Wir Rezensenten
Zum Verhältnis von Buchkritik und Debatte in Zeiten der Polarisierung.
Von Daniel Graf, 20.10.2018
Wenn man für einen Moment lang alle Nuancen verwischt, könnte man sagen: Wir alle sind Rezensenten. Wir rezensieren täglich unser Leben. Wir bewerten uns und, meist lieber noch, die anderen, wir sprechen Urteile, verteilen Noten. Kritik ist Alltagspraxis.
Das bedeutet sehr viel und sehr wenig zugleich. Viel, weil nur dort, wo Widerspruch zugelassen und selbstverständlich praktiziert wird, Meinungsvielfalt herrscht. Und wenig, weil damit lediglich eine erste Bedingung für das Gedeihen des demokratischen Gesprächs erfüllt ist. Eine pluralistische Diskussionskultur entsteht aus der blossen Vielzahl an Einstellungen nämlich erst dann, wenn diese einen gemeinsamen Resonanzraum haben, wenn sie sich nicht bloss voneinander abheben, sondern auch offen miteinander auseinandersetzen. Mit anderen Worten: wenn Meinungen irritierbar bleiben. Einen Mangel an divergierenden Standpunkten jedenfalls dürften derzeit die wenigsten konstatieren. Viel eher schon eine Vulgarisierung des Protests, eine tiefe Krise des Zuhörens und die aktive Selbstabschottung gegen jede bessere Einsicht.
Wo aber der Einspruch gegen die abweichende Meinung lediglich die eigene verabsolutieren will, geschieht das Gegenteil von Kritik. Entgegen einem landläufigen Verständnis von Kritik als blossem (Negativ-)Urteil versteht sich Kritik in langer philosophischer Tradition als die Tätigkeit, durch die sich ein begründetes Urteil überhaupt erst bildet. Kritik ist also keine aggressive Ansage, sondern ein Prozess. Sie ist zunächst eine Praxis des Differenzierens und versagt sich das Voreilige ebenso wie das Endgültige – denn jedes ihrer Ergebnisse kann selbst wieder Gegenstand von Kritik werden.
So aufgefasst erscheint Kritik als eine Kulturtechnik, durch die sich eine Gesellschaft mit und über sich selbst verständigt. Kritik als Ausdruck aktiver Zeitgenossenschaft lässt sich als gesellschaftliche Herausforderung begreifen, die in Zeiten zunehmender Polarisierung und der Dauerpräsenz von Hass und Hetze in der öffentlichen Sphäre dringlicher wird denn je. Zu kritischem Geist sind wir alle verpflichtet. Doch natürlich steht die hauptberufliche Kritikerkaste besonders in der Verantwortung, wenn es darum geht, die zentralen Aufgaben und Aporien für ein kritisches Denken der Gegenwart zu bestimmen.
Aus feuilletonistischer Perspektive heisst das zu fragen: Wie verhalten sich Debattenkultur, Kritik und Buchkritik zueinander? Wo stellen die gesellschaftlichen Konfliktlinien auch das Rezensionswesen vor neue Herausforderungen? Was hat die Literaturkritik zur gesellschaftlichen Selbstverständigung beizusteuern, wenn allenthalben eine Krise der öffentlichen Gesprächskultur beklagt wird und Fragen der Sprache ihr ureigenstes Thema sind? Oder mit dem Begriffspaar einer fulminanten Dankesrede von Dietmar Dath: Was können «Kritik als Streit» und «Kritik als Urteil über Kulturtatsachen» voneinander lernen?
Diese Fragen führen am Ende auch auf das Verhältnis von Literatur und Gegenwart. Seinen Ausgangspunkt nimmt der vorliegende Versuch einer Antwort jedoch beim Wechselverhältnis von Sachbuchmarkt und gesellschaftlicher Debatte. Denn hier ist am offenkundigsten, wie eng aktuelle Diskurse und die Rezeption von Büchern miteinander verschränkt sind.
Mit Rechten reden oder: Wo liegt die Beweislast?
