Verliebt für einen Tag
Über die Flirtplattform Tinder ist schon viel Schlechtes geschrieben worden. Hier soll sie einmal gelobt werden – von zweien, die dabei waren.
Von Ariel Hauptmeier, 10.08.2018
I. Als wüssten wir es schon
Nein, das geht nicht. Das darf man nicht. Man darf über die Smartphone-Liebe nichts Gutes schreiben. Weil sie die Romantik zerstört und die Zweisamkeit gleich mit. Weil sie zur Oberflächlichkeit erzieht. Weil dort Menschen bewertet werden, als seien sie Waren. Weil man einander nur konsumiert und alle danach umso einsamer sind.
Alle wischen nur noch auf ihren Mobiltelefonen herum. Keiner flirtet mehr. Eine «Dating-Apokalypse», schreibt «Vanity Fair».
Alles ist plötzlich so billig. «Tinder ist der McDonald’s des Sex», steht im «Urban Dictionary».
Früher hat man sich noch richtig verliebt. Heute erleben wir «das Ende aller Romantik», schreibt die FAZ. Und: «Wer sich bei Tinder anmeldet, muss entweder verzweifelt, gelangweilt, abgestumpft oder heillos naiv sein.»
Moment. Echt?
Tinder, die umsatzstärkste App überhaupt – ein Symbol des Niedergangs? Weltweit 16’000 «Matches» pro Sekunde, Männer und Frauen, die einander gefallen – alle fehlgeleitet und verblendet und schale Abbilder der echten Liebenden von früher?
Oder ist alles ganz anders? Erleben wir eine «romantische Revolution», ausgelöst vom Smartphone, diesem «Beziehungstransformationsgerät», mit dem wir von einer in die andere Liebe surfen, das sich verändert und das uns verändert und das unsere Liebe verändert?
Erleben wir eine sexuelle Revolution, befeuert vom Begehren selbstbewusster Frauen, die wissen, was sie wollen und wie sie es sich nehmen?
Und wenn das beides zusammenkommt, das Smartphone und die Lust, wenn die Sache mit dem Sex plötzlich einfacher wird, ist das dann wunderbar oder bedenklich? Steigt dann das Vergnügen oder die Verwahrlosung? Nimmt dann das Glück zu oder das Leid andere Formen an?
Oder was ist es?
Weil ich das auch nicht weiss, erzähle ich jetzt mal von mir. Von einem Sonntag im Juni. Von Maria und unserer Smartphone-Liebe. Und das kostet mich viel Mut. Darf man ja eigentlich nicht. Wenn über Tinder reden, dann anonym. Wenn, dann intellektuell die Nase rümpfend. Und dabei so tun, als wüsste man Bescheid. Als könnte man das Neue einfach aus dem Alten erklären.
II. Ein Balkongespräch
Sonntagmorgen, eben ist Maria angekommen, wir haben uns zwei Monate zuvor auf Tinder kennen gelernt und daten einander seither. Ich habe sie am Bahnhof abgeholt, sie hat Champagner und selbst gekochte Marmelade mitgebracht, wir sind zu mir gegangen, haben uns auf den Balkon gesetzt und gefrühstückt.
Irgendwann frage ich sie: «Wie findest du eigentlich Tinder?»
Maria ist Frauenärztin und kann tolle Geschichten erzählen. Einige Tage zuvor war ein frisch vermähltes Paar bei ihr, Mitte vierzig, streng religiös, kein Sex vor der Ehe, nun durften und wollten sie – aber es klappte nicht. Sie hatte Schmerzen, er war verzweifelt. «Machen Sie sich keine Sorgen, das kriegen wir hin», hat Maria ihnen gesagt, sie ist ein fröhlicher Mensch.
