Und das Leben geht weiter wie zuvor
Italiens Wirtschaft liegt am Boden. Viele Politiker schieben die Schuld dem Euro zu. Doch diese Sicht greift zu kurz: Ein ökonomischer Rückblick und ein politischer Ausblick.
Von Paola Subacchi (Text) und Simon Schmid (Übersetzung), 28.05.2018
Wenn Italien bloss aus dem Euro austreten könnte oder zumindest die Euroregeln nicht befolgen müsste: Dann würde alles gut.
Das ist die Botschaft der Wahlsieger vom März, der 5-Sterne-Bewegung und der Lega. Sie fahren einen harten Anti-EU-Kurs (und sind deswegen vorerst mit ihrer Regierungsbildung gescheitert). Sie wollen die Steuern senken und die Ausgaben erhöhen, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.
Die Botschaft kam bei den Wählerinnen offensichtlich gut an. Diese sind frustriert von der Wirtschaft und der EU. Gemäss dem Eurobarometer, einer europaweiten Umfrage, zählt Italien aktuell zu den eurokritischsten Ländern. 40 Prozent der Italiener glauben, der Euro sei schlecht für ihr Land. Das sind 15 Prozentpunkte mehr als der Durchschnitt aller Euroländer.
Viele Menschen glauben, dass sich ohne Euro das Blatt wenden würde. Und Italien zurück zu Prosperität findet. Wie berechtigt ist diese Hoffnung?
Italien vor dem Euro
Italiens Beziehung zur EU reicht weit zurück – bis 1957, um ein wichtiges Datum zu nennen. Damals war Italien stolze Gastgeberin eines historischen Ereignisses: der Unterzeichnung der Verträge von Rom. Das waren die Verträge, in denen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde, die Vorgängerorganisation der heutigen Europäischen Union.
Vielen Leuten ist nicht mehr bewusst, dass Italien zu dieser Zeit sehr pro-europäisch eingestellt war. Die Italienerinnen waren Befürworter des europäischen Projekts: wegen der grosszügigen Mittel, die aus Brüssel nach Süditalien fliessen sollten, und auch weil sie sich von der EU einen gewissen Schutz vor den Launen der heimischen Politik erhofften.
Italien stand Europa die ersten Jahrzehnte lang positiv gegenüber. Die Italiener muckten deshalb auch nicht auf, als der damalige Ministerpräsident Romano Prodi ihnen 1996 ein grosses Opfer abverlangte: eine besondere Eurosteuer, die das Budgetdefizit unter die Maastricht-Grenze von 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts senkte und das Land damit fit machte, um dem Euro beizutreten.
Was Italien am 1. Januar 1999 auch tat. Mit Folgen für das Wirtschaftssystem: Ökonomisch gesehen streifte sich Italien an diesem Datum gewissermassen die Zwangsjacke über – und legte damit unwiderruflich fest, dass sich der Wechselkurs seiner Währung nie mehr ändern würde. Statt der Lira würden die Italiener nun den Euro verwenden, statt der Banca d’Italia würde die Europäische Zentralbank fortan für die Geldpolitik verantwortlich sein.
Der Beitritt bedeutete, dass die Regierung nicht mehr beliebig Defizite erwirtschaften konnte: Es gab keine einheimische Zentralbank mehr, die bereit war, Finanzierungslücken über die Notenpresse zu stopfen und die Währung abzuwerten, wenn die Exportwirtschaft gegenüber der ausländischen Konkurrenz wieder einmal ins Hintertreffen geraten war.
Italien gab damit drei wichtige Instrumente aus der Hand, die dem Land seit den 1970er-Jahren geholfen hatten, auf den Weltmärkten zu bestehen, ohne dass im Inland mühsame Reformen hätten umgesetzt werden müssen: die Fiskal-, die Währungs- und die Geldpolitik.
Fiskalpolitisch (also mit hohen Staatsausgaben) wurde damals sichergestellt, dass die Nachfrage in der Binnenwirtschaft genügend gross war, damit die Wirtschaft wachsen konnte. Währungspolitisch bescherten sporadische Abwertungen der Lira von Zeit zu Zeit einen Exportboom. Die Geldpolitik sorgte schliesslich mit hohen Nominalzinsen dafür, dass die Haushalte genug Geld zur Bank brachten und die Anleihen kauften, die der Staat ausgab.
