Lustprinzip

«Erst nach elf Jahren Ehe konnte ich meinen Mann lieben»

Katharina* ist seit 40 Jahren mit dem gleichen Mann zusammen. Das Sexleben war lange Zeit das Einzige, was zwischen den beiden funktionierte. Katharina ist 61, lebt auf dem Land und kann ihren Beruf als Pädagogin gesundheitsbedingt nicht mehr ausüben. Teil V der persönlichen Protokolle.

Von Anja Conzett, 10.08.2018

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Wenn uns andere Paare heute sehen, beneiden Sie uns manchmal. Um unsere Freundschaft, unsere Verbundenheit, was für ein tolles Team wir doch seien. Dann lächle ich, schweige und denke mir – wenn ihr wüsstet.

36 Jahre sind wir verheiratet. Zwei Wochen vor der Hochzeit hatte ich eine dunkle Ahnung. Damals fehlte mir der Mut, alles abzublasen. Wäre ich heute wieder an diesem Punkt, ich würde ihn nicht heiraten. Dafür waren die ersten Jahre unserer Ehe zu übel. Das weiss er auch. Dass ich ihn nicht verlassen habe, bereue ich trotzdem nicht.

Ich war Anfang 20, wahnsinnig schüchtern und fürchterlich unsicher. Für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Er war der Beau unseres Freundeskreises. Charmant, witzig, aufmerksam. Und er wählte mich – ausgerechnet mich! Wir wurden ein Paar und ich war drei Jahre lang glücklich.

Seine Dunkelheit offenbarte sich schon wenige Monate nach der Hochzeit. Ich war bereits schwanger und sein Esprit, seine Souveränität gab es nur noch nach aussen. Mir gegenüber wurde er zu einem cholerischen Monster. Körperliche Gewalt? Das hätte er nicht gewagt, ich hätte auch zurückgeschlagen. Der Terror war emotional. Ich wurde zum Ventil für alles, das nicht so lief, wie er das wollte. Die Menschenkenntnis, die seinen Charme ausmachte, wurde zu einer scharfen Waffe – direkt auf mich gerichtet.

So oft habe ich meine Kinder weinend gestillt, vor ihnen im Sandkasten geheult, weil ich nicht anders konnte. Die ersten zehn Jahre waren die Hölle.

Er war mein erster Partner, der einzige Mann, mit dem ich je geschlafen habe, ich war seine erste Partnerin, die einzige Frau, mit der er je geschlafen hat. Unser Sexleben war zeitweise das Einzige, was noch gut war an dieser Beziehung. Richtig gut. Auch in den schlimmsten Zeiten: dreimal wöchentlich, multiple Orgasmen – als wären unsere Körper füreinander geschaffen. Und wir haben uns gegenseitig auch immer intellektuell stimuliert, teilen die gleichen Werte. Wenn wir uns nichts mehr zu sagen hatten, dann gab es immer noch die Welt, über die wir uns unterhalten konnten. Das hat geholfen. Aber es hätte nicht gereicht, mich dort zu behalten.

Wir hatten beide keine guten Grundvoraussetzungen für eine gesunde Beziehung. Meine Kindheit war schon nicht sehr schön. Was er durchgemacht hat aber – grässlich. Es gibt kein anderes Wort. Niemand, der ihn liebte, niemand, der ihm das Gefühl gegeben hätte, erwünscht zu sein. Nur Gewalt und Demütigungen. Seine Ausbrüche waren nicht gegen mich gerichtet, das erkannte ich sofort. Sie waren einfach das Symptom einer geschundenen Seele. Er begann die Therapie im zweiten Ehejahr. Es war meine Bedingung. Sonst wäre ich sofort gegangen. Das, und dass wir immer offen miteinander reden. Über alles.

Wir haben auch immer offen über die Frauen gesprochen, die ihm nachgestiegen sind. Einige. Nach aussen war er ja immer noch der aufmerksame Beau. Mir haben die Frauen leid getan. Er war ja nicht in sie verliebt, sondern in das Bild, das sie von ihm hatten. Als Bedrohung habe ich keine von ihnen empfunden. Jede wäre nach zwei Wochen mit seinem wahren Ich geflüchtet. Ich wusste das. Er wusste das. Und auch sonst hätte er mich nicht betrogen. Er hat seinen Vater nicht gekannt. Ein Leben lang hat man ihm erzählt, er werde auch so ein Taugenichts. Die Familie und auch unsere Ehe waren ihm heilig.

