Binswanger

Sprechen für die Demokratie

Die Republik und andere Medien lancieren «Die Schweiz spricht». Die Debatte ist der Kern der Demokratie. Aber sie sollte nicht ihr Fetisch werden.

Von Daniel Binswanger, 20.10.2018

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Unternehmensberater wissen es, Paartherapeuten wissen es, und Sie wissen es bestimmt auch: Die beste Lösung ist immer, wenn man die Dinge miteinander ausdiskutiert. Solange das Gespräch möglich bleibt, darf man hoffen. Solange ein diskursiver Raum besteht, um Frustrationen und Wünsche zu verhandeln, gibt es einen gemeinsamen Weg. Gespräche sind die Basis jeder produktiven sozialen Beziehung, aber richtig deutlich wird das erst in der Beziehungskrise. Sie offenbart sich in der Regel dadurch, dass weniger gesprochen und häufiger mal gebrüllt wird. Dass Argumentieren beim besten Willen nicht mehr gelingt.

Heute ist die Demokratie in der Krise – und es wird gerade ziemlich viel gebrüllt. Polarisierung und Populismus zersetzen den Diskurs. Er verflacht zum ewigen Talkshow-Gepöbel. Die Öffentlichkeit wird überschwemmt von Fake-News, Manipulationen, Social-Media-Aktionismus. Auch deshalb haben immer mehr Wähler das Gefühl, dass ihre Stimme nicht gehört wird. Und sie reagieren auf das akute Unbehagen in der Demokratie mit einem ebenso tief verwurzelten wie fatalen Reflex: der Zementierung ihrer Feindbilder.

Demokratiepolitisches Dating

Was also könnte näher liegen, als die Politik einer Wurzelbehandlung ihrer kommunikativen Grundlagen zu unterziehen, einer Gesprächstherapie gewissermassen?

Im letzten Sommer veranstaltete «Die Zeit» die Aktion «Deutschland spricht». Sie hatte den Zweck, Bürger mit möglichst unterschiedlichen politischen Ansichten zu Zweiergesprächen zusammenzubringen. Den Leuten erneut die Erfahrung zu verschaffen, dass sie nicht nur viel gemeinsam haben, was sie untrennbar macht, sondern dass sie sogar vernünftig miteinander reden können. Auch wenn sie politische Gegner sind.

Die Aktion war ein Erfolg, erregte Aufmerksamkeit und wird dieses Jahr wieder durchgeführt – nicht nur in Deutschland, wo sie schon vor einem Monat stattgefunden hat, sondern auch in der Schweiz und weiteren Ländern. Diesmal nicht als Einzelinitiative der «Zeit», sondern als Gemeinschaftsprojekt verschiedener Medienhäuser. In der Schweiz kooperieren SRF/RTS, Tamedia, «Watson», WOZ, die «Zeit» und die Republik, um möglichst viele Dialogpaarungen zu vermitteln. Morgen Sonntag werden sich überall im Land über 1200 Menschen mit einem politischen Antipoden treffen. Und dann wird geredet.

Die überwältigende Mehrheit dieser Unterhaltungen zwischen Zeitgenossen, die nur deshalb gematcht wurden, weil sie sich politisch uneins sind, dürfte immerhin sittsam und höflich verlaufen. Schliesslich sind die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereit, einen Effort zu machen und sich zu treffen. Sie werden sich zuhören, ihre Ansichten präsentieren, in Ansätzen zu verstehen versuchen, weshalb der andere so denkt, wie er denkt, vielleicht sogar etwas Neugier für das Gegenüber entwickeln.

Gegenseitig überzeugen wird man sich wohl eher nicht. Aber vielleicht werden sich die Gesprächspaare danach ein bisschen besser verstehen, die Argumente des Widerparts wenn schon nicht richtig, so doch nachvollziehbar finden und vor allem sich selber bestätigen, dass auch mit Gegnerinnen und Gegnern ein zivilisiertes, ja, produktives Gespräch durchaus möglich ist. Das sollte in einer Demokratie natürlich eine Selbstverständlichkeit sein, und genau hier liegt das Problem. Der öffentliche Diskurs ist heute weit davon entfernt, es selbstverständlich erscheinen zu lassen.

«Die Schweiz spricht» ist eine sympathische Initiative, keine Frage. Aber in gewisser Weise ist sie weniger die Therapie als das Symptom der Demokratiekrise. Warum soll ausgerechnet der gepflegte Dialog zwischen Einzelbürgern an der galoppierenden Polarisierung der politischen Auseinandersetzung etwas ändern? Wären funktionierende öffentliche Debatten nicht wichtiger als arrangierte Tête-à-Têtes? Sind es wirklich die mangelnden Begegnungen, die die Gräben zwischen den Menschen vertiefen? Oder liegt es nicht vielmehr an den falschen Informationen, den falschen Ideen, den falschen Dogmatismen? Und hätten nicht gerade Medien die Pflicht, richtige Informationen und konstruktive Ideen unter die Leute zu tragen, anstatt sich als demokratiepolitisches Datingportal zu betätigen?