Mit den drei Instrumenten war es in der Ära vor dem Eurobeitritt jeweils gelungen, ein gewisses makroökonomisches Gleichgewicht herzustellen. Die Zeit war zwar von hohen Inflationsraten und steigenden Staatsschulden gekennzeichnet. Aber immerhin: Die Wirtschaft wuchs, viele Menschen hatten einen Job auf Lebenszeit, es gab grosszügige Renten. Und bei vielen Gewerbetreibenden und Gelegenheitsarbeitern, die knapp bei Kasse waren, drückte der Fiskus auch gern ein Auge zu.
Das System war nicht nachhaltig – doch es funktionierte, solange die Italienerinnen ihr Schicksal selbst in den Händen hielten. Mit dem Beginn der Euroära änderte sich das. Und Italien bekundete je länger, je mehr Mühe, das Tempo der anderen Länder in der Währungsunion zu halten.
Italien im Euro
Anders als etwa in Spanien, wo die niedrigen Eurozinsen einen Boom – und eine Immobilienblase – auslösten, blieb die italienische Wirtschaft im ersten Eurojahrzehnt flau. Von 1998 bis 2008 wuchs das Bruttoinlandprodukt im Mittel nur um 1,5 Prozent pro Jahr und damit deutlich langsamer als das BIP im gesamten Euroraum, in dem die Wachstumsraten bei 2,4 Prozent lagen.
Dann kam es zu einer Reihe von verheerenden Ereignissen. 2008 schlug die globale Finanzkrise ein, 2010 bis 2012 folgte die Schuldenkrise in Europa. 2015 und 2016, als der Aufschwung in der restlichen EU wieder einsetzte, wurde Italien obendrein von einer Bankenkrise geschüttelt. Sie führte zum Zusammenbruch von vier lokalen Geldhäusern, erzwang die Fusion von zwei mittelgrossen Banken und machte eine staatliche Rettungsaktion für Monte dei Paschi di Siena nötig, eine der grössten und die älteste Bank des Landes.
Die Serie von Krisen hat Italien stark zugesetzt und führte zu einem verlorenen Jahrzehnt. Italien ist in Europa das Wachstumsschlusslicht: Die Wirtschaftsleistung liegt noch immer unter dem Niveau der Vorkrisenzeit.
Zwar sind die Italiener fleissige Sparer: Sie legen 20 Prozent ihres jährlichen Einkommens zur Seite, was vergleichsweise viel ist. Italienische Haushalte haben deshalb relativ wenig Schulden. Umso stärker verschuldet ist jedoch der Staat. Innerhalb der letzten zehn Jahre ist seine Verschuldung von 102 auf 130 Prozent des BIP und damit auf einen der weltweit höchsten Werte gestiegen. Schulden abzubauen, fällt Italien enorm schwer, weil die Wirtschaft kaum wächst: Auch im jüngsten Aufschwung blieb im Vergleich zu den restlichen Euroländern ein Rückstand von fast einem Prozent.
Die Versuchung ist gross, die Schuld für die Stagnation bei der EU und bei den Restriktionen zu suchen, die sie Italien auferlegt. Doch das ist zu kurz gedacht. Viele der Probleme haben ihren Ursprung nicht in der Eurozeit, sondern in den Jahrzehnten vor dem Beitritt zur Währungsunion.
Probleme wie etwa die hohen Arbeitskosten und die allgemeine Ineffizienz. Oder das geringe Produktivitätswachstum – das wohl gravierendste Manko der italienischen Wirtschaft. Schon in den 1990er-Jahren zeichnete sich ab, dass Italien nicht mit den Nachbarländern mithalten konnte.
Als die EU im Jahr 1992 gegründet wurde, waren italienische Arbeitskräfte mit ihrer Produktivität im Schnitt nahezu gleichauf mit ihren Kollegen in Deutschland und Frankreich. Sie erwirtschafteten pro Stunde eine gleich grosse Wirtschaftsleistung. Bald darauf drifteten die drei Staaten jedoch auseinander. Zwischen 1992 und 2001 wuchs das BIP pro Arbeitsstunde in Italien durchschnittlich um 1,6 Prozent pro Jahr. In Deutschland und Frankreich war das Produktivitätswachstum schon damals höher, es lag über 2 Prozent. Das mag nach wenig aussehen, doch der Unterschied hinter dem Komma hat sich über die Jahre summiert.