Heiliger als mir. Trotzdem habe auch ich offen mit ihm über den Mann gesprochen, für den ich ihn fast verlassen hätte. Nach zehn Jahren Ehe, nach zehn Jahren auf und ab, in denen ich so kämpfen musste, mit ihm, mit mir, dass es keinen Platz mehr hatte für Liebe.

Den anderen Mann habe ich den Familienferien kennengelernt. Auch er war in einer Beziehung. Auch er war nicht glücklich. Es war nichts Körperliches zwischen uns. Eine rein geistige Verbindung. Eine Briefaffäre, wenn man so will. Mein Mann hat den Fehler damals bei sich gesucht. Er hat mir keine Vorwürfe gemacht.

Ich bin geblieben, all die Jahre, weil ich fürchtete, was es mit ihm machen würde, wenn ich gehe. Er wollte sich ändern. Von ganzem Herzen. Für mich, für die Kinder. Er hat hart an sich gearbeitet. Wäre ich gegangen, hätte er seine Familie verloren, es hätte ihm den Boden unter den Füssen weggezogen. Ich wusste: Wenn ich nicht an ihn glaube, tut es nie wieder jemand. Dann ist er verloren. Das konnte ich meinen Kindern nicht antun. Und auch nicht dem Mann, den ich heute liebe.

Das erste Mal, als ich seine Liebe spürte, war ein Jahr, nachdem ich ihn fast verlassen hätte – als ich schwer krank wurde. Diagnose: nicht tödlich, nur unheilbar. Vom einem Tag auf den nächsten war ich hilflos, ausgeliefert. Verzweifelt. Und er war plötzlich da. Er hatte sich gerade selbstständig gemacht, 120 Prozent gearbeitet, nebenbei den Haushalt geschmissen, die Kinder zur Schule geschickt, Abendessen gekocht. Er war an meiner Seite, er war mein Partner. So lernte auch ich ihn lieben.

Ich liebe meinen Mann. Es war ein weiter Weg, bis ich das so sagen konnte; aber ja, ich liebe meinen Mann! Er ist ein guter, aufrichtiger Mensch, mein bester Freund – und irgendwie haben wir es geschafft, unsere Kinder zu liebesfähigen Menschen heranzuziehen, die uns nicht für unsere Fehler hassen.

Natürlich geraten wir auch heute immer wieder mal aneinander. Wir sind beides sehr eigensinnige Menschen – auch ich bin alles andere als perfekt. Und doch sind wir die meiste Zeit glücklich. Nur das Sexleben, das hat in den letzten fünf Jahren etwas an Energie verloren. Aber daran arbeiten wir.


«Er hat mich belogen, betrogen und zur Hausfrau erzogen»

Von Isabelle Schwab (Protokoll), 09.08.2018

Selina* ist heute 27 Jahre alt und hat lange an ihr ganz persönliches Märchen geglaubt: Hochzeit, Kinder, glückliche Ehe. Doch dann kam die Rücksichtslosigkeit ihres Mannes dazwischen, und aus dem Märchen wurde eine Realitysoap. Eine Betreuerin aus dem Aargau erzählt. Teil IV der persönlichen Protokolle.

Nein, ich war nicht schockiert, als ich die Nacktbilder seiner 17-jährigen Lehrtochter auf seinem iPad gefunden habe. Er ist Mechaniker und ihr Vorgesetzter. Dass sie einander Liebeserklärungen schrieben, habe ich einfach ausgeblendet. Das klingt wohl naiv, aber mein Mann hatte mir schon früh unter Tränen gestanden, dass das sein Fetisch sei: Nacktbilder sammeln.

Ich hätte misstrauisch werden sollen, denn auch das hat er mir nur erzählt, weil ich zufällig seinen Handy-Bildschirm im Blick hatte, als eines der Bilder ankam. Heute sage ich: Ich war blind vor Liebe.