Immer noch mehr Demokratie

Der ständig proklamierte Imperativ des Miteinander-Redens verrät letztlich eine grosse Hilflosigkeit: Offenbar beginnt es an politischen Konzepten zu mangeln, die auf der Basis des liberalen Verfassungsstaats eine befriedete, gemeinsame Zukunft vorstellbar bleiben lassen. Offenbar fehlt es an überzeugenden Visionen. Also ziehen wir uns zurück auf die Default-Position versagender demokratischer Debatten: neue Kommunikationsformen, innovative, am liebsten Big-Data-gestützte Begegnungsplattformen, die x-te Aktion zur partizipativen Mobilisierung.

Letztendlich geht der Diskurs über die Demokratiekrise stets von neuem in dieselbe Falle: Wie auch immer die Krisendiagnose aussieht und ganz egal, ob sie sich auf Fragen der Effizienz, der Legitimität oder der gesellschaftlichen Integrationsleistung von Regierungshandeln bezieht, der Therapievorschlag ist immer derselbe: Auf die Krise der Demokratie muss geantwortet werden mit noch mehr Demokratie. Auf die Krise der Repräsentation muss geantwortet werden mit verstärkter Partizipation. Auf das Verflachen der Debatte mit noch mehr Debatte.

Unbestritten: Die Diskussionen um Wahlverfahren und Beteiligungsmodelle sind essenziell. Aber wären nicht die politischen Positionen, zwischen denen wir de facto eine Wahlmöglichkeit haben, sehr viel wichtiger? Die Formen von Entscheidungsprozessen sind von grosser Tragweite. Aber leidet die Demokratie nicht vielmehr an einer Krise der politischen Inhalte?

Es gehört zu den bemerkenswerten Zügen unserer Epoche, dass ein sich verschärfendes Bewusstsein der Demokratiekrise einhergeht mit einer zunehmenden Verabsolutierung des Demokratieprinzips.

Märkte, Völker, Massen

Im Jahr 2004 veröffentlichte der Finanzjournalist James Surowiecki den Essay «Die Weisheit der vielen», der sofort zu einem internationalen Bestseller wurde. Surowiecki stellte die These auf, dass kollektive Entscheidungen grundsätzlich intelligenter sind als Expertenentscheidungen – und brachte damit den Zeitgeist auf den Begriff. Kurz darauf wurde «Die Weisheit der vielen» durch die Finanzkrise so krachend dementiert, wie es überhaupt nur vorstellbar ist. Finanzmärkte sind ja nichts anderes als kollektive Entscheidungsmechanismen zur Festsetzung von Preisen und zur Zuteilung von Kapital. Sie agierten plötzlich unweiser, als das irgendjemand je für möglich gehalten hätte.

Doch was war die Reaktion auf die Finanzkrise? Der Aufstieg des Populismus und die erneute Verabsolutierung der Weisheit der vielen – diesmal nicht unter dem Banner des Marktes, sondern unter dem Banner der Demokratie.

Natürlich wäre es absurd, infrage zu stellen, dass die Demokratie die einzig legitime Regierungsform darstellt. Darüber, dass sich im Zeichen der Volkssouveränität ein neuer Autoritarismus breitmacht, sollten wir uns ernste Sorgen machen. Aber genau diese Entwicklung zeigt auch deutlich, dass «mehr» Demokratie nicht zwingend besser ist für die Demokratie. Eine der vielleicht wichtigsten Publikationen der letzten Jahre war «Democracy for Realists» (Demokratie für Realisten) der beiden amerikanischen Politologen Larry M. Bartels und Christopher H. Achen. Sie zeigt erschütternd gut dokumentiert und unzweideutig, wie häufig um Volksnähe bemühte Konzepte der Demokratie zu schlechten Ergebnissen führen, nicht nur zu irrationalen Entscheiden, sondern zu einer Verzerrung des vermeintlichen Volkswillens. In den USA wurden Bartels und Achen breit diskutiert. Von den europäischen Medien wurde ihre Studie fast vollständig ignoriert.

Die Deliberation

Allerdings muss man der Aktion «Die Schweiz spricht» zugutehalten, dass es hier gar nicht um Politik im unmittelbaren Sinn, um institutionelle Reformen, Partizipation oder Volksrechte geht. Es soll lediglich das Bürgergespräch in Gang gehalten werden. Damit legt die Aktion den Finger tatsächlich auf den entscheidenden Punkt. Denn alle Demokratie gründet auf einem «deliberativen» Fundament.

Repräsentative Regierungsformen, parlamentarische Prozesse, direkte Volksentscheide sind letztlich nur so viel Wert wie die Debattenkultur, in die sie eingebettet sind. Wie anders soll demokratische Entscheidungsfindung tragfähig sein als dadurch, dass eine Mehrheit der Bürger überzeugt werden kann – und zwar nicht durch Desinformation, Propaganda und sonstige strategische Kommunikation, sondern durch Argumente, die einen echten Anspruch auf Gültigkeit erheben?