Mit dem Euro verschlimmerten sich die Diskrepanzen. Zwischen 2002 und 2015 sank das Produktivitätswachstum zwar in allen Ländern – in Deutschland und Frankreich fiel es auf 0,9 Prozent. Doch in Italien war der Abfall besonders stark: Das Produktivitätswachstum betrug in dieser Zeit gerade noch 0,03 Prozent. Das Auseinanderdriften war problematisch, da sich die Länder nun in einer Währungsunion befanden. In einer solchen Union sollte die Produktivität überall etwa mit demselben Tempo zunehmen, damit das Gebilde nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Diese Regel gilt umso mehr, je intensiver die Länder untereinander Handel betreiben.
Italien geriet in eine Strukturkrise. Ablesen lässt sich dies an einem weiteren Produktivitätsmass: der sogenannten totalen Faktorproduktivität. Bereits zwischen 1997 und 2007 stand es darum in Italien nicht besonders gut. Die totale Faktorproduktivität ging in mehr Jahren zurück, als dass sie wuchs.
Bis dato hat sich daran nicht viel gebessert. Die italienische Wirtschaft hat es bis heute nicht geschafft, sich auf den Euro einzustellen – sie kommt nach wie vor nicht damit klar, dass die Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr wie früher über Abwertungen der Lira gesichert werden kann.
Mitschuldig an der Misere ist indirekt auch Deutschland. Nach dem Start des Euro übten die dortigen Gewerkschaften grosse Zurückhaltung: Die Löhne wuchsen nur noch minimal; die deutsche Industrie wurde international konkurrenzfähiger. Italienische Firmen verloren an Wettbewerbsfähigkeit, ihre Marktanteile gingen zurück. Als Folge davon sank die Beschäftigung. Investitionen sowie Ausgaben in Forschung und Entwicklung gingen zurück. Die Innovationskraft der italienischen Wirtschaft nahm ab – was sich wiederum negativ auf das Wachstum und die Exporte auswirkte.
Eine Negativspirale
Extrem zeigt sich die Strukturkrise auf dem Arbeitsmarkt. 11 Prozent der Bevölkerung ist arbeitslos, 4 Prozentpunkte mehr als vor der Krise. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 35 Prozent – der dritthöchste Wert in Europa.
Der Arbeitsmarkt ist zweigeteilt. Auf der einen Seite sind die erfahrenen Arbeitskräfte: Sie geniessen hohen Gewerkschaftsschutz und sind praktisch auf Lebenszeit angestellt. Auf der anderen Seite sind die Jungen: Obwohl sie oft besser ausgebildet sind, leben viele in prekären Arbeitsverhältnissen. Ihre Jobs sind typischerweise schlechter bezahlt als jene der älteren Arbeitskräfte.
In Italien ist ein Viertel aller Menschen unter dreissig weder beschäftigt noch in Ausbildung. Nur in Griechenland ist diese Zahl noch grösser.
Um diesen Verhältnissen zu entfliehen, wandern viele junge Italienerinnen aus. Manche finden auch im Ausland keine feste Stelle. Doch für die meisten sind die Karrierechancen ausserhalb des Landes grösser als zu Hause. Nach offiziellen Statistiken wanderten 2016 fast 160’000 Italiener aus (die effektiven Zahlen dürften allerdings höher sein). Das sind fast dreimal so viele wie 2007. Ein Drittel aller Auswanderer hat einen Universitätsabschluss. Dieser «Brain Drain» schwächt Italien langfristig.
Für jeden Italiener, der das Land verlässt, gibt es ungefähr dreimal so viele Zuwanderer. Über 8 Prozent der Bevölkerung stammt aus dem Ausland. Die Zuwanderung mag für die Demografie des Landes vorteilhaft sein, denn nach Deutschland ist Italien das «älteste» Land in der EU. Die Geburtenrate zählt mit 1,35 Kindern pro Frau zu den niedrigsten der Welt.
Doch die Einwanderer, die Italien anzieht, sind meist schlechter ausgebildet als die Lokalbevölkerung (die ihrerseits schlechter ausgebildet ist als die Bevölkerung in der restlichen EU: Rund 40 Prozent der Italiener besitzen kein Diplom ausser dem obligatorischen Schulabschluss). Das setzt der Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu.
Vor diesem Hintergrund ist wenig erstaunlich, dass viele Italiener die Euroskepsis der 5-Sterne-Bewegung und der Lega bereitwillig annehmen – auch wenn die EU nur bedingt für die schlechte Wirtschaftsentwicklung in den vergangenen zwei Jahrzehnten verantwortlich ist. Im populistischen Narrativ wird alles verknüpft: die Strukturkrise, der Euro, die unkontrollierte Zuwanderung. Für viele Italiener ergibt das Sinn.