Ich habe mir ein Märchen gewünscht. Eine Märchenhochzeit und eine Märchenehe. Und als es nicht mehr lief, habe ich den Fehler bei mir gesucht.

Ich war 21 Jahre alt, als wir uns in einer Metal-Bar in Zürich kennengelernt haben. Er ist Schlagzeuger und spielt in einer Band. Das hat mir imponiert. Und als er dann ganz versessen darauf war, mich kennenzulernen, hat mich das noch mehr beeindruckt. Obwohl ich gar nicht so interessiert an ihm war. Nicht er gefiel mir, sondern das, was er darstellte. Heute weiss ich: Die Musik war unsere einzige Gemeinsamkeit.

Dates hatten wir nie. Ab unserem ersten Treffen sind wir uns immer wieder zufällig über den Weg gelaufen. An der Badenfahrt vor ein paar Jahren haben wir uns dann jeden Tag gesehen. Kurz darauf habe ich ihn zum Essen eingeladen – und wir haben uns zum ersten Mal geküsst. Schlafen musste er da noch auf dem Sofa.

Schon bald verbrachten wir jeden Tag miteinander. Nach wenigen Wochen schien uns eine gemeinsame Wohnung nur vernünftig.

Einmal, ganz am Anfang unserer Beziehung, wünschte er sich Cordon bleu. Ich wollte ihm eine Freude machen und stand einen halben Tag lang in der Küche und habe vorbereitet: gemischten Salat, Gemüsesuppe, Cordon bleu und Spätzli.

Als wir fertig gegessen hatten, nahm er mich nicht in den Arm, sondern fragte: «Willst du nicht die Küche machen?» Und ich habe sie auch noch aufgeräumt.

Er hat mir nie einen Antrag gemacht. Es gab nur eine Diskussion, die sich über Wochen hinzog. Er fand: «Eigentlich sollten wir doch heiraten.» Ich fand: «Eher nicht.» Und wollte unsere Zeit zu zweit geniessen, die Welt bereisen. Doch er liess nicht locker, bis ich einwilligte: «Na gut, dann heiraten wir halt.» Ich dachte mir: «Je früher wir heiraten, desto mehr Zeit haben wir, um glücklich zu sein bis ans Ende unserer Tage.»

Die Ringe haben wir gemeinsam ausgesucht und an seinem Geburtstag, nach sieben Monaten Beziehung, unsere Verlobung bekannt gegeben. Ein gutes Jahr später haben wir geheiratet.

Es war eine Märchenhochzeit, im wahrsten Sinne. Ich trug ein Feenkleid und lila Make-up, er einen Zylinder und einen Totenkopf-Gehstock. Ich das zarte Wesen, er der harte Mann.

Wenn ich mich heute an den Tag erinnere, kommt er mir surreal vor. Ich kann nicht mehr sagen, wie ich mich damals gefühlt habe, dafür ist mittlerweile zu viel vorgefallen. Ich denke, meine Vorliebe für Märchen ist mir zum Verhängnis geworden.

Nicht lange nach der Hochzeit wurde die Kritik schärfer. Dass ich keine gute Hausfrau sei. Dass die Küche dreckig sei. Und ich habe tatsächlich angefangen, sie mehrmals die Woche zu putzen. Ich wurde richtiggehend obsessiv und habe den Herd oder die Spüle mehrere Male hintereinander abgeschrubbt. Oder habe Freunden abgesagt, um mich um den Haushalt zu kümmern. Und er? Kam immer später von der Arbeit nach Hause.

Der Sex zwischen uns war nie besonders gut. Ich habe mir eingeredet, dass das noch wird. Dass es an mir liegt. Dass ich mich zu wenig fallen lassen kann. Heute weiss ich: Er war auch im Bett ein Egoist. Hat geschaut, dass es für ihn stimmt. Was ich mir wünschte, war ihm ziemlich egal.

Nach und nach habe ich mich mit ihm im Bett immer unwohler gefühlt, auch ohne Sex, und nach drei Jahren habe ich ihn gebeten, ins Gästezimmer zu ziehen.

