Auf lange Sicht

Italiens Misere in fünf Charts

An den Finanzmärkten steigt die Furcht vor einer neuen Eurokrise. Im Brennpunkt steht Italien: Europas drittgrösste Volkswirtschaft kommt seit zwanzig Jahren nicht vom Fleck.

Von Mark Dittli, 08.10.2018

Kein Tag ohne Matteo Salvini. Italiens Innenminister und Vizepremier dominiert die Schlagzeilen in seinem Land. Jeden Tag feuert der Partei­sekretär der populistischen Lega-Partei Dutzende Tweets ab, spricht zu den amici seiner Basis, wettert gegen Einwanderer und streitet sich mit allen möglichen Gegnern im In- und Ausland.

Kein Zweifel: Der 45-Jährige ist der starke Mann in Rom. Ministerpräsident Giuseppe Conte bleibt eine farblose Figur. Der Chef der Fünf-Sterne-Bewegung, Luigi Di Maio, schafft es kaum je, aus dem Schatten des Koali­tions­partners aus dem Norden zu treten.

Dieser Tage hat Matteo Salvini einen neuen Gegner gefunden: Jean-Claude Juncker. Von einem TV-Journalisten angesprochen auf den EU-Kommis­sions­präsidenten, sagte Salvini am 2. Oktober ins Mikrofon, er rede nicht mit betrunkenen Menschen. Einen Tag später drohte der Italiener sogar, er werde Juncker verklagen.

Hintergrund dieser Tiraden: Italiens Regierung hat für das kommende Fiskaljahr ein Haushaltsbudget vorgelegt, dessen Defizit die Vorgaben der EU-Kommission deutlich übersteigt. Juncker verglich Italien zu Beginn der Woche mit Griechenland und warnte, die Kommission müsse hart bleiben. Sonst sei die Europäische Währungsunion in Gefahr.

Die Finanzmärkte werden nervös. Die Zinsen auf die zehnjährigen italie­nischen Staatsanleihen stiegen diese Woche auf über 3,4 Prozent und damit auf den höchsten Stand seit viereinhalb Jahren. Die Renditedifferenz zu deutschen Bundesanleihen weitete sich auf über drei Prozentpunkte aus. Je höher der Zins, desto riskanter werden italienische Anleihen von den Investoren eingestuft. Die Aktienkurse italienischer Banken brachen letzte Woche ein.

Droht eine Neuauflage der Eurokrise?

Italiens Politiker versicherten umgehend, ein Austritt aus dem Euro sei kein Thema. Doch sowohl Salvini wie auch Di Maio haben in der Vergangenheit mehrmals mit dem Exit aus der Währungsunion kokettiert. Sie wissen, dass der Euro im Volk unbeliebt ist. Und sie hätten mit einem «Italexit» – abgesehen von den horrenden Kosten und dem Chaos, die den Austritt zwangsläufig begleiten würden – vielleicht gar nicht mal so unrecht.

Denn Italien zählt zu den grössten Verlierern der Währungsunion. Die folgenden Grafiken veranschaulichen es.

1. Die Grössenverhältnisse

Italien ist ein Schwergewicht.

Es ist die drittgrösste Volkswirtschaft der 19 Länder umfassenden Eurozone, fast 50 Prozent grösser als die Nummer vier, Spanien. Griechenland, das die Finanzmärkte zwischen 2010 und 2015 fünf Jahre lang in Atem hielt, bringt nur gerade ein Zehntel des Gewichts von Italien auf die Waage.

Italien ist ein grosses Kaliber

Wirtschaftsleistung der Euroländer, in Euro

DeutschlandFrankreichItalienSpanienNiederlandeBelgienÖsterreichIrlandFinnlandPortugalGriechenland0 2000 4000 Mrd.

Quelle: Eurostat

Sollte Italien also tatsächlich eine neue Eurokrise auslösen, wäre Griechen­land dagegen ein Kinderspiel gewesen.

«Aber Griechenland war ein Extremfall. Den Italienern geht es doch immer noch viel besser als den Griechen.»

Ungefähr so lautet in der Regel die Erklärung, weshalb ein Vergleich zwischen den beiden Ländern nicht statthaft sei. Doch leider stimmt die Aussage nicht. Den Italienern geht es nicht besser.

2. Die Wirtschaftsentwicklung

Die Grafik zeigt die Entwicklung des realen Bruttoinlandproduktes (BIP) von ausgewählten Euro-Ländern seit 1995. Die Kurven sind zur besseren Ver­gleich­barkeit indexiert; den Startwert von 100 markiert das erste Quartal 1999, als der Euro als Gemeinschaftswährung eingeführt wurde.

Italien wächst kaum

Reales Bruttoinlandprodukt (indexiert; 1999 = 100)

Achse gekürzt1995200320102018131,3 Deutschland131,7 Frankreich108,6 Italien143,6 Spanien105,3 Griechenland90100110120130140

Quelle: FRED

Die Daten

Die Daten in diesem Beitrag stammen aus der Eurostat-Datenbank der Euro­päischen Union sowie aus der FRED-Datenbank der Federal Reserve Bank of St. Louis. Die FRED-Datenbank der St. Louis Fed, eines der zwölf Regionalableger der amerikanischen Notenbank, ist äusserst benutzerfreundlich. Sie enthält mehr als 500’000 Datenreihen aus 87 Primärquellen wie Weltbank, Internationaler Währungsfonds, Eurostat oder OECD.