«Nur noch einmal schlafen», hat mir Maria am Tag vorher geschrieben. Einer von diesen kleinen Smartphone-Liebesbriefen, die sich neuerdings alle hin- und herschicken. Sie ist Anfang vierzig, hat Kinder und ist seit einer Weile getrennt, eine blühende Frau, unbeschwert und ehrlich, die gern Wasserski fährt. Ich bin 48 Jahre alt, habe zwei Söhne und verstehe mich so gut mit meiner Ex-Frau, dass wir bis heute abwechselnd in unserem Haus wohnen.
Maria und ich sehen uns an diesem Morgen das vierte Mal, eigentlich kennen wir uns gar nicht. Aber das macht nichts, auch dieser Tag wird schön werden, unbeschwert und lustvoll. Überhaupt gleicht die Liebe auf Tinder einem endlosen Urlaubsflirt: Es ist intensiv, es ist bald vorbei, aber das ist okay, geniessen wir es. Uns bleiben ja die Erinnerungen. Und die Fotos, die wir hin- und hergeschickt haben.
«Wie ich Tinder finde?», sagt sie. «Du wirst lachen, aber für mich ist es eine Art praktischer Therapie.»
«Echt?»
Unser Kennenlernen war denkbar mühelos. Es muss kurz vor Pfingsten gewesen sein. Sie hatte Langeweile. Ich hatte Langeweile. Jeder lud einige Fotos von sich und einige Sätze über sich hoch, da sahen wir einander. Mochten einander. Ein Match. Ein Chat. Auch bei uns waren das nur einige Zeilen, erstaunlich, wie gut man daraus einen Menschen lesen kann. Ob er ängstlich und besitzergreifend ist oder humorvoll und selbstbewusst.
Ein Date. Pfingstmontag, Stazione Paradiso, eine Bar am Fluss, nachmittags.
Herzklopfen. Komischer Moment. Sich so gegenüberzutreten. Weil du sehr viel weisst und nichts weisst. Du weisst: Die da sucht jemanden, und das bin vielleicht ich. Das ist eine Menge Information. Und zugleich: Alles auf null. Fotos, Chats, alles egal, wie weggewischt, nochmal von vorn.
Begehren folgt archaischen Mustern. Die Form des Gesichts, die Modulation der Stimme, der Geruch – passt das? Derweil prüft der Verstand die soziale Kompatibilität: Kann ich mich mit der sehen lassen, sind wir annähernd gleich attraktiv? Zugleich nimmt das Unbewusste Fühlung auf, prüft die kaum wahrnehmbaren Schwingungen des Gegenübers, beginnen die Spiegelneuronen, sich aufeinander auszurichten.
Wir hatten Glück. Es passte. Es wurde ein wunderbarer, verliebter Tag. Sie fuhr erst am nächsten Morgen zurück nach – irgendwo. Und natürlich heisst sie auch nicht Maria.
Wir sahen uns wieder – und waren ehrlich. Dass wir einander mögen, dass es andere gibt. Sie erzählte mir, dass sie beim Tanzen einen Typen abgeschleppt hatte, der einen roten Porsche fuhr. Ich erzählte ihr, wer mich ein Wochenende lang besucht hatte.
«Ja, im Ernst, Tinder ist für mich eine Art praktischer Therapie», wiederholt Maria. «Du begibst dich in alle möglichen Situationen und lernst dabei viel über dich. Wer du bist, was du willst. Du musst lernen, mit Zurückweisung umzugehen. Wenn du jemanden begehrst, und er will nicht. Dann wieder erlebst du aufregende Dinge. Für mich sind das wichtige Erfahrungen. Nach fünfzehn Jahren Ehe lerne ich mich ganz neu kennen. Und wie ist es für dich?»
«Für mich war Tinder ein Segen. Du ahnst nicht, wie schüchtern ich früher war.»
«Du? Schüchtern?»
«Und wie. Unglaublich schüchtern. Ich habe darunter gelitten, ich hatte immer das Gefühl: Ich habe einen wichtigen Teil meiner Jugend verpasst. Jetzt ist es okay. Jetzt habe ich dieses Gefühl nicht mehr. Seit wann bist du eigentlich auf Tinder?»