Er ist Mechaniker. Eines Abends rief mich eine Freundin an und erzählte mir, wie vertraut er mit der Lehrtochter umgehe. Da laufe doch was. Ich wurde misstrauisch, durchsuchte das iPad, entdeckte die Nacktbilder, stellte ihn zur Rede. Erst hat er alles abgestritten. Und vorgeschlagen, zur Ehetherapie zu gehen.

Vor den Ohren der Therapeutin warf er mir vor, ich putze zu wenig, kümmere mich nicht genug um den Hund und nörgle nur an ihm rum. Ich brach in Tränen aus. Es kam noch besser, er fand: «Ich würde gern wieder wissen, wie es sich anfühlt, nicht verheiratet zu sein.» Das war der Anfang vom Ende.

Erst zog er für zwei Wochen aus, dann sahen ihn Freunde von mir Händchen haltend und küssend mit der Lehrtochter. Ich war rasend vor Wut und drohte ihm per Whatsapp: «Entweder, du bist jetzt ehrlich und wir reden, oder du kannst deine Sachen morgen von der Strasse abkratzen.» Wir wohnen im vierten Stock eines Mehrfamilienhauses. Am nächsten Morgen stand er vor mir. Und gab alles zu. Noch nie habe ich ihn so weinen gesehen. Aber für mich war klar: Jetzt ist es vorbei.

Fünf Monate ist das nun her. Ich bin noch immer sehr verletzt, aber irgendwie auch erleichtert. Die Trennung hatte auch etwas Gutes: Sie hat mich dazu gebracht, meine Vorstellungen zu hinterfragen. Ich habe als Mädchen immer von einer Märchenhochzeit geträumt. Jetzt bin ich vorsichtiger geworden.

Nie wieder werde ich mich so naiv in eine Beziehung hineinstürzen. Und noch etwas werde ich ganz sicher nie wieder machen: die Hausfrau spielen. Ausser, wenn ich das wirklich will.


«Ich küsse nicht, lieber ziehe ich ihm sofort die Hose runter»

Von Anna Miller (Protokoll), 08.08.2018

Carmen* hat viele Männer. Sie nimmt sich, wen sie will. Und macht vorher klar ab, was im Bett geht und was nicht. Sie ist 30 Jahre alt, arbeitet in der Medienbranche und wohnt in einem Dorf im Osten der Schweiz. Teil III der persönlichen Protokolle.

Ich habe wilden Sex, lauten, ich wechsle oft die Stellung. Die Variation bringt bessere Ergebnisse. Ausser, es ist ein Quickie, dann reicht auch eine.

Ich küsse nicht, lieber ziehe ich ihm sofort die Hose runter und werfe ihn aufs Bett. Mir widerstrebt Romantik im klischierten Sinn: Kerzen, Musik, sanfter Einstieg, Massagen, zärtliches Knutschen. Romantik ist für mich, wenn ich seinen Penis in den Mund nehme. Damit tue ich ihm etwas Gutes, und darum gehts mir: dass sich beide nehmen, was sie wollen. Auf Augenhöhe. Aber ohne Rücksicht auf Verluste.

Das war nicht immer so. Mein erstes Mal war der Horror, es hat wehgetan, der Sex war anstrengend, verkorkst. Wir hatten im Vorfeld neun Monate darauf gewartet, aber gelohnt hat es sich nicht. Der nächste Partner hat einfach geschaut, dass er auf seine Kosten kommt – ich blieb dabei auf der Strecke. Auch, weil ich meinen Körper und meine Bedürfnisse nicht kannte, kaum Erfahrung hatte und mich nicht traute, für mich einzustehen.

Dann kam die Wende, mit einem Skilehrer aus dem Dorf, im Februar vor sechs Jahren, an der Fasnacht. Wir gingen zu ihm nach Hause und haben es zwei Stunden getrieben, ohne Küssen, ohne Schmusen. Ich wusste, er wäre nie Beziehungsmaterial, es war mein erster One-Night-Stand. Er fragte mich danach, ob ich zum Frühstück bleiben will. Ich sagte Nein.

