Denn sie wussten, was sie tun

Mit Cum-Ex-Deals haben vermögende Investoren, Anwälte und Banker den Fiskus mehrerer Staaten in Europa um Milliarden Euro geprellt. Ihr Argument, das sei alles legal gewesen, überzeugt auf der ganzen Linie nicht.

Kommentar von Mark Dittli, 18.10.2018

Man nimmt ein Aktienpaket und verschiebt es unmittelbar vor dem Tag der Dividendenausschüttung in die Hände eines anderen Besitzers. Nach Auszahlung der Dividende wird die Buchung rückgängig gemacht. Damit verschleiert man für kurze Zeit den wirtschaftlich Berechtigten an den Aktien und erhält die Möglichkeit, die vom Staat abgeschöpfte Verrechnungssteuer auf den Dividendenerträgen mehrfach zurückzufordern.

So funktioniert, stark vereinfacht ausgedrückt, ein Cum-Ex-Geschäft. Während Jahren wurden diese Deals in diversen Ländern Europas praktiziert. Zum Teil im Verborgenen, zum Teil unter den Augen der Steuerbehörden. Vermögende Privatinvestoren haben sich damit in Milliardenhöhe bereichert – mit tatkräftiger Hilfe findiger Anwälte und Banken, auch aus der Schweiz.

Es geht um enorm hohe Summen. Allein in Deutschland sollen dem Fiskus mit Cum-Ex-Geschäften und anderen Formen von Dividendenstripping rund 32 Milliarden Euro entgangen sein. Europaweit sind es mehr als 55 Milliarden.

Die Argumentation der Steueranwälte, Banker und Investoren: «Es war alles legal.» Sie hätten eine Lücke in den Steuergesetzen ausgenutzt und sich mit den Cum-Ex-Transaktionen nicht strafbar gemacht. Einige von ihnen könnten bald in Deutschland wegen schwerer Steuerhinterziehung vor Gericht kommen.

Formaljuristische Argumente versus Vernunft

Kann das sein? Kann es legal sein, Steuern über eine kurzfristige Veränderung der Besitzverhältnisse zu umgehen und zum Teil sogar mehrfach zurückzufordern?

Die Beantwortung dieser Fragen hat eine juristische und eine moralische Komponente. Es wird Sache der Gerichte sein, über die juristische Seite zu urteilen. Erste Anklageschriften in Deutschland sind eingereicht, die Rechtsfindung nimmt ihren Lauf.

Schon heute kann gesagt werden: Wer Cum-Ex-Geschäfte getätigt und ermöglicht hat – Privatkundenbetreuer, Börsenhändler, Treuhänder und Anwälte –, hat haargenau gewusst, dass damit Verrechnungssteuern mehrfach zurückbezahlt werden, obwohl sie nur einmal abgeschöpft wurden. Die Argumentation, das sei legal, basiert auf einem formaljuristischen Rechtsverständnis, das sich meilenweit von jeder Vernunft entfernt hat.

Die Tricks, und um nichts anderes handelt es sich dabei, mögen den Buchstaben der Gesetze nicht widersprechen, doch die Legalität ist eine Frage der Auslegung. In der Schweiz – wo Cum-Ex-Geschäfte auf Basis eines Kreisschreibens der Steuerverwaltung schon lange nicht mehr erlaubt sind – gilt die Regel: Wenn die Auslegung eines Gesetzes zu einem sinnwidrigen Resultat führt, kann sie nicht richtig sein. Das bedeutet, dass die Rechtsprechung vom Buchstaben des Gesetzes abweichen darf, um dem eigentlichen Sinn des Gesetzgebers zu folgen.

Die Rechtstradition in Deutschland folgt im Gegensatz zur Schweiz einem formalistischeren Verständnis und berücksichtigt in der Regel einzig den Wortlaut des Gesetzes. Es wird nicht zuletzt aus rechtsphilosophischer Perspektive aufschlussreich sein zu sehen, zu welchen Resultaten die deutsche Rechtsprechung in den Cum-Ex-Fällen kommen wird.

