Die Volksbühne und der Schredder
#MeToo und Gender, Postkolonialismus und Populismus – darum gings vom 4. bis zum 21. Mai beim diesjährigen Berliner Theatertreffen. Leidenschaftlich debattierte die Community über einen nackten Busen.
Von Christine Wahl, 22.05.2018
In Beiträgen zur #MeToo-Debatte wird zurzeit häufig über Mansplaining geklagt: Männer erklären Frauen die Welt – gern auch in Bereichen, in denen diese besser Bescheid wissen.
Die grossartigste Inszenierung des diesjährigen Berliner Theatertreffens ist da erfreulicherweise um einiges weiter. Sie endet mit einem klaren Fall von Womansplaining. Und zwar mit einem, das punkto Komplexität und Attraktivität auf längere Sicht konkurrenzlos bleiben dürfte im deutschsprachigen Bühnenbusiness: Nachdem die Ausnahmeschauspielerin Valery Tscheplanowa sieben Stunden lang als bezüglich Goethe denkbar unkonventionelle Margarete und Helena sowie in einigen anderen Rollen durch Frank Castorfs epochale «Faust»-Version von der Berliner Volksbühne getigert ist, steht sie final in einem brustoffenen Glitzerbody an der Rampe und erklärt ihren Kollegen Faust alias Martin Wuttke und Mephisto alias Marc Hosemann, wer von ihnen gemäss Goethe-Forschung jetzt eigentlich die stücktragende Wette gewonnen hat.
Sie muss dabei ziemlich weit herunterschauen mit ihren High Heels. Denn die Jungs – und die Rede ist hier, zur Erinnerung, von keinem Geringeren als dem kanonischen europäischen Intellektuellen nebst dem leibhaftigen Teufel als seinem Sidekick – fahren irgendwo auf Tscheplanowas Hüfthöhe regressiv auf einem Kinderdreirad herum.
Die Tragikomödie des Tattergreises
In diesem Bild schnurrt nicht nur Frank Castorfs ganze bahnbrechende «Faust»-Lesart grandios zusammen, die den goetheschen Gelehrten von seinem bildungsbürgerlichen Sockel stösst. Sie entdeckt in ihm – ausgehend vom Motiv der Landnahme – den «Global Player» und damit den Kolonisator und verpasst dabei nicht, die Kolonialismustragödie immer auch als Tragikomödie vom Niedergang des tattergreisigen (weissen) Mannes zu erzählen, an dem noch die höchstdosierten Verjüngungsmassnahmen aus der Hexenküche hoffnungslos scheitern.
Sondern in diesem «Faust» und seinem Schlussbild finden sich überhaupt alle Themen angemessen komplex ineinander- und übereinandergeschachtelt, die das Theater zurzeit umtreiben – und das Theatertreffen, das als Branchenseismograf alljährlich eine unabhängige Kritikerjury durch den kompletten deutschsprachigen Theaterraum schickt, um die zehn bemerkenswertesten Inszenierungen der Saison zwecks Präsentation in Berlin aufzuspüren. Die Themen: von #MeToo über den (Post-)Kolonialismus bis hin zur Frage, wer auf der Bühne worüber erzählen und wer auf welche Weise für wen sprechen darf.
Frank Castorfs Ausnahmeensemble – so viel steht fest – spricht hier in dieser Form zum letzten Mal. 25 Jahre lang hat es die legendäre (Ost-)Berliner Volksbühne gerockt und gezeigt, dass ein Jacques Derrida oder ein Michel Foucault hervorragend an die Berliner Currywurstbude passen und Diskurs und Diskursanalyse sexy sein (und auch aussehen) können: Intellektuell Trendbewusste aus allen Himmelsrichtungen pilgerten in den Neunzigerjahren in die Volksbühne wie in angesagte Technoklubs à la Berghain. Mit dem diesjährigen Theatertreffen hat sich die Truppe endgültig von ihrem Publikum verabschiedet.
Castorfs Volksbühne – ein Endspiel
Kurze Rückblende: Vor drei Jahren hatte der Berliner Senat in Person des regierenden Bürgermeisters und nebenberuflichen Kultursenators Michael Müller sowie seines Kurzzeit-Kulturstaatssekretärs Tim Renner beschlossen, Castorfs Volksbühnen-Intendanz ohne Not und gegen dessen Willen zu beenden und ab der Saison 2017/2018 den belgischen Museumskurator Chris Dercon von der Londoner Tate Modern als Nachfolger einzusetzen. Der war – ein einigermassen konkurrenzloser Fall kulturpolitischen Totalversagens – mit seinem Gastspielkonzept am Ensemble- und Repertoiretheater derart falsch, dass er jetzt, nach weniger als einer Spielzeit, schon nicht mehr im Amt und die Volksbühne eine finanziell wie ideell ausgeblutete Hülle ist. Der neu bestellte, sachkundige Geschäftsführer Klaus Dörr muss als Interimsintendant mühsam versuchen, sie wieder zu füllen und aufzupäppeln.