Ich habe mir auf dem Heimweg überlegt, ob ich mich schlecht fühlen soll, weil ich eine junge Frau bin, die gerade einfach Sex hatte und danach nicht mal zum Frühstück blieb. Ob ich Gewissensbisse haben muss, weil ich berechnend war. Weil ich keine Beziehung mit ihm will. Ich fragte mich: Muss ich mich jetzt schämen?

Ich kam zum Schluss, dass ich genau das gleiche Recht auf eine freie Sexualität habe wie jeder Mann und die Männer sich nicht dafür schämen. Also habe ich beschlossen, mich auch nicht zu schämen. Stattdessen habe ich mir gesagt: Du bist selbstbewusst und stark und frei. Seither vögle ich, wann und mit wem ich will.

Und ich schäme mich auch nicht mehr, darüber zu reden. Wenn ich an einer Party auf einen Mann treffe, mache ich rasch zweideutige Kommentare, oder wir witzeln ein bisschen herum. Das ist unverfänglich, lässt mich aber trotzdem rasch erkennen, ob wir auf der gleichen Ebene kommunizieren. Ich taste damit auch ab, ob er die Sache gleich sieht wie ich oder ob er jemand ist, der Sex als etwas Ernsthaftes sieht, das in eine feste Beziehung gehört.

Ehrlicherweise habe ich noch nie ein Nein kassiert. Nicht, weil ich der Meinung bin, Männer könnten mir nicht widerstehen. Sondern, weil sie es schätzen, dass ich explizit bin. Sie schätzen es, dass ich die Dinge beim Namen nenne. Sie sagen dann: «So offen darüber sprechen, das kann ich nur mit dir.»

Ich kläre oft auch per Whatsapp-Nachrichten, welche Vorlieben der andere hat, bevor wir uns zum Sex treffen. Und gebe meine Vorstellungen durch. Beim Oralsex saugen, nicht lecken. Ja, von hinten, aber nicht anal. Ich mag nicht erst im Bett darüber diskutieren. Das gäbe nur unnötige Probleme.

Wenn ich im Vorfeld klar definiere, was wir tun, und wir darüber sprechen, kann ich im Bett besser loslassen. Ich gebe mich ganz hin. Dann kann ich vor ihm knien und ihm einen blasen oder mich dominieren lassen und fühle mich dabei überhaupt nicht erniedrigt, weil ich mich aktiv dazu entschieden habe. Ich kann im Bett von Sinnen sein, weil ich davor rational entschieden habe, wo ich stehe. Und weil ich meinen Körper so gut kenne wie niemand sonst.

In meinen Augen hat das mit weiblichem Selbstverständnis zu tun. Ich bin eine sexuelle Person. Wir sind das alle. Ich wehre mich dagegen, dass das Thema Sex vom Mann besetzt ist. Bei vielen Frauen ist Sex so schambehaftet. Viele reden nicht einmal mit der besten Freundin explizit. Und wundern sich dann, dass sie schlechten Sex haben.

Ich kann das Wort Schwanz in den Mund nehmen, ohne danach in verlegenes Kichern zu verfallen. Wer sollte denn auch peinlich berührt sein davon? Ich, die das sagen kann, oder derjenige, der das als unsittlich abtut? Wer hat das Schweigen über Sex überhaupt als Sittlichkeit definiert? Wenn wir Frauen klar sagen können, was wir möchten, dann werden auch die Männer klar sagen, was sie möchten. Dann sind wir gleichberechtigt.

Wenn ich im Bett laut stöhne und der andere mittendrin sagen würde: «Hör mal, das geht nicht, die Nachbarn», dann wäre ich total blockiert. Wenn ich aber im Vorfeld sage: «Hör mal, ich schreie laut beim Sex», und er antwortet: «Na klar, finde ich gut, wir lassen die Fenster offen», dann fühle ich mich frei, so zu sein, wie ich bin.


«Wir waren 30 Jahre getrennt. Jetzt leben wir wieder zusammen»

Von Kerstin Leppich (Protokoll), 07.08.2018

Vor 30 Jahren hat Urs* seine Frau verlassen, jetzt ist er wieder bei ihr eingezogen. Ist er glücklich? Nein. Er bleibt trotzdem. Urs ist 71 und leitete bis zu seiner Pensionierung eine Aussenhandelsfirma. Teil II der persönlichen Protokolle.