«Seit drei Monaten. Eine Freundin hat mir davon erzählt. Sie ist auch frisch getrennt. Und lebt das jetzt voll aus. Sie ist dauernd unterwegs und übernachtet eigentlich jedes Wochenende bei einem anderen Mann, quer durch die Schweiz.»
«Klingt anstrengend», bemerke ich.
«Für mich wäre das nichts», sagt sie. «Klar, am Anfang, das macht fast schon süchtig, diese Anerkennung, dieses Angeflirtetwerden. Da braucht es schon einen klaren Kopf. Ich glaube, Tinder ist ideal für Leute, die ansonsten fest im Leben stehen, einen Job haben, Freunde haben, vielleicht Kinder. Wer sich dort seine Anerkennung holt, kommt unter die Räder.»
«Mir hat mal eine Freundin gesagt: ‹Man braucht dort eine Elefantenhaut.› Und das stimmt. Weil alles so schnell beginnt, kann alles genauso schnell wieder enden», sage ich.
«Es macht Spass, sich wie eine Zwanzigjährige zu fühlen, aber du musst damit rechnen, dass du am nächsten Tag wieder allein bist. Und dann meldet sich vielleicht deine romantische Ader. Dieses XX-Chromosom-Prinzessinnen-Gen. Dass er wiederkommt und mehr von dir will.»
«Kenne ich gut», sage ich. «Ich habe mich einmal ziemlich verknallt. Sie war die Frau, die ich wollte. Aber sie suchte einen Lover, keinen Freund. Das schmerzte. Nach einem Monat habe ich Schluss gemacht, wenn man das so sagen kann.»
«Ich glaube nicht, dass man dort die grosse Liebe findet», sagt Maria. «Allein schon deshalb, weil alle mit mehreren chatten. Du hängst der romantischen Illusion nach, du seist die Einzige. Stimmt natürlich nicht. Du machst es selbst – und willst es nicht wahrhaben. Schon komisch.»
Sie denkt kurz nach. «Andererseits ist es auch gut. Das schützt dich. Was habe ich Männer früher idealisiert. Damals habe ich jede Beziehung angefangen mit der Idee: Das ist er. Das hält jetzt ewig.»
«Und jetzt? Suchst du eigentlich nach einer neuen Beziehung?»
«No way», sagt Maria. «Mir graut vor dem Gedanken. Mein Leben ist jetzt viel entspannter. Ich muss nicht ständig achtgeben auf die Kindereien meines Partners. Und Sex hatten wir auch fast nie. Jetzt kann ich mit einem Mann schlafen, wann ich will, und das ist dann sehr lustvoll. Das Einzige, was ich vermisse, ist die Bewunderung eines Partners. Der mich gut findet und immer da ist. Später vielleicht. Nicht jetzt.»
«Dein Fazit?», frage ich.
«Tinder ist faszinierend, aber man muss gut auf sich aufpassen», sagt sie. «Und deines?»
«Jeder findet dort das, was er sucht», sage ich.
Ich stehe auf. «Lass uns schwimmen gehen. Dann erzähle ich dir von meiner Schüchternheit.»
III. Schalt deinen Radar ein
Und ehe dieser Text klingt wie ein Werbespot: Es geht um das Prinzip, nicht um die Firma. Tinder gehört zum Konzern IAC/InterActiveCorp, einem Internetriesen aus den USA, der vergangenes Jahr rund 3 Milliarden Dollar umsetzte mit Marken wie OkCupid, Vimeo, Match oder The Daily Beast. Auch Tinder ist eine Datenkrake, speichert alles und gibt nichts preis und hat mit Sean Rad einen Gründer, der immer wieder durch merkwürdige Interviews auffällt.