Durch diesen tief ins Theatervolk einschneidenden Abschied von der massstabsetzenden Castorf-Volksbühne, den die Berliner Festspiele als Veranstalter dramaturgisch klug am Festivalbeginn platziert hatten, erschien die dramatische Leistungs- in diesem Jahr umso deutlicher als Richtungsschau. Auffällig wurden dabei insbesondere fünf Trends – sowie ein dezidiert untrendy Theater-Ladenhüter.
Der erste Trend – ein prinzipiell erfreulicher – ist der zum paradigmatischen Perspektivenwechsel. Was, um es mit dem ewigen Avantgarde-Dramatiker und -Regisseur René Pollesch zu sagen, konkret bedeutet: «Weiss, männlich, heterosexuell, Mittelschicht und alles, was sonst noch nicht als Problem markiert ist», wird endlich als solches gekennzeichnet. Und damit wird einer sich irrigerweise für universell haltenden Weltbetrachtungsperspektive Gegenerzählung um Gegenerzählung entgegengesetzt.
Ein Ensemble of Color
Die junge Münchner Regisseurin Anta Helena Recke überführt zu diesem Zweck ein aus der bildenden Kunst bekanntes Verfahren – die Strategie der Appropriation Art – ins Theatergenre. Sie kopiert bis in die Gänge, Handbewegungen und Blickwechsel hinein originalgetreu Anna-Sophie Mahlers Musiktheaterproduktion «Mittelreich» von den Münchner Kammerspielen, an der sie selbst vor zwei Jahren als Regieassistentin beteiligt war.
Mit einem einzigen Unterschied: Reckes Ensemble besteht ausschliesslich aus Schauspielerinnen und Schauspielern of Color. Für den konzeptkünstlerischen Verfremdungseffekt, der aufzeigen soll, wie eng die Mainstream-Vorstellung vom «Deutschsein» mit «Weisssein» verknüpft ist, eignet sich «Mittelreich» besonders gut: Es ist ein Romanstoff des urbayrischen und besonders in München schwer identifikationstauglichen Schauspielers Josef Bierbichler um eine urbayrische und besonders in München schwer identifikationstaugliche Familie.
Während Recke ihren Abend, rein theaterpraktisch, als Offensive zur Bewusstmachung für die Unterrepräsentanz von Künstlerinnen und Künstlern of Color im deutschen Stadttheater versteht, hinterfragt ihre Kollegin Karin Henkel in der Inszenierung «Beute Frauen Krieg» am Schauspielhaus Zürich die männliche Geschichtsschreibungsdominanz. Henkel lässt zwei Stücke des Euripides über den Trojanischen Krieg – «Die Troerinnen» und «Iphigenie in Aulis» – aus Sicht der leidtragenden Frauen neu erzählen.
Leider konkretisiert sich das im optisch und organisatorisch aufwendigen Bühnenklartext so: Zuschauerinnen und Zuschauer durchschreiten in kleinen Gruppen einen Opferparcours von Hekaben, Kassandren oder Polyxenen, die sich von böse brüllenden und kriegsversehrt hinkenden Männerkarikaturen kujonieren lassen und schliesslich als vervielfachte Helena im pinkfarbenen Marilyn-Barbie-Look auch noch ihren Status als Sexsymbol bejammern, als wäre der Genderdiskurs in den Siebzigerjahren schockgefrostet worden. Was die «feministische Umdeutung» betrifft, von der im Theatertreffen-Programmheft die Rede ist, bleibt jedenfalls derart viel Luft nach oben, dass man sich umgehend nach Valery Tscheplanowas faustischem Womansplaining-Auftritt zurücksehnt.
Feminismus! Feminismus?
Welcher übrigens – der zweite beim Theatertreffen zu eruierende Trend – in den Feuilletons und Kommentarspalten, beispielsweise auf dem Theaterportal Nachtkritik.de, eine Debatte über (Bühnen-)Feminismus ausgelöst hat. So begrüssenswert diese grundsätzlich ist, bleibt sie in der Gesamttendenz hinter dem Niveau der «Faust»-Aufführung zurück. Ungeachtet des Bühnenkontextes und ungeachtet der Tatsache, dass Valery Tscheplanowa in Interviews betont hatte, sich ihr Kostüm unabhängig vom Regisseur bei der Kostümbildnerin Adriana Braga höchstselbst ausgesucht und auserbeten zu haben, erregt man sich über «barbusig im Glitzerhöschen spielende» Künstlerinnen, deren männliche Kollegen bestenfalls «mit dem Plastik-Dildo» wedelten, wenn sie «mal die Hosen runterlassen sollen». Fast wähnt man sich zurück im Fünfzigerjahre-Puritanismus – und in einem «Feminismus», der, wie ein «Nachtkritik»-User hellsichtig diagnostiziert, von vornherein verloren hat, wenn er «sich darin erschöpft, die Anzahl nackter Brüste mit der Anzahl nackter Schwänze zu vergleichen».