Nein, politische Debatten verlaufen kaum je in wirklich rationalen Bahnen. Aber den Anspruch, vernünftig sein zu wollen und begründbare Ziele zu verfolgen, können sie trotzdem nicht aufgeben. Sonst schrumpft die demokratische Auseinandersetzung zum blossen power broking und hat als einziges Ziel den geometrischen Schnitt der Sonderinteressen. Sonst werden die Grenzen des politisch Legitimen nur noch gesetzt durch die Lügen, mit denen man vor den Wählern durchkommt. Dass dann sehr schnell fast alle moralischen und staatsrechtlichen Prinzipien zur Disposition stehen, lässt sich momentan an den verschiedensten Ecken des Globus beobachten.

Jürgen Habermas lieferte die soziologisch wohl reflektierteste Theorie der «deliberativen Demokratie», und deren normative Voraussetzungen leiten sich her aus der «idealen Sprechsituation» – oder, wie man etwas schlichter formulieren könnte, aus den Bedingungen für ein gutes Gespräch. Auch wenn man den Idealismus von Habermas’ Diskurstheorie nicht in allen Aspekten mitmacht, kann man schwer in Abrede stellen, worauf das Ethos von demokratischen Gemeinschaften gründen muss: auf der gemeinsamen, vernünftigen Diskussion der kollektiven Entscheidungen. Im Zentrum der wahren Demokratie steht das Gespräch. Insofern ist es tatsächlich wünschenswert, dass «die Schweiz spricht». Bitte mehr davon!

Aber nicht jedes Gespräch ist produktiv. Es hat sich, wie gesagt, eine seltsame Fetischisierung der Gesprächsbereitschaft ausgebreitet. Als würde es reichen, mit dem Gegner zu reden – jedem Gegner, selbst dem antidemokratischen –, um seine destruktive Kraft zu bannen. Als müsste man bloss seine Widersacher zu Wort kommen lassen, um sie in den Kreis der Demokratiefreunde wieder einzugemeinden. «Mit Rechten reden» hiess nach dem AfD-Triumph in Deutschland das Sachbuch der Stunde (man lese dazu in der Republik den heutigen Essay von Daniel Graf). Als ob das vordringlichste Problem tatsächlich darin bestünde, «die Ängste der Leute» ernst zu nehmen, auf sie zuzugehen – und nicht, sie auf die Verteidigung der Demokratie zu verpflichten.

Analoge Feindberührung

Eine entscheidende Pointe von «Die Schweiz spricht» dürfte darin bestehen, dass sich politische Opponenten in Fleisch und Blut begegnen sollen – anstatt lediglich in den sozialen Medien ihre likes und dislikes zu verteilen oder in Kommentarspalten ihr Ressentiment abzuladen. Die Bürger sollen den «Filterblasen» entrissen werden, erklärte die «Zeit» schon letztes Jahr, als sie «Deutschland spricht» lancierte.

Begegnungen in der realen Welt sind sicher sehr viel produktiver als Spiegelfechtereien per Computerklaviatur. Aber ist es tatsächlich die Bildung von Filterblasen, woran der öffentliche Diskurs krankt? Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat in seinem Buch «Die grosse Gereiztheit» eine andere These vorgeführt: Die permanente Übererregbarkeit der heutigen Öffentlichkeit gründet nicht darin, dass die Bürger sich im Netz nur noch in homogenen Meinungssphären bewegen und sich deshalb zu immer extremeren Positionen hochschaukeln.

Im Gegenteil, sagt Pörksen. Das Problem liege darin, dass wir in den sozialen Medien ständig mit unseren Gegnern konfrontiert würden. Es reicht, in einer linken Facebook-Gruppe mitzutun, um rechte Hasskommentare auf sich zu ziehen. Oder umgekehrt. Das Internet sorgt weniger für ideologische Abschottung als für permanente Feindberührung. «Die Schweiz spricht» jedoch erhebt ausgerechnet die Feindberührung zum erklärten Ziel – was unter heutigen Bedingungen eigentlich überflüssig ist. Es könnte die Gereiztheit eher noch grösser machen, anstatt sie zu entschärfen.

Was tun, damit der demokratische Dialog nicht immer weiter verkümmert? Es kann sicherlich nichts schaden, wenn die Bürger aufeinander zugehen, und sei es nur zum Rendezvous in einem Café um die Ecke. Aber entscheidend sind letztlich die Ansagen, die gemacht werden. Welcher Grad der gesellschaftlichen Solidarität ist notwendig? Was ist gerecht? Welche Grundrechte sind unantastbar? Welchen Patriotismus brauchen wir? Welchen Schutz verdienen Minderheiten? Wo muss der Staat durchgreifen? Welche konkreten Massnahmen erfordert Gleichstellung?

Man kann über diese Fragen trefflich streiten. Man soll es auch. Wir dürfen uns aber nicht der Illusion hingeben, dass schon das Gespräch die Zukunft der Demokratie sichern wird. Die wird nur von einem abhängen: den Antworten.

Illustration: Alex Solman

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