Am 12. September 2012 ging Tinder («Zunder») in Kalifornien an den Start – die Idee geklaut von Grindr, einer Dating-App für Homosexuelle, seit 2009 auf dem Markt. Die ihrerseits möglich geworden war durch das erste iPhone mit GPS. Heute ist es alltäglich, dass Telefone und damit Menschen voneinander wissen, wo sie sind. Damals schien es, als erfüllte sich ein alter Traum: in Köpfe schauen zu können, diskret zu signalisieren, dass du auch willst, einen geheimen Radar in der Tasche zu haben, der immer sendet, immer empfängt und verführerisch brummt, wenn jemand in der Nähe ist, der Lust hat auf ein Gespräch, einen Flirt, einen Kuss.
Früher mussten sich Onlinedater durch lange Formulare klicken und Fragen beantworten: ob man Horrorfilme mag, seine Socken herumliegen lässt oder ob es einen stört, wenn der andere Rechtschreibfehler macht. Dahinter steckt die These: Gleich und gleich gesellt sich gern. Forscher lächeln schon lange über diesen Glauben an Algorithmen, deren Effekt nicht nachweisbar ist. Am Ende können ein Mann und eine Frau noch so viel Heavy Metal hören und beide gern die Wohnung aufräumen – Anziehung ist komplexer.
Tinder machte das Kennenlernen einfacher, «gamifizierte» es. Man kann gleich loslegen und erhält sofort Resultate, wischt sich durch Fotos, bis man an irgendwem hängenbleibt – angeblich eine Simulation jenes Augenblicks, wenn man auf einer Strasse oder einer Party jemanden sieht, den man kennen lernen möchte.
Die Klage geht, das sei sehr oberflächlich, doch das stimmt nicht: Fotos sagen tatsächlich mehr als tausend Worte, und wir sind Meister darin, sie zu decodieren. Aus der Haltung, dem Gesichtsausdruck, der Kleidung zu entziffern, wie selbstbewusst, zufrieden, entspannt, dominant, ängstlich jemand ist.
Einerseits funktioniert es. Andererseits führte die Tinderisierung des Datings dazu, dass das Aussehen eine grotesk übersteigerte Bedeutung erhält. Als sei Attraktivität alles. Als sei die Welt Los Angeles und Flirten eine Castingshow.
Rund 250’000 Schweizerinnen und Schweizer sind auf Tinder, angeblich, die Firma veröffentlicht keine Zahlen. Und was suchen die Menschen dort? Wie immer nicht das Gleiche. Die grösste Fraktion der Frauen, das fand eine norwegische Studie heraus, will gar kein Date, sondern sich das Ego streicheln lassen. Und die Männer wollen vor allem Sex.
Ich habe einmal ein Experiment gemacht, mein Profil gelöscht und mich neu angemeldet, mit dem Foto einer schönen Frau. Und schrieb extra darunter: «Achtung, Fake-Profil, ich bin ein Mann.» Niemand las es. Alle wischten nur und wischten, like, like, like. Binnen zweier Stunden wollten 330 Männer diese Frau kennen lernen, hier und jetzt, Raum Zürich.
Und der Einzige, den ich matchte, schrieb glatt zurück: «Hey, wie gehts?» Den deprimierendsten aller ersten Sätze.
Die Tinder-Welt ist ungleich. Wer jung und attraktiv ist, bekommt alles. Wer nicht, nichts. Ein anonymer Ökonom hat berechnet: Die attraktivsten 78 Prozent der Frauen rangeln um die 20 Prozent der attraktivsten Männer. Und die 80 Prozent der Männer, um die nicht gerangelt wird, rangeln um die 22 Prozent der verbliebenen Frauen. Anders gesagt: Ein durchschnittlich attraktiver Mann erhält von weniger als 1 Prozent der Tinderellas ein Like. Nähme man weibliche Likes als Währung, und wäre Tinder ein Land, es wäre eines der ungerechtesten der Erde, fast so ungleich wie Südafrika.
Und was bedeutet das nun alles?