Die grüne Kurve zeigt die Entwicklung in Italien. Seit bald zwanzig Jahren, seit der Einführung des Euro, kommt Italiens Wirtschaft nicht mehr vom Fleck. Spanien und Griechenland erlebten in den Nullerjahren zunächst einen gewaltigen Boom und brachen dann ein. Spanien hat sich gefangen und erholt, während Griechenland wieder in die Region von Italien zurück­gefallen ist.

Italiens BIP ist gegenwärtig nur 8 Prozent grösser als Anfang 1999 – eine erbärmliche Entwicklung über einen Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten.

Aufschlussreich ist im Vergleich dazu der Pfad Deutschlands (orange Kurve). Bis 2007, vor Ausbruch der Finanzkrise, entwickelt sich Deutschlands BIP im Gleichschritt mit Italien. Danach driften die beiden Kurven auseinander. Deutschland wächst nach 2008 rasant, während Italien stagniert.

Noch extremer wird das Bild, wenn wir auf einen bestimmten Wirtschafts­sektor fokussieren.

3. Die Industrieproduktion

Die Kurven sind wiederum indexiert auf das erste Quartal 1999. Der Zeitraum ist etwas länger, die Datenreihe beginnt 1989, um auch die Entwicklung in den 90er-Jahren zu zeigen.

Deutschland zieht davon – Italien verliert

Industrieproduktion (indexiert; 1999 = 100)

Achse gekürzt1989199920082018143,5 Deutschland101,5 Frankreich88,2 Italien91,1 Spanien80100120140

Quelle: FRED

Für die vorliegende Betrachtung interessiert primär der Vergleich zwischen der Industrieproduktion in Italien (grün) und Deutschland (orange). In den 90er-Jahren entwickeln sich die beiden Kurven praktisch gleich, doch nach der Jahrtausendwende – mit der Einführung des Euro – beginnt die Divergenz: Italiens Industrie kommt nicht mehr voran, bricht dann mit der Rezession von 2008 ein und hat sich seither nicht erholt.

Deutschlands Industrieproduktion liegt gegenwärtig 44 Prozent über dem Stand von 1999, während Italiens Industrie im gleichen Zeitraum um 12 Prozent geschrumpft ist. Das einst stolze Industrieland hat den Anschluss verloren.

Es lässt sich freilich keine direkte Kausalität zwischen der Einführung des Euro und dem Niedergang der italienischen Industrie beweisen, aber der zeitliche Bruch zur Jahrtausendwende ist augenfällig.

Italiens Exportwirtschaft war es sich zuvor gewohnt, mit einer schwachen Währung zu arbeiten – die Autorin Paola Subacchi hat das damalige Wirtschaftssystem in einem Essay für die Republik vor einigen Monaten beschrieben. Regelmässige Abwertungen der Lira sicherten der Industrie die Wettbewerbsfähigkeit. Das änderte sich mit dem Euro auf einen Schlag.

Simpel gesagt: Für Italien war der Euro in den letzten knapp zwanzig Jahren zu stark, während er für Deutschland zu schwach war. Das zeigt die extreme Divergenz in der Industrieproduktion der beiden Länder.

Kommen wir zum nächsten Thema.

4. Die Arbeitslosigkeit

Die Grafik zeigt die Rate der Gesamtarbeitslosigkeit in Italien, Spanien, Deutschland und Frankreich.

Einer von zehn Italienern ist ohne Job

Arbeitslosigkeit, saisonbereinigt, in Prozent

19901999200920185,4 % Deutschland9,3 % Frankreich11,0 % Italien16,2 % Spanien0,05,010,015,020,025,0 %

Quelle: FRED (Frankreich: ab 2003 gleitender Durchschnitt über letzte vier Quartale)

Spaniens Achterbahnfahrt ist eindrücklich, doch uns interessiert hier primär wiederum Italien. Die offiziell ausgewiesene Arbeitslosenrate verharrt stur auf über 11 Prozent, nach 12 Prozent im Jahr 2013, als die Eurokrise wütete. Das sind Werte, die in Italien letztmals Mitte der 1990er-Jahre gemessen wurden.

Während fast überall in der Eurozone und besonders in Deutschland die Arbeitslosenraten stark gesunken sind, bleibt Italien auf Rezessionsniveau gefangen.

5. Die Jugendarbeitslosigkeit

Besonders besorgniserregend schliesslich ist das Bild, wenn wir die Jugend­arbeitslosigkeit – sie misst die arbeitslosen Menschen unter 25 Jahren – betrachten: In Italien sind fast 40 Prozent der Jugendlichen arbeitslos. In Deutschland sind es bloss rund 6 Prozent.

Schlechte Perspektiven für die Jungen

Jugendarbeitslosigkeit, in Prozent

19912000200820176,8 % Deutschland22,1 % Frankreich34,7 % Italien38,8 % Spanien0,010,020,030,040,050,0 %

Quelle: FRED

Das ist die Lage, in der sich das drittgrösste Land der Eurozone heute befindet: wirtschaftliche Stagnation seit zwanzig Jahren, die Industriebasis verkümmert, die Arbeitslosigkeit auf Rezessionsniveau und 40 Prozent der Jugendlichen ohne Job.

La crisi, die Krise, sie dauert nun schon fast eine Generation: das perfekte Spielfeld für Populisten wie Matteo Salvini. Wetten, dass die Lega in den nächsten Wahlen – und die liegen in Italien nie weit in der Zukunft – zur stärksten Partei im Land und Salvini zum Ministerpräsidenten wird?

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