Politisches Gemüse
Die Ehre gebührt diese Woche einer Politikerin, dank deren Initiative das Thema Esskultur endlich auf die richtige Ebene gehoben wird: die des Staates.
20.09.2018
Sehr geehrte Preisträgerin
Liebe Verlegerinnen und Verleger
Meine sehr geehrten Damen und Herren
Wir Menschen denken im Alltag ziemlich häufig an Sex, Ferien und den Tod. Doch neben diesen drei Klassikern drängt sich derzeit ein weiteres Thema mächtig in unsere Gedankenspiele, nämlich das der Ernährung. Schon wieder Junk? Zur Abwechslung mal Bio? Und vor allem: Fleisch – oder nicht Fleisch? Das ist die Frage, die viele Geister hadern lässt, manchmal mehrmals täglich.
Die Frage der Ernährung ist nicht neu. «Der Mensch ist, was er isst» schrieb Ludwig Feuerbach 1850 und fuhr fort: «Wer nur Pflanzenkost geniesst, ist auch nur ein vegetirendes Wesen, hat keine Thatkraft.» Der revolutionär gesinnte Philosoph warnte vor «faulem Kartoffelblut» und sagte voraus, dass die Kartoffeln essenden Iren den Kampf gegen ihre rindfleischgestärkten englischen Unterdrücker nie gewinnen könnten.
Die Ernährung ist bis heute eine grosse soziale Frage. Wers nicht glaubt, der halte Armuts- neben Übergewichtsstatistiken: Beide Übel befallen dieselben Gruppen. Weitere politische Dimensionen sind seit Feuerbachs Zeiten hinzugekommen. Unsere Nahrungsmittel werden in aller Welt produziert – oft für Hungerlöhne. Die intensive Produktion möglichst billiger Nahrungsmittel heizt den Klimawandel an. Fleisch ist in dieser Hinsicht besonders schlimm.
Wir wissen das – und finden es dennoch selbstverständlich, dass jede und jeder für sich selber entscheiden soll, wie sie oder er sich angesichts dieser Probleme verhält. Sie, Maya Graf, laden uns mit Ihrer Fair-Food-Initiative zum Umdenken ein. Im Kern sagen Sie mit der Initiative, dass nicht mehr Privatsache sein dürfe, was bei uns auf den Tisch kommt. Weil es für uns alle einen Unterschied macht, ob Tomaten aus einem Seeländer Gemüsegarten kommen oder aus einer Plantage in Südspanien, wo das Wasser heute schon zu knapp ist. Weil auch unsere Essgewohnheiten über Tod oder Leben der Menschheit entscheiden. Weil Gemüse politisch ist.
Der Staat soll mir jetzt also auch noch vorschreiben, was ich zu essen habe, wettern Gegner. Als ob er das nicht schon längst täte. Das Lebensmittelgesetz der Schweiz zählt 73 Artikel, die Verordnung 96. Der Staat verbietet zum Beispiel den Verkauf von verdorbenen Lebensmitteln. Sie, Maya Graf, sagen jetzt, er sollte auch den Verkauf von Lebensmitteln verbieten, die die Welt verderben.
Nein, halt. So weit gehen Sie gar nicht. Mit ihrer Initiative schaffen Sie ja weniger Verbote als vielmehr Anreize. Ganz, ganz langsam soll sich die Schweizer Bevölkerung daran gewöhnen, dass ihre Lebensmittel lebensfreundlicher werden. Der Staat soll diesen zähen gesellschaftlichen Prozess nun sanft unterstützen.
Trotzdem wird die Initiative wohl abgelehnt, weil ihre Gegner vor steigenden Lebensmittelpreisen warnen. Das ist heuchlerisch. Die, die jetzt bei der Ernährungsfrage ihre soziale Ader entdecken, sind oft auch die, die in der Sozialpolitik ablehnen, was armen Leuten wirklich helfen würde.
Mit Ihrer Initiative haben Sie, Frau Graf, und Ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter dennoch etwas erreicht.
Noch ist die Frage der Ernährung für viele Menschen eine reine Gewissensfrage: Darf ich fünfmal die Woche Fleisch essen? Muss ich den Espresso mit sozialem Gütesiegel trinken? Die Fair-Food-Initiative ist ein erster Schritt zu unserer Befreiung von diesem Terror. Sie sagt: Das ist nicht ein Problem für das Gewissen, sondern eines für die Gesetze. So, wie es seit 1986 keine Frage des Gewissens mehr ist, ob man sich ein Auto mit Katalysator leistet oder nicht, weil die Schweiz damals (als erstes Land in Europa) Katalysatoren für obligatorisch und die Freiheit der Bürger für den Raum zwischen Motor und Auspuff für beendet erklärte.
Gegen den Appell ans Gewissen und seine damaligen Vertreter, die Priester und Pfarrer, schrieb schon Ludwig Feuerbach an: «Wollt ihr das Volk bessern, so gebt ihm statt Deklamationen gegen die Sünde bessere Speisen.» Präziser lässt sich die Fair-Food-Initiative auch 170 Jahre später kaum auf den Punkt bringen.
Mit Ihrem Einsatz haben Sie, Frau Graf, eine Befreiungsbewegung angestossen. Dafür verleihen wir Ihnen den Preis der Republik. Weil zwar nicht nächsten Sonntag, aber eines Tages die Staaten dieser Welt besser regeln werden, was in unseren Supermärkten aufliegen soll und was nicht. Und weil wir bei der Republik uns auf diese Zeit freuen, wo wir uns nicht mehr täglich mehrmals fragen müssen, was wir essen dürfen. Und dafür wieder mehr über die wichtigen Dinge nachdenken können: über Sex, Ferien und den Tod.
Illustration: Doug Chayka