«Ich halte das, was jetzt passiert, dass wir so viel mit dem Smartphone experimentieren, für einen Schub, mit all diesen Dingen klarkommen zu wollen», sagt der Berliner Professor und Social-Media-Künstler Stephan Porombka. «Man kann sich nicht davor verschliessen, was auf diesen Plattformen passiert, und das soll man gar nicht. Wenn man sich schützen will, ist es besser, sich in dieser Welt zu orientieren.»
Und so suchen alle. Werden enttäuscht. Suchen weiter, finden einander, sind eine Weile offline, verlieren sich wieder, suchen erneut. Suchen und finden, jahrelang kann das so gehen. Warum?
Vielleicht wurde mit Tinder wahr, was die israelische Soziologin Eva Illouz zu Beginn des Jahrtausends beschrieben hat: «Die kapitalistische Kultur hat durchaus keinen Verlust an Emotionalität eingeläutet. Sie ist vielmehr mit einer beispiellosen Intensivierung des Gefühlslebens einhergegangen, in dessen Rahmen Akteure ihre emotionalen Erfahrungen bewusst um ihrer selbst willen gestalten.»
Vielleicht führt dieser Gedanke in die richtige Richtung. Sicher geht es um das nächste Abenteuer, aber nicht nur. Vielleicht ist die Smartphone-Liebe tatsächlich eine Art praktischer Therapie. Eine Arbeit am Ich. Vielleicht will man nicht nur den anderen finden. Sondern sich selbst.
IV. Ich hätte meine Hand ausstrecken können
Als ich zweiundzwanzig war, lernte ich auf einer Autobahnraststätte eine Frau kennen. Sie war wie ich per Anhalter unterwegs, wir wohnten in der gleichen Stadt und fuhren diese letzte Etappe gemeinsam. Und weil wir uns mochten, tauschten wir unsere Nummern aus.
Eines Abends klingelte es an der Tür meiner WG. Sie stand draussen. Ich freute mich, war aufgeregt und bat sie herein. Später war ich mit einem Freund verabredet, wir wollten auf ein Konzert gehen, aber so wichtig war das eigentlich auch nicht. Wir gingen in mein Zimmer, sie setzte sich aufs Bett. Ich setzte mich auf einen Stuhl. Wir plauderten.
Und plauderten. Natürlich machte ich – nichts. Ich traute mich nicht.
Worauf sie etwas machte, was ich bis heute sehr mutig finde: Sie zog ihren Pullover aus, sass da in ihrem weissen BH und lächelte mich an.
Ich stotterte etwas von: «Ja, das ist ja jetzt … voll schade, dass ich gleich an ein Konzert gehen muss. Lass uns doch verabreden … vielleicht später? Oder morgen?» Nicht lange, da zog sie ihren Pullover wieder an und ging. Ich habe sie nie wiedergesehen.
Heute kann ich darüber lachen. Und diese Geschichte öffentlich erzählen. Aber damals war mir das peinlich, und ich habe mich sehr über meine Verklemmtheit geärgert.
Nicht, dass ich solche Abenteuer nicht gewollt hätte. Im Gegenteil. Ich hatte glamouröse Freunde, kam viel herum und habe gern geflirtet. Aber im letzten Augenblick – ging oft nichts mehr. Ich könnte viele solcher Geschichten erzählen. Wie in diesem Fall:
Studium in Paris, ich sass in der Bibliothek, mir gegenüber eine interessante Frau, ich überlegte, wie ich sie kennen lernen konnte, und hatte eine lustige Idee: Damals schrieb ich, wie viele Literaturstudenten, hochtrabende Gedichte, dachte mir also rasch eines aus, schrieb es auf ein Blatt, setzte meine Telefonnummer drunter und liess den Zettel auf dem Tisch liegen.
Sie biss an.
Wenig später rief sie an und fragte, ob ich es war, der da ein Blatt mit einem Gedicht vergessen habe. Sie war Französin, sprach aber Deutsch. Wir vereinbarten ein Date, trafen uns bei Les Halles, haben Crêpes gegessen und sind spazieren gegangen. Es wäre alles möglich gewesen. Wir haben uns verabschiedet. Es ging nicht. Wir haben uns nie wiedergesehen.
