicher früh eine Neigung dazu. Ich habe mich auch bewusst gegen eine Unikarriere entschieden, obwohl es Möglichkeiten gegeben hätte. Mir wurde gegen Ende des Studiums klar, dass ich nach St. Gallen zurückgehe und als Anwalt arbeite. Danach erst trat ich der Gewerkschaft bei und dann der SP.

Als Präsident des SGB haben Sie die letzten zwanzig Jahre lang im Namen von 360’000 Mitgliedern geredet. Wie schwer ist es, eine solche Macht abzugeben?
Das wird man nachher sehen. Ich hätte nie gedacht, dass ich so lange in diesem Amt bleiben würde. Die Rolle, die ich spielte, war offenbar gewünscht, meine Fähigkeit, zuzuhören, die Interessen auf den Punkt zu bringen und im richtigen Moment die Dinge so zu beschleunigen, dass die richtigen Entscheide fallen. Das ist hochspannend, und ich wünsche meinen Nachfolgern viel Glück dabei. Die Bedeutung dieses Amtes ist enorm.

Gibt es jemanden in der Schweiz, der mächtiger ist als der SGB-Chef?
Schauen wir die Wirtschaftsverbände an …

Economiesuisse, der achte Bundesrat, hiess es früher.
Economiesuisse ist ein Schatten der Vorgängerorganisation, des sogenannten Vororts. Die entscheidende Rolle beim Zustandekommen der Bilateralen spielte auf der Seite der Wirtschaft der Arbeitgeberverband. Er bot Hand zu den flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit mit der EU und hat so eine Brücke gebaut, die das Parteiensystem nicht hinbekommen hätte. Trotz heftiger Kritik von SVP und beispielsweise der St. Galler Industrie- und Handelskammer hielt der Arbeitgeberverband damals den Kurs. Politisch stand die Organisation furchtbar rechts, aber man beherrschte die Dossiers, Lösungen waren möglich. Die Rolle, die die Wirtschaftsverbände damals spielten, nehmen sie derzeit leider nicht mehr wahr.

Dafür entstand in den letzten dreissig Jahren ein neues Machtzentrum in Herrliberg.
Ja, Blocher hat das ganze System neu gepolt. Und das System reagiert. Wer hätte vor zwanzig Jahren gedacht, dass der Ständerat zum machtpolitisch zentralen Ort werden könnte? Seit meinem Wechsel vom National- in den Ständerat vor sieben Jahren beobachte ich eine neue Dynamik. Dank einiger Leute, die sich über die parteipolitische Enge hinaus eigene Überlegungen machen und Lösungen herbeiführen können.

Ist das der Grund, warum Sie nach sagenhaften 32 Jahren im Parlament Ihren Sitz nächstes Jahr noch einmal verteidigen wollen?
Ja, und auch, weil sich in nächster Zeit wichtige Fragen stellen, auch bei Löhnen und Renten, und es auf jeden Sitz ankommt. Wenn im Nationalrat nur schon fünf Sitze nach links oder in die Mitte gehen, dann ändert das gegenüber der heutigen Rechtsmehrheit machtpolitisch alles.

Sie stehen im Ruf, ein Meister des parlamentarischen Kompromisses zu sein. Wie spürt man, wann der Moment gekommen ist, um einzulenken?
Das kann man nicht allgemein sagen. Kompetenz und Dossierkenntnis sind entscheidend, Erfahrung ist sicher auch kein Nachteil. Es braucht Urteilskraft, wie in vielen Bereichen des Lebens. Eine gewisse soziale Kompetenz braucht es auch. Ich bin nicht gut Freund mit allen. Aber man muss Auseinandersetzungen mit Respekt führen und die Logik der anderen Seite verstehen.

In einem Dossier beharren Sie bis zur Unglaubwürdigkeit auf einer Maximalforderung. Wir sprechen von der kategorischen Weigerung, über eine Erhöhung des AHV-Rentenalters zu reden.
Ob das unglaubwürdig ist, ist eine Frage des Betrachters. Entscheidend ist der Arbeitsmarkt und wie er mit älteren Arbeitnehmern umgeht. Erhöhungen beim Rentenalter richten sich gegen die Mehrheit der Bevölkerung. Leute mit hohen Einkommen leisten sich vorzeitige Pensionierungen, für untere bis mittlere Einkommen ist das Rentenalter ein entscheidender Parameter. Und noch wichtiger als das Rentenalter wird in den nächsten Jahren die Höhe der Renten.

Wir werden sehr viel älter als früher, dass die AHV sich diesem Trend anpassen muss, ist klar. Dass ein Bauarbeiter mit tieferer Lebenserwartung früher in Rente gehen soll als ein Akademiker – geschenkt. Aber warum suchen Sie keinen Kompromiss? Sie könnten sich zum Beispiel auf ein höheres Rentenalter einlassen und im Gegenzug höhere Renten fordern.
An einer sozialen Flexibilisierung kann man weiter arbeiten.