Dagegen ist der dritte beim Theatertreffen zu beobachtende Trend zumindest für die Bühnen-«Bubble», wie die Branche in Berlin auf Podien ob ihrer Exklusivität und Elitarität gern mal gedisst wird, vergleichsweise kontroversenunverdächtig – und tagesaktuell. Die Bühnen engagieren sich gegen Rechtsruck und Rechtspopulismus: Elfriede Jelineks Stück «Am Königsweg» leuchtet in Falk Richters kongenialer Inszenierung vom Hamburger Schauspielhaus gewissermassen geschichtsarchäologisch und unter Rückgriff auf sämtliche kulturhistorischen Erklärungshilfsgüter vom antiken König Ödipus bis zum Schwarzwald-Philosophen Martin Heidegger das Phänomen Donald Trump aus, ohne auch nur ein einziges Mal dessen Namen zu nennen.
Die Blindheit und Hilflosigkeit einer linken Kultur- und Theaterelite angesichts der Twitterkönig-Causa, die bei Jelinek und Richter ebenfalls (selbstkritisch) verhandelt wird, will der Regisseur und Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier hingegen so nicht stehen lassen. Seine Inszenierung «Rückkehr nach Reims» geht von Didier Eribons gleichnamigem Essay aus, in dem der französische Philosoph zum einen die langjährige soziale Scham ob seiner Herkunft aus dem Arbeitermilieu und zum anderen die Abkehr ebenjenes Milieus von linken Idealen hin zu Marine Le Pens Front National untersucht.
Am Ende der Inszenierung steht eine Art Individualutopie: Die Schauspielerin Nina Hoss setzt der Biografie des eribonschen Vaters diejenige ihres eigenen entgegen. Der stammte aus demselben Milieu, doch statt nach rechts zu driften, begründete er die bundesdeutsche Ökopartei der Grünen mit, engagierte sich als Gewerkschaftsführer und setzte sich bis zu seinem Tod in Brasilien für die Erhaltung des Regenwaldes ein.
Immerhin wurde leidenschaftlich gestritten. Darüber, ob es nicht ein bisschen zu simpel oder gar wohlfeil sei, Eribons soziologische Strukturanalyse mit einem singulär leuchtenden Positivbeispiel auszukontern. Oder darüber, ob man es hier endlich mal mit einem Theater zu tun habe, das sich nicht mehr mit dem zigsten Fingerzeig auf die komplexen Verhältnisse begnügt, sondern – wie sich die Theatertreffen-Jurorin Dorothea Marcus im Programmheft freut – «Antworten liefert», und zwar «mit echtem Aktivismus».
Der obligate Ladenhüter
Anderen vorgeblich politischen Theatertreffen-Beiträgen blieb diese Diskussionskultur aus guten Gründen versagt – womit wir jetzt nicht etwa beim nächsten Trend wären, sondern leider bei einem sehr stabilen, robusten, entsprechend omnipräsenten und also schon seit Jahrzehnten nervenden Branchen-Ladenhüter-Normalfall: dem gesellschaftskritischen Abend, der vorgibt, sich aus einer kanonischen Steilvorlage heraus analytisch an die Gegenwart heranzurobben. De facto fällt ihm dann nichts ein ausser ein bisschen Bühnennebel und den nächstliegenden Popsongs, die das, was der Text gerade wortreich über die Rampe transportiert hat, vorsichtshalber auch noch mal singen.
Diese Position besetzt beim Theatertreffen 2018 Christopher Rüpings Bertolt-Brecht-Inszenierung «Trommeln in der Nacht» von den Münchner Kammerspielen. Sie verschenkt damit die immergute Fragestellung, ob Menschen sofort aufhören, sich gegen die immerschlechten gesellschaftlichen Verhältnisse aufzulehnen, sobald sie ein kleinbürgerliches privates (Ehe-)Glück gefunden haben. Verständlicherweise macht sich grosse Erleichterung breit, als – untrügliches Zeichen des nahen Stückendes – versierte Bühnenspezialeinheiten anheben, das Szenario zu schreddern.