Spätestens dann, wenn ein Buchtitel zum Slogan wird, weiss man bei Verlagen in der Regel: alles richtig gemacht. Im Fall von «Mit Rechten reden» dürfte die Freude nicht ganz so ungetrübt sein. Einer der meistzitierten Buchtitel, ist er wohl auch der am meisten missverstandene der letzten Jahre. Mit bewundernswerter Hingabe erklären die Autoren seit Monaten immer wieder aufs Neue, der Titel sei nicht als Aufforderung zu verstehen (worauf man auch kommen könnte, wenn man das Buch läse). Allein, es hilft wenig. Der Titel verselbstständigt sich als Motto, die Vorwürfe kehren wieder. Schlimmer noch und dem Anliegen der Autoren ganz entgegen: Naive Aufrufe, man müsse doch «die Sorgen der Menschen ernst nehmen», haben weiter Hochkonjunktur (was nicht verwunderlich wäre, wären damit nicht Pegida-Wutbürger, sondern die von rechter Hetze Bedrohten gemeint).
Dabei ist mit dem Buchtitel und dessen unvermeidbarer Komplexitätsreduktion das Wesentliche noch nicht einmal berührt: wer denn mit den «Rechten» gemeint ist. Klassische Konservative? Demokratische Rechtsaussen? Neonazis, Reichsbürger und andere Verfassungsfeinde? Leute, deren Gesprächsbeiträge in dem Vorschlag bestehen, jemanden in Anatolien zu entsorgen?
Mit Andersdenkenden, auch den radikal Andersdenkenden, im Gespräch zu bleiben, darin besteht selbstverständlich die Grundanforderung einer demokratischen Kultur. Erinnerungen daran erhalten ihren gegenwärtigen Sinn aber nur, wenn sie mit dem Hinweis einhergehen, dass ein Gespräch an Voraussetzungen geknüpft ist. Ein Minimum an Gesprächsbereitschaft zum Beispiel. Wer nur pöbelt, hetzt oder gleich handgreiflich wird, hat sich ebenso aus dem demokratischen Dialog verabschiedet wie derjenige, dessen Wortmeldungen sich gegen die Grundregeln der Verfassung richten. Das ist das zentrale Problem, nicht die Frage linker Gesprächsbereitschaft.
Ihre Aufgabe als Beobachterin und Korrektiv der Debattenkultur muss Kritik deshalb gegenwärtig wahrnehmen, indem sie neu für Fragen der Beweislast sensibilisiert. Kritik als Kultur der Differenzierung erhebt Einspruch gegen jede Form von Alle-in-einen-Topf. Aber wer bislang auf der Seite von Hass und Hetze stand, der muss schon erst einmal selbst plausibel machen, dass er in den Kommunikationsmodus zurückkehren will. Und wer als angeblich gemässigter Bürger Seite an Seite mit Nazis marschiert, der steht vor allem selbst in der Bringschuld, sich abzugrenzen und auch danach zu handeln. Bis dahin bleiben rechte Beschwichtigungen reine Schutzbehauptung. Und linke und konservative Unterstellungen, dass da überhaupt ein Gesprächswille vorhanden sei, bestenfalls wishful thinking.
Die Fehler der Linken oder: Beweislast, Teil 2
Seit Jahren geht das jetzt so, in den zwei immer gleichen Varianten. Nummer eins: Die neue Rechte lanciert ihre Provokation – und die kalkulierte Empörungsspirale folgt wie auf Bestellung. Nummer zwei: Die neue Rechte beklagt gegen jede Evidenz, aber lautstark, sie sei in ihrer Meinungsfreiheit bedroht – und die Toleranzbeflissenen, die sich nichts nachsagen lassen wollen (auch nicht von Nazis), räumen ihr immer noch mehr Sendezeit ein. Seien wir ehrlich: In Sachen strategischer Klugheit hat der demokratische Teil der Bevölkerung noch Entwicklungspotenzial.
Es bleibt ja auch die Krux, dass jeder konkrete Einzelfall einen wieder neu vor ein Dilemma stellt: Was tun, wenn man eine Äusserung nicht stehen lassen kann, aber der empörte Widerspruch das wichtigste Schmiermittel der neurechten Propagandamaschine ist?
Es gibt für diese Aporie kein All-in-one-Patentrezept. Aber darin liegt vielleicht schon ein Teil der Lösung: unterscheiden. Womöglich ist mit kritischem Abwägen im konkreten Einzelfall mehr gewonnen als mit den Routinen der Empörung. Wer sich bei jeder noch so einfältigen Provokation bis zum Bluthochdruck entrüstet, übernimmt nur die von rechts erhoffte Verstärkerfunktion. Man muss nicht jeden Köder aufschnappen, der einem bauernschlau hingeworfen wird. Warum nicht, wie das sonst im Zwischenmenschlichen üblich ist, auf einem Minimalstandard an Niveau und Anstand bestehen, damit einer auf eingehendere Reaktion hoffen darf?