Sie würden also auch über das AHV-Alter diskutieren?
65 ist gesetzt. Rentensysteme müssen der Lebensrealität der grossen Mehrheit entsprechen.

Diese Position ist kaum zu halten. Schauen Sie ins Ausland. Überall wurde das Rentenalter erhöht. Junge Leute verstehen Sie nicht mehr, halten Sie für strukturkonservativ und vorgestrig.
Wenn jemand in sozialen Fragen glaubwürdig ist, dann sind es die Gewerkschaften. Die Erhöhung des Frauenrentenalters von 64 auf 65 war in der Westschweiz der wichtigste Grund für die Ablehnung der Rentenreform 2020. Ich sehe das auch in meiner Anwaltspraxis. Seit einigen Jahren häufen sich soziale Dramen. Wenn Leute nach jahrzehntelanger engagierter Mitarbeit entlassen werden mit 55, 61 oder 62, dann fühlen sie sich oft wie Opfer eines sozialen Gewaltverbrechens. Die Rechtslage für ihren Schutz ist in der Schweiz dünn. Schauen Sie auch auf die Rechtspopulisten in Polen. Die haben das Rentenalter wieder heruntergesetzt. Das ist das Perfide dieser Populisten, dass sie neben Fremdenfeindlichkeit und Hetze auch soziale Elemente im Programm haben. Eine Linke, die sich durchsetzen will, darf ihnen dieses Feld nicht überlassen.

Sie geniessen Respekt im Parlament und sind beliebt bei den Wählern. Doch in den Medien werden Sie oft als stur, verbissen, ideologisch beschrieben. Worauf führen Sie diesen Gegensatz zurück?
Attacken gegen mich gab es schon früh. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Positionen, die ich vertrete, wichtig sind. Aber was diesen Sommer abging, war schon krass. Für fast alle Chefredaktionen der Schweiz war ich der Buhmann, weil ich mich weigerte, über die flankierenden Massnahmen zu verhandeln. Dabei war das die Linie des Gesamtbundesrates, am Lohnschutz wird nicht gerüttelt. Nur scherten dann zwei Bundesräte aus, attackierten diese Linie und nahmen die Position der EU ein. Wenn ein linker Bundesrat so etwas gemacht hätte, hätte man ihm Landesverrat vorgeworfen.

Mit der Gesprächsverweigerung haben Sie nicht nur den Lohnschutz unterstrichen, sondern auch die jahrelangen Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU in die Sackgasse getrieben.
In die Sackgasse gerät man umgekehrt, wenn man am Lohnschutz rüttelt, weil dann jedes Abkommen am Volk scheitert.

Mit wem spricht man sich vor so einem Entscheid eigentlich ab?
Ich bin ein grosser Anhänger kollektiver Intelligenz. Wir fällen wichtige Entscheide immer gemeinsam. Doch weil dieser heftige Angriff auf den Lohnschutz von Bundesrat Schneider-Ammann in die Sommerferien fiel, musste ich vorangehen. Dann aber gab es eine Telefonkonferenz und einen einstimmigen Entscheid der ganzen SGB-Führung.

Warum sagten Sie nicht gutschweizerisch: Wir reden weiter, aber da machen wir nicht mit?
Schauen Sie, wir kennen das Programm der EU. Ihr geht es darum, das System der Lohnkontrollen herunterzufahren. Die Acht-Tage-Regel ist von den verschiedenen Programmpunkten noch das kleinste Problem. Und die Vorgabe für die Gespräche, zu denen Johann Schneider-Ammann einlud, lautete auf Anpassung unserer flankierenden Massnahmen an die Wünsche der EU. Dafür gibt es bis heute nicht einmal im Bundesrat oder im Parlament eine Mehrheit, vom Volk reden wir gar nicht erst.

Wenn die Acht-Tage-Regel das kleinste Problem ist, welches ist dann das grösste?
Nur damit es klar ist: Die Voranmeldefrist ist wichtig, damit Kontrollen in einem dezentralen System wie in der Schweiz funktionieren. Acht Tage, das wurde vor der Einführung abgeklärt, ist so lang wie nötig und so kurz wie möglich. Es fällt ja auch immer ein Wochenende dazwischen.

Also könnte man sich verhandlungsbereit zeigen und auf sechs Arbeitstage verkürzen?
Acht Tage sind eine klare Regelung.

Sechs Arbeitstage auch.
Nein, acht Tage sind eine gut begründete, bewährte Regel in einem funktionierenden Kontrollsystem. Wenn wir unsere Löhne wirksam schützen wollen, ist es zentral, dass wir unseren Lohnschutz nicht nach den Erfordernissen der EU ausrichten und auch nicht dem Europäischen Gerichtshof unterstellen.