Kettensägen und andere Maschinen
Der Schredder feierte seine Premiere beim Theatertreffen 2015, als die grandiose Schauspielerinnen-Combo aus Dušan David Pařízeks Wolfram-Lotz-Inszenierung «Die lächerliche Finsternis» sämtliche Kulissen zerlegte. Als Trend Nummer vier scheint er nunmehr flächendeckend Bühneneinzug zu halten. Neben «Trommeln in der Nacht» kulminiert jedenfalls auch Antú Romero Nunes’ «Odyssee»-Version vom Hamburger Thalia-Theater, deren Untertitel – «Eine Irrfahrt nach Homer» – das Bühnengeschehen besser auf den Punkt bringt, als allen Beteiligten lieb sein dürfte, in einem lustigen Kettensägenmassaker. Die Halbbrüder Telemachos und Telegonos, gespielt von Thomas Niehaus und Paul Schröder, zerlegen in einer Art ultimativem Vatermord den Sarg ihres Daddys Odysseus.
Immerhin lässt sich auch an den «Odyssee»-Darstellern ein fünfter und letzter Trend des Berliner Theatertreffens ablesen: Schauspielerinnen und Schauspieler gehen an physische Höchstleistungsgrenzen. In Ulrich Rasches «Woyzeck»-Variante vom Theater Basel wird – ein Markenzeichen dieses Regisseurs – auf riesigen, maschinell betriebenen Drehscheiben gespielt und somit abendfüllend aufs Schweisstreibendste marschiert. So, dass die Büchner-Textzeile «Er sieht so verhetzt aus, Woyzeck» hier grundsätzlich auf alle zutrifft. Auch, wenn man sich gewünscht hätte, dass die Schauspieler eine klarere Haltung zum Büchner-Text finden, statt ihn irgendwo zwischen betroffenem Einfühlungs- und verfremdendem Zeigegestus-Theater zu verwässern.
Mit einer anderen Form grandioser Schauspielerverausgabung legte sich das Berliner Theatertreffen 2018 dann in die Schlusskurve: Wenn Joachim Meyerhoff in seinem Bühnensolo vom Wiener Burgtheater unter der Regie von Jan Bosse den autobiografisch inspirierten, bipolaren Romanhelden aus Thomas Melles «Die Welt im Rücken» performt, bekommt nicht nur das besagte Krankheitsbild einen wohltuend denunziationsfreien und tatsächlich tiefere Einsichten befördernden Charakter. Sondern das Publikum ist auch nicht vor Frontalangriffen auf sein Passiv-Zuschauer-Ego gefeit. Hier hocke ja eine personifizierte «Sackgasse» neben der anderen, ätzt Meyerhoff von der Rampe ins Parkett herunter, während er schonungslos die erste Reihe scannt.
Was Meyerhoff hier tut, ist eine zielsichere Tiefenbohrung im offenen Herzen der gesamten Veranstaltung, die ja seitens des Protagonisten mit einer Extremform des Ichverlusts und seitens der Zuschauer (auch) mit einem gehörigen Schuss Voyeurismus zu tun hat. «Na, Sie haben sich wohl gedacht, wir machen uns mal einen netten bipolaren Abend», pöbelt der Schauspieler ein Zuschauerinnen-Trio an, dem er im Vorfeld bereits ein erbärmlich niedrigschwelliges Humorniveau diagnostiziert hatte. «Ist ja ne alte Methode, sich Leute anzugucken, denen es noch schlechter geht als einem selbst.»
Ein würdig selbstreflektierender Abschlussabend des Berliner Theatertreffens also. Unbedingt erwähnt werden muss noch, dass der bezüglich Qualität, Gedankenschärfe und Fulminanz zum Castorf-«Faust» aufschliessende zehnte eingeladene Theatertreffen-Beitrag «aus terminlichen Gründen» nicht gezeigt werden konnte: Vegard Vinges und Ida Müllers «Nationaltheater Reinickendorf», das in einem Totaltheater irgendwo zwischen Comic, Geisterbahn und Computerspiel den Dramenkanon von Shakespeare bis Ibsen neu aufschliesst und das die Castorf-Volksbühne als rechtmässiger Erbe würdig weiter ins 21. Bühnenjahrhundert führt.
Christine Wahl, geboren 1971 in Dresden, studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie in Freiburg i. Br. und Berlin. Seit 1995 ist sie freie Journalistin und Theaterkritikerin unter anderem für den «Tagesspiegel», «Theater heute» und «Spiegel online». Sie war Mitglied in diversen Jurys, unter anderem für das Theaterfestival Impulse, den Hauptstadtkulturfonds und das Berliner Theatertreffen. Aktuell ist sie Mitglied im Auswahlgremium für den Mülheimer Dramatikerpreis sowie den Kranichsteiner Literaturpreis.
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