Mit anderen Worten: Man muss nicht bei jedem Stuss mit heiligem Ernst zum Gegenbeweis antreten. Ein bisschen Vertrauen, dass die Menschen das selber merken, reicht vielleicht manchmal auch. Wo Widerspruch unabdingbar ist, nicht für eine aussichtslose Bekehrung, sondern als Signal an Dritte, geht das in der Regel auch nüchtern und knapp (oder gar humorvoll-kreativ). Und warum die Beweislast für Bullshit und Pseudothemen nicht an den Absender zurückdelegieren?
Kritisches Denken muss nicht zwangsläufig zu immer neuen Verlautbarungen führen – sondern mitunter auch zu der Einsicht, dass das Gegenteil geboten ist. Wer sich von den Gegenaufklärern (euphemistisch: Populisten) das Reiz-Reaktions-Muster aufzwingen lässt, hat ihr Agendasetting schon mitgekauft. Die Freiheit zum Gespräch, auch und gerade unter Andersdenkenden, findet eine Gesellschaft jedenfalls nur, wo sie sich der Logik kalkulierter Eskalation entzieht.
Sarrazin ganzseitig – oder soll man es lassen?
Von den einschneidenden Veränderungen der öffentlichen Sphäre kann die feuilletonistische Buchkritik nicht unberührt bleiben, am wenigsten im Bereich des Debattenbuchs. Wo die Konfliktlinien verlaufen, aber auch, wie schnell es verworren wird, lässt sich vielleicht an einem exponierten Beispiel verdeutlichen. In der Ausgabe vom 30. August erschien in der «Zeit» eine ganzseitige Rezension des neuen Buchs von Thilo Sarrazin. Man muss vielleicht, damit der Kontext plastischer wird, vorab eine kleine Schleife drehen.
«Feindliche Übernahme» ist Sarrazins fünftes Buch. Von seinem ersten wurden bereits mehr als eine Million Exemplare abgesetzt. Seither sind etliche hunderttausend verkaufte Bücher und zahlreiche öffentliche Auftritte hinzugekommen, was einige Menschen allerdings nicht von der Behauptung abhält, der Autor dürfe in Deutschland seine Meinung nicht äussern. Nun also Buch Nummer fünf. Vermutlich ist seit Jahren kein Titel erschienen, die Dan Browns und Sebastian Fitzeks eingeschlossen, von dem man so sicher vorhersagen konnte, dass er auf Platz eins der «Spiegel»-Bestseller-Liste landen würde. Wie Brancheninsider berichteten, wurden von «Feindliche Übernahme» bereits in der ersten Woche gut 57’000 Stück abgesetzt, ungefähr zehnmal so viel, wie der Zweitplatzierte im selben Zeitraum erreichte. Und weitaus mehr, als die allermeisten Autorinnen und Autoren in ihrem ganzen Leben erzielen. Man könnte also auf den Gedanken verfallen, bei kaum jemandes Meinung sei die Verbreitung so gesichert wie bei Herrn Sarrazin. Vielleicht hat die «Weltwoche» ihre Veranstaltung mit dem Autor ja deshalb «Gipfeltreffen der freien Rede» getauft.
Der Vorwurf, den die NZZ neulich in diesem Zusammenhang an die deutsche Öffentlichkeit richtete, war denn auch ein etwas anderer: Die Kritik an Sarrazin zeige, dass in Deutschland über Integration «weiterhin nicht geredet» werde, beklagte die Rezensentin – und konstatierte in demselben Text, dass Integration «das bestimmende Thema dieses deutschen Bücherherbstes» sei. Letzteres immerhin ist fraglos richtig. Und der Satz würde auch dann nicht falsch, wenn er für so ziemlich jede Buchsaison der vergangenen Jahre formuliert würde (von Talkshows gar nicht erst zu reden).
Die «Zeit»-Rezension jedenfalls hat die Islamwissenschaftlerin Johanna Pink geschrieben. Der Text selbst ist herausragend. Kenntnisreich, luzide in der Argumentation, stilistisch beeindruckend. Und doch – das ist jetzt ein persönliches Statement – werde ich das Gefühl nicht los, dass etwas Entscheidendes daran nicht stimmt: die Prämissen und das redaktionelle Framing.