Der SGB warnt jetzt wörtlich vor fremden Richtern. Ihr Chefökonom beschreibt EU-Kommissare als Kampfhunde für den Marktzugang. Sie übernehmen die Rhetorik der SVP.
Niemand verwechselt den Lohnschutz, den wir wollen, mit dem Angriff der SVP auf die Menschenrechte.

Übernahmen Sie diese Rhetorik bewusst?
Schauen Sie, wir sind für Öffnung, auch für die Personenfreizügigkeit. Es gibt eben drei Pole, die SVP, die Wirtschaft und den sozialen Pol. Wenn die Wirtschaft Öffnung will, muss sie soziale Konzessionen machen. Das ist das kleine Einmaleins. Dieses Jahr erlebten wir einen Rückfall der freisinnigen Bundesräte in eine Position des Scheiterns wie vor der Abstimmung über den EWR, wo man dachte, man müsse den sozialen Pol nicht berücksichtigen. Das ist verantwortungslos.

Die EU ist nicht mehr die neoliberale, marktgläubige EU der Nullerjahre. Es gibt eine neue Entsenderichtlinie. Sie sieht wie die flankierenden Massnahmen gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort vor. Haben Sie diese Richtlinie analysiert?
Nur die freisinnige Propagandamühle behauptet, diese Richtlinie sei gleichwertig mit unseren flankierenden Massnahmen. Die europäischen Gewerkschaften stehen beim Lohnschutz auf unserer Seite. Sie sagen uns, dass unser eigenständiger, nicht diskriminierender Lohnschutz vorbildlich sei.

Warum hinkt die EU in diesem Punkt der Schweiz hinterher?
Die europäischen Gewerkschaften haben leider nicht die Machtposition, die sie haben müssten. Und wenn man in deren Gremien sitzt, was wir als Mitglied des Europäischen Gewerkschaftsbundes tun, dann stellt man fest, dass die noch sehr national denken, auch weil die Systeme von Land zu Land sehr verschieden sind. Wir haben das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» im Europäischen Gewerkschaftsbund eingebracht. Es ist ein Prinzip, das wir in der Schweiz eingeführt haben, das aber über die einzelnen Staaten hinausreicht. Wir haben dieses allgemeine Prinzip geprägt, und es kostete uns und unsere Verbündeten viel Energie, es durchzusetzen.

Haben wir richtig gehört: Die Schweizer Gewerkschaften mussten die europäischen Kollegen zu diesem Prinzip bekehren, von dem heute alle reden?
Die europäische Gewerkschaftsbewegung war lange schwer in der Defensive und nicht auf der Höhe der zugegebenermassen gewaltigen Herausforderungen. Die EU hätte eine soziale Wende dringend nötig. Ansätze gäbe es. Zum Beispiel den guten Vorschlag des ungarischen EU-Kommissars László Andor für einen europäisch finanzierten Sockel der Arbeitslosenversicherung, der dann von den Staaten ergänzt würde. Wer den Job verliert, hätte demnach während sechs Monaten 60 Prozent des Lohnes aus einer EU-Kasse bekommen. Das wäre für Griechenland, Italien, Portugal und Spanien ein entscheidender Stabilisator gewesen in der Krise. So eine Versicherung hätte alles gekippt, womit wir heute auf europäischer Ebene konfrontiert sind.

Würden Sie gerne EU-Politik machen?
Mich interessieren die Zusammenhänge. Die EU setzt den Rahmen in vielen wichtigen Fragen, von der Klimaerwärmung bis hin zu den zentralen ökonomischen Fragen. Die Grosskonzerne orientieren sich im Datenschutz an den europäischen Regeln und nicht an den tieferen Standards der USA, weil sie weltweit operieren und Europa nicht auslassen können. Die Musik spielt in vielen Bereichen auf der europäischen Ebene.

Ist das ein Plädoyer für den Beitritt der Schweiz zur EU? Unsere Politik ist im nationalen Rahmen gefangen, während die wichtigen Entscheide in der EU fallen.
Diese Frage wird sich vielleicht irgendwann einmal wieder stellen. Bleiben wir auf dem Boden der Schweizer Politik. Jetzt müssen wir die Anti-Menschenrechtsinitiative der SVP abwehren, die eine europäische Dimension hat. Dann den Vollangriff auf die Bilateralen durch die Kündigungsinitiative. Und dann gibt es wieder ein Zeitfenster, das einen Schritt nach vorne erlaubt. Die letzten zwanzig Jahre waren eine Erfolgsgeschichte, mit einer Delle 2014, als die Masseneinwanderungsinitiative angenommen wurde. In der Schweiz mussten wir jeden europapolitischen Schritt erkämpfen in Volksabstimmungen. Man muss überzeugen, und dabei ist der Lohnschutz zentral. Er ist der Schlüssel zur europäischen Orientierung und ihr Herz, alles andere kommt danach.