Ich habe gekleckert. Schon wieder. Ich spüre ihren missbilligenden Blick.

Immer klebt alles, wenn ich koche. Immer mache ich alles falsch. Wenn ich Tomaten schneide, nach Gewürzen greife, im Topf rühre. Dann merke ich, wie meine Frau mich beobachtet, auf ein Missgeschick lauert, damit sie es mir unter die Nase reiben kann. Der Kochlöffel gehört auf einen Teller und nicht auf die Arbeitsplatte, hält sie mir vor. Wieso ich das immer noch nicht begriffen habe?

Weil das eben meine Art ist zu kochen. Ständig streiten wir über solche Dinge. Es geht mir an die Substanz. Aber wir können beide nicht anders.

Vor einem Jahr bin ich wieder zu meiner Frau gezogen, von der ich mich vor dreissig Jahren getrennt habe. Ihre Diabetes verschlechterte sich und brachte sie ins Krankenhaus. Ich machte mir Sorgen. Mein Gewissen setzte mir zu: Ich kann doch nicht mein Leben geniessen, und sie ist allein mit ihren Problemen. Also hab ich sie angerufen: «Wenn du einverstanden bist, dann komm ich zurück. Überleg es dir in Ruhe.» Sie stimmte zu.

Wir sind jetzt eine Senioren-WG. So nennen wir das.

Wenn unsere erwachsenen Töchter uns sonntags besuchen, schütteln sie den Kopf. Sie halten das, was wir da machen, für ein seltsames Experiment.

Ich bin froh, wieder in der Nähe meiner Töchter zu wohnen. Aber mit meiner Frau bin ich nicht glücklich.

Wir leben jetzt wie ein altes Ehepaar miteinander: Wir kochen füreinander, essen zusammen, sie hält das Haus in Ordnung, ich mache die Reparaturen. Am Nachmittag besuchen wir manchmal Freunde. Abends schauen wir fern. Und dann wünschen wir einander Gute Nacht, und meine Frau geht in ihr Zimmer und ich in meines.

Wir schlafen nicht miteinander. Dabei treibt mich die Lust immer noch um. Aber nur noch in feuchten Träumen.

Sex zwischen uns? Ausserhalb jeder Vorstellung. Sie will das nicht. Und ich ebenso wenig. Da ist kein Reiz, weder intellektuell noch körperlich. Da ist keine Intimität. Diesen Kitt vieler langjähriger Beziehungen, zwischen uns gab es ihn nie.

Dann wieder finde ich es schade, dass da keine Berührungen in meinem Leben sind. Keine Umarmungen, kein liebevolles Über-den-Arm-Streichen. Diese alltäglichen Zärtlichkeiten, die viel wichtiger sind als das Rumgevögele. Ich habe das erst spät begriffen. Jetzt ist der Zug wohl abgefahren.

Ich war immer ein sexueller Mensch. In den ersten Jahren unserer Ehe haben wir jeden Abend miteinander geschlafen. Weil ich das wollte. Wie meine Frau das fand? Ich weiss es nicht. Wir sprachen ja nicht darüber. Nicht ein Mal haben wir das Thema Sex angeschnitten, in den ganzen sechzehn Jahren, in denen wir nach unserer Heirat zusammenlebten.

Ich hatte in dieser Zeit oft Affären. Das war in meinem Umfeld gang und gäbe und erschien mir normal. Ich fühlte mich getrieben und auf der Suche nach etwas, das ich nicht benennen konnte. Meine Ehe sah ich durch diese Abenteuer nicht in Gefahr.

Bis ich eines Tages der Frau meines Lebens begegnete. Wir fühlten uns vom ersten Augenblick an zueinander hingezogen. Sie war optisch genau mein Typ, erfolgreich, empathisch. Bei ihr fand ich alles, was mir in meiner Ehe fehlte: Gespräche auf Augenhöhe, Nähe, Leidenschaft, Sex. Und: Wir konnten über Sex reden und über unsere Wünsche. Und sind zusammengekuschelt eingeschlafen. Diese Frau war meine grosse Liebe. Sieben Jahre waren wir zusammen. Bis sie mich heiraten wollte, und ich Nein sagte. Da trennten wir uns.