Wenn eine Rezension in jedem einzelnen Abschnitt zu dem Schluss kommt, dass der Text seinem Gegenstand nicht gewachsen ist: Was waren zuvor die Gründe zur Annahme, es könnte anders sein? Wenn sich in einer ganzseitigen Mängelliste nicht ein einziger Hinweis findet, warum das Werk einen wichtigen Beitrag zu seinem Thema leistet, was spricht dann dafür, es in der grössten deutschen Wochenzeitung in Umfang und Platzierung gegenüber fast allen anderen Neuerscheinungen zu privilegieren? Hat man, da Vergleichbares sonst eher selten vorkommt, bei Auswahl und Dimensionierung einen doppelten Standard angewandt? Legt der Inhalt der Kritik nicht nahe, dass hier mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird – während gleichzeitig die neue Rechte den Geländegewinn verbucht?
Um nicht falsch verstanden zu werden: Einfache Antworten gibt es hier nicht, und am hehren Anliegen von Autorin und Redaktion kann nicht der geringste Zweifel bestehen. Vielleicht also wäre es sinnvoll gewesen, man hätte an irgendeiner Stelle auf das Dilemma zwischen dem Drang zur Richtigstellung und der Gefahr unfreiwilliger Aufwertung hingewiesen. So aber zeigt die Rezension auch die mögliche Falle rein immanenter Kritik. Denn egal, was der Text sagt, die Seitenaufmachung und der schiere Umfang im Verhältnis zu anderen Kritiken signalisieren: hier kommt eines der wichtigsten Bücher der Saison.
Schon deshalb braucht die kritische Beschäftigung mit Büchern auch eine soziologische Dimension – und Textgattungen jenseits der Rezension. Wenn Zigtausende zu einem Titel greifen, bei dem die Fachwelt nur den Kopf schütteln kann, ist das erklärungsbedürftig. Insofern ist es folgerichtig, dass «Zeit online» in einem zweiten Artikel von Georg Seesslen nach dem Phänomen Sarrazin gefragt hat. Und weil die Onlineredaktion der «Zeit» noch einen dritten Beitrag folgen liess und Daniel-Pascal Zorn darin pointiert seinen Befund resümiert, sei der Schluss seiner Glosse zitiert. Solche Bücher, schreibt Zorn, «sind Fleissarbeiten, aus Unkenntnis methodisch schlecht gemacht, dafür umfangreich und meinungsstark. Man kann sie jemandem schenken, den so etwas freut. Für alle anderen sind sie nicht der Rede wert.»
Rezension heisst Auswahl, schon vor der ersten Zeile. Aus jährlich rund 80’000 Neuerscheinungen allein im deutschsprachigen Buchmarkt findet nur ein winziger Teil Resonanz in den Feuilletons. Das ist nicht nur unvermeidlich; es ist sinnvoll. Kritik muss mehr (und das heisst hier: weniger) sein als die Verdopplung der Welt. Das bedeutet aber auch: Kritik, zumal in den Leitmedien, hat mit Macht und Einfluss zu tun, noch immer. Mediale Auswahl reagiert nicht nur auf Trends, sie setzt und verstärkt sie auch. Die Herausforderung feuilletonistischer Kritik besteht deshalb auch darin, immer wieder neu zwischen aufmerksamkeitsökonomischen und marktunabhängigen, qualitätsorientierten Relevanzkriterien zu vermitteln. Und je nachdem, wie sie dies tut, lenkt sie selbst Aufmerksamkeit. Nirgendwo ist dies virulenter als im Bereich des politischen und gesellschaftlichen Debattenbuchs.
Was aber haben literarische Werke und deren Kritik mit all dem zu tun? Ausser dass sich Fragen nach Auswahl und Positionierung natürlich auch hier stellen? Weil die Literatur anderen Gesetzen folgt als das Sachbuch, müssen auch die Fragen der Kritik andere sein. Aber gerade darin, in dieser anderen Gesetzmässigkeit, liegt vielleicht die Antwort auf die Frage, welches Wissen die Literatur und ihre Kritik in die hitzigen Auseinandersetzungen der Gegenwart einspeisen können. Dem widmet sich der zweite Teil dieses Essays.
Teil 2 dieses Textes erscheint am kommenden Montag.