Dann und wann hatte ich eine Freundin. Vor allem aber erlebte ich diese bizarren Beinahe-Geschichten. Wie diese: Ich wohnte in einer Fünfer-WG, eine meiner Mitbewohnerinnen war Krankenschwester. Uns verband eine Hassliebe, in einem fort neckten wir einander. Einmal bekam sie Besuch von einer Freundin. Als die Freundin gegangen war, sagte ich zu meiner Mitbewohnerin: «Geiler Arsch.» Ich sagte es, um sie zu ärgern. Womit ich nicht rechnete: dass sie es ihrer Freundin erzählte.
Eines Nachmittags, meine Mitbewohnerin war auf der Arbeit, klingelte es. Und da stand sie, die hübsche Freundin. Es war vollkommen klar, was jetzt hätte passieren müssen, alles an dieser Situation rief: Mach! Sie kam sogar noch herein, um eine Nachricht zu hinterlassen für meine Mitbewohnerin; ich stand hinter ihr, ich hätte ihr einen Tee anbieten können, ich hätte meine Hand ausstrecken können. Ich habe es nicht getan. Ich konnte nicht. Sie verabschiedete sich und ging, wir haben uns nie wiedergesehen.
Das alles erzähle ich Maria, während wir am Fluss liegen, uns zwischendurch im Wasser abkühlen, uns ausruhen auf einem Stein inmitten der Strömung. Sie lacht. «Schöne Geschichte.»
«Aber nur im Nachhinein. Damals hat mich das geärgert.»
«Was, denkst du, war der Grund für deine Schüchternheit?»
«Ich habe mich das oft gefragt. Ob es etwas zu tun hat mit meiner dominanten Mutter? Hinzu kam eine merkwürdige Melange aus Stolz und Minderwertigkeitskomplexen. Ich war wohl ziemlich mit mir beschäftigt.»
«Wann hat sich deine Schüchternheit gelegt?»
«Das muss so mit Mitte zwanzig gewesen sein. Ab da war es okay.»
«Und dann hast du deiner verpassten Jugend nachgetrauert.»
«Genau. Ich war umgeben von wilden Kerlen. Einer brachte es fertig, am letzten Schultag auf dem Flachdach unseres Gymnasiums mit einer Frau zu schlafen. Hat mir imponiert. Ich glaube, ich hätte damals ein Smartphone gut gebrauchen können.»
«Wie meinst du das?»
«Heute geht ja die Klage, jetzt, wo die jungen Erwachsenen sich andauernd über Tinder verabreden, sei alles so unecht geworden. Wirklich? Ich glaube kein Wort. Es ist immer echt, wenn sich Menschen begegnen. Ist doch schön, dass das heute so einfach ist. Man will sich doch ausprobieren mit Anfang zwanzig, viele sind schüchtern, das wird heute nicht anders sein als damals. Schön, dass es jetzt eine Technik gibt, die hilft, die Schüchternheit zu überspringen. Und seine grosse Liebe trifft man dann ohnehin ganz woanders.»
V. Im luftleeren Raum
Und wie ist nun das Leben auf Tinder? Nerven kann es, klar, und man braucht Geduld. Aber dann ist es bunt und voller Verliebtheiten.
Verliebtheit im Sinne von: Herzklopfen, Zuneigung, Überraschung, Intensität, anregenden Gesprächen, Sex. Und weil Liebe nie einfach ist, auch im Sinne von: Langeweile, Unhöflichkeit, plötzlicher Einsamkeit, Sehnsucht.
Manchmal dauert die Verliebtheit eine Nacht. Manchmal dauert sie ein halbes Jahr. Dann wieder ist das Alleinsein schöner.
Einmal habe ich mich richtig verliebt, im Sinne von: nur du, nur wir beide und für ganz lange. Ich wurde enttäuscht. Einmal hat sich eine Frau in mich verliebt, im Sinne von: nur wir, nur du und ich und für ganz lange. Ich habe sie enttäuscht.