Die politischen Anführer der beiden Siegerparteien der letzten Wahlen, Matteo Salvini und Luigi Di Maio, haben oft betont, Italien müsse nebst seiner eigenen Währung auch die «Kontrolle über seine Grenzen» wiedererlangen, um zurück zur Prosperität zu finden. Das erinnert an die Aussagen von britischen Politikern vor der dortigen Abstimmung über den Austritt aus der Europäischen Union im Sommer 2016.
Gerade der Vergleich mit dem Brexit ist allerdings aufschlussreich. Er zeigt, dass Italien in einer anderen Ausgangslage steckt als Grossbritannien – und dass das euroskeptische Programm, falls es denn umgesetzt wird, in Italien ungleich schlimmere Konsequenzen hätte als in Grossbritannien.
Die limitierten Optionen
Italiens Zukunft ist ungewiss. Möglicherweise kommt es zu Neuwahlen. Wohin könnte eine eurokritische Regierung das Land überhaupt führen?
Zu einem «Italexit», einem Austritt aus der Währungsunion, wird es kaum kommen. Die 5-Sterne-Bewegung und die Lega haben weder das politische Kapital noch einen durchführbaren Plan, um die Eurozone zu verlassen. Zum Vergleich: Die britische Entscheidung zum Brexit entspringt einer intellektuellen, politischen und ökonomischen Debatte, die über vier Jahrzehnte geführt wurde. Eine solche Debatte gibt es in Italien aber nicht. Der Ausstieg aus der Eurozone wäre ausserdem mit weitaus heftigeren finanziellen Turbulenzen verbunden als der britische Abschied aus der EU. Ein Staatsbankrott wäre beim italienischen Exit kaum vermeidbar.
Eine eurokritische Regierung würde sich allerdings mit Brüssel anlegen. Und um die Staatsfinanzen streiten: Ein Ziel der letzten Wahlsieger ist, die Rentenreform von 2011 rückgängig zu machen. Steuersenkungen und ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle stehen auch zur Diskussion. Sollte dieses Programm umgesetzt werden, ist ein weiterer Anstieg der Staatsschulden jedoch programmiert. Das Haushaltsdefizit würde erneut über die Grenzen steigen, die in den Maastricht-Verträgen festgelegt wurden.
Die Vorstellung, dass mit einer solchen Defizitpolitik eine wirtschaftliche Positivspirale entstehen könnte, ist Wunschdenken. Dafür müssten erst die strukturellen Schwächen Italiens korrigiert werden. Die Reformen, die in den letzten Jahren angepackt wurden, müssten weitergeführt werden, nicht zuletzt im Bereich der Steuerhinterziehung. Würde eine künftige Regierung trotzdem auf eine Defizitpolitik setzen, wären heftige Reaktionen an den Finanzmärkten absehbar. Italienische Staatsanleihen würden verkauft – die Zinsen würden steigen, so wie sie es während der Eurokrise taten und wie es sich in den letzten Tagen am Markt bereits wieder angedeutet hat. Italien geriete erneut in Gefahr, seine Schulden nicht refinanzieren zu können.
Die Aussicht darauf wird den Eifer der eurokritischen Parteien dämpfen. Sollten sie doch noch ihre Regierung bilden, würden sie bald auf dem Boden der Realität landen – ähnlich wie bereits viele italienische Politiker vor ihnen.
Und das Leben in Italien würde wohl so weitergehen wie zuvor: Nichts würde sich ändern – selbst wenn sich mit neuen Kräften alles zu ändern scheint.
Paola Subacchi leitete den Bereich International Economics bei Chatham House, einem Thinktank in London. Sie befasst sich mit Wirtschafts- und Finanzpolitik, zu ihren Spezialgebieten zählt die internationale Finanzarchitektur. Vor kurzem erschien ihr neues Buch über die chinesische Währung Renminbi: «The People’s Money: How China Is Building a Global Currency». Subacchi schreibt regelmässig für die BBC, Project Syndicate und die «Financial Times». Die Italienerin studierte Ökonomie an der Università Bocconi in Mailand und ist Gastprofessorin an der Universität von Bologna. 2016 wurde sie mit dem Cavaliere della Stella d’Italia ausgezeichnet, einer Verdienstauszeichnung der italienischen Republik.
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