Pseudoliberale Positionen

Neben den juristischen Fragen steht die moralische Komponente der Steuerdeals. Und die stinkt gewaltig. Vermögende Privatinvestoren haben mithilfe von Anwälten und Banken dem Staat Geld entzogen. Sie wussten, dass sie Steuern mehrfach zurückfordern. Sie wussten, dass ihnen diese Forderungen eigentlich nicht zustehen. Und sie wussten, dass sie die hohe Komplexität ihrer Handelstransaktionen ausnützen, um den Fiskus auszutricksen. Wissentlich und willentlich.

Nicht einmal das Fanal der Finanzkrise vor zehn Jahren setzte dem Spiel ein Ende. In Deutschland wurden Cum-Ex-Geschäfte auch 2008 und danach im grossen Stil weiter praktiziert, als der Staat rund ein Dutzend Banken mit einem horrenden Einsatz an Steuergeldern retten musste. Zum Teil waren es sogar die geretteten Banken, die munter weiter Cum-Ex-Deals betrieben.

Ich nehme mir, was ich nehmen kann: Es galt – und gilt vielerorts weiterhin – während Jahren für Private und Unternehmen als legitim, die eigene Steuerlast bis an die Grenzen des Erlaubten zu optimieren. Und manchmal halt auch etwas darüber hinaus.

«Es ist der Staat, der mit den Steuern den Bürgern etwas wegnimmt», sagt der deutsche Cum-Ex-Zauberer Hanno Berger im Interview mit der Republik. Er steht damit symbolisch für eine Philosophie, die gerade in sogenannt liberalen Kreisen im deutschsprachigen Raum weit verbreitet war und ist. Dabei wird die Steuerhinterziehung zum Recht des hart arbeitenden Bürgers stilisiert, der sein Privateigentum vor den Klauen des unersättlichen Staates schützen will. Und die Banker und Anwälte üben eine edle Pflicht aus, wenn sie diesen rechtschaffenen Bürgern helfen.

«Deutschland ist ein Unrechtsstaat. Wer bei einer solchen Konstellation nicht Steuern hinterzieht, ist dumm», schwadronierte noch Anfang 2008 der einstige Schweizer Vorzeigebanker Konrad Hummler, Teilhaber der mittlerweile untergegangenen Bank Wegelin. Er sagte das zwar nicht im Zusammenhang mit Cum-Ex, sondern mit dem schweizerischen Bankkundengeheimnis, doch die Philosophie ist dieselbe.

Mal davon abgesehen, dass diese sogenannt liberalen Ansichten kaum mehr etwas mit dem klassischen Liberalismus zu tun haben: Es waren Praktiken und Aussagen wie diese, die während Jahren einen Keil in die Gesellschaften in vielen westlichen Demokratien getrieben und die Ungleichheit in der Vermögensverteilung stetig weiter erhöht haben.

Es lässt sich – bei aller Rücksicht auf die Komplexität der Geschichte – eine direkte Kausalität zwischen der wachsenden Ungleichheit, dem räuberischen Verhalten gewisser Teile der Finanzelite und den populistischen Revolten in zahlreichen westlichen Demokratien feststellen. Dazu haben, versteckt hinter einem pseudoliberalen Motiv und fadenscheinigen Argumenten der Legalität, auch die Cum-Ex-Tricks ihren Teil beigetragen.

Debatte: Wie weit darf Steueroptimierung gehen?

Teile der Finanzelite bereicherten sich europaweit mit Cum-Ex-Deals beim Fiskus. Sie berufen sich darauf, dass alles legal war. Sie hätten eine Lücke in den Steuergesetzen ausgenutzt. Was ist Ihre Meinung dazu? Diskutieren Sie mit!

Die Cum-Ex-Files