Mit der ersten Frau, mit der ich ein Tinder-Date hatte, war ich fast ein halbes Jahr zusammen. Sie war Grafikerin, wir hatten viel gemeinsam. Aber nicht genug. Wohl nie hätten wir einander im Alltag kennen gelernt. Aus dem Nichts, im luftleeren Raum trafen wir aufeinander. Das ist einerseits extrem reizvoll, dieser Sprung in eine andere soziale Dimension. Und schreibt andererseits den Onlinebeziehungen ihr Verfallsdatum ein. Es fehlt eben das gemeinsame Dritte, das einen durch den Alltag trägt. Die gemeinsamen Freunde, die gemeinsame soziale Welt. Nicht lange, da werden die Redepausen länger.
Noch zwei Dinge habe ich gelernt: dass wir uns viel Mühe geben, einander zu erobern. Aber fast keine Mühe, uns höflich zu verabschieden. Plötzlich herrscht Schweigen. Kommt eine nichtssagende Textnachricht.
Und: An wenigen anderen Orten dieser Welt wird so viel gelogen wie auf Tinder. Warum? Weil Wahrheit kompliziert ist. Weil zu viel Ehrlichkeit verletzen kann. Weil Wahrheit Nähe schafft, mehr, als man vielleicht möchte. Weil wir noch nicht so weit sind. Weil wir gut darin sind, einander zu verführen, aber nicht gut darin, einander zu vertrauen. Nicht bereit sind zu sagen, wie viel von unserem Herzen wir geben wollen. Ehrlich bereit sind zu geben.
VI. Ein Abendhauch
Als die Sonne sinkt und der Abendwind Kühlung bringt, sind Maria und ich noch immer am Fluss. Händchenhaltend, versonnen, verliebt sitzen wir auf unseren Handtüchern.
«Und, hast du nun deine verpasste Jugend nachgeholt?», fragt sie.
Ich schmunzle. «Viel wichtiger finde ich, dass ich jetzt endlich ehrlich sein kann», sage ich. «Dass es mir zumindest immer häufiger gelingt, zu sagen, was ich will. Das finde ich bis heute das Schwerste: Nicht zu viel zu versprechen. Hätte nie gedacht, dass ich das mal lernen würde.»
«Und was kommt jetzt?», fragt sie.
«Jetzt beginnt etwa Neues. Das Leben ist so unterschiedlich. Und bei dir?»
«Ich finde es gut, wie es gerade ist. Ich mache wohl noch ein bisschen so weiter.»
Wir lächeln uns an und schweigen.
«Was für ein goldener Moment», sage ich irgendwann.
«Fast so schön wie früher», sagt sie.
«Besser als früher», sage ich.
Persönliche Protokolle zum Thema Liebe
Wir haben Menschen zu ihren Erfahrung zum Thema befragt. Ihre sehr persönlichen Geschichten lesen Sie hier.
Erzählen Sie uns Ihre Geschichte
Schildern Sie uns hier in den kommenden Tagen jeweils zwischen 10 und 22 Uhr Ihre Höhenflüge, Wünsche, Traumpartner. Anonym.
Für seine Serie «Aussergewöhnliche Liebschaften» hat Guillaume Perret atypische Paare fotografiert. Menschen, deren Liebe gesellschaftlich stigmatisiert ist. Etwa wegen ihres Aussehens, ihrer sexuellen Orientierung, des Altersunterschieds oder einer Behinderung. Entstanden sind einzigartige und sehr persönliche Porträts, die zeigen, dass letztendlich alle Formen von Liebe schön sind.
Guillaume Perret lebt und arbeitet im Kanton Neuenburg und ist Gründungsmitglied der Agentur Lundi 13. In seinen Arbeiten versucht er die zerbrechliche Schönheit der menschlichen Existenz zu erfassen. Die Intimität, die er dabei einfängt, sagt auch viel über unsere Gesellschaft aus.