Meiner Familie gegenüber fühlte ich immer ein schlechtes Gewissen. Ich war ja immer noch mit meiner Frau verheiratet. Als ich ihr sagte, ich wolle ausziehen, hat sie unsere Trennung schnell akzeptiert. Tassen hat sie nie nach mir geworfen. Und auch nie versucht mich aufzuhalten. Aber eine Scheidung kam für mich nie infrage. Ich stamme vom Land, bin konservativ erzogen worden. Für mich war es eine unvorstellbare Hürde.

Sie blieb mit den Mädchen zu Hause. Wir haben immer guten Kontakt gehalten. Allein schon wegen der Kinder. Sie wollte ihnen einen neuen Vater nicht zumuten. Sie ging nie eine neue Beziehung ein.

Erst mit mir hat sie wieder einen Mann in ihr Haus gelassen. Am Küchentisch haben wir die Eckpunkte unseres Zusammenlebens ausgehandelt. Wenige Wochen später stand ich mit dem Umzugswagen vor der Tür. Seither leben wir also zusammen. Und sind uns gegenseitig eine Qual.

Wir lachen nicht über die gleichen Witze. Wir regen uns nicht über die gleichen Dinge auf. Uns rühren nicht die gleichen Nachrichten zu Tränen.

Ich kann meiner Frau nichts vorwerfen: Sie war immer eine perfekte Hausfrau, eine gute Mutter. Aber ich fühle mich neben ihr einsam.

«Ihr passt einfach nicht zusammen», sagen unsere Töchter. Es stimmt.

Und ich bereue trotzdem nicht, zurückgekommen zu sein. Die Magenschmerzen und die Schuldgefühle, die mich die letzten Jahrzehnte ständig verfolgt haben, weil ich meine Familie verlassen habe, sind weg.

Ich finde den Preis, den ich dafür zahle, angemessen.


«Ich habe meine Frau betrogen. Einmal und nie wieder»

Von Ariel Hauptmeier (Protokoll), 06.08.2018

Sex ohne Liebe? Ohne das Gefühl tiefer, inniger Verbundenheit mit seiner Frau? Bedeutet Michael* gar nichts. Er weiss es, seit er einmal schwach geworden ist. Michael ist 45 Jahre alt, schreibt Werbetexte und lebt in einer Grossstadt. Teil I der persönlichen Protokolle.

Ich sehe mich noch dort stehen, am Fenster des Hotelzimmers, wie ich auf die Stadt hinunterschaue, während Josefine im Bett liegt, ihre Haare fliessen über das Kissen, und denke: Echt jetzt? Ich? Ist das real?

Gerade haben wir zusammen geschlafen. Es war nicht sehr lustvoll. «You think too much», hat Josefine gesagt.

Wir kennen uns seit drei Wochen. Irgendwer hat sie eines Abends mitgebracht in eine dieser ausgelassenen Runden. Wir merkten gleich, da ist was. Nach und nach verabschiedeten sich die anderen, der Tisch leerte sich, bald waren nur wir beide übrig, tranken einen Absacker, dann noch einen, immer ausgelassener flirteten wir, ich habe sie nach Hause gebracht und vor ihrer Tür noch kurz gedacht: Soll ich? Aber da knutschten wir schon.

Am nächsten Tag habe ich ihr geschrieben, mit so einer merkwürdigen doppelten Verneinung: «Dich nicht wiederzusehen, ist keine Option.»

Mir ging es blendend zu jener Zeit. Gerade hatte ich eine Psychotherapie hinter mir. Ich schreibe Werbetexte, ich liebe meine Arbeit, dazu die Familie, unsere beiden Söhne hatten gerade laufen gelernt, irgendwann hatte ich mich komplett übernommen, war ausgebrannt und versackte jeden Tag mehr in einer depressiven Stimmung. Mir fiel kaum noch ein Satz ein. Die Therapie hat mir dann sehr geholfen. Nun war ich wieder obenauf, neugierig und stark – und verknallte mich in eine Frau. Der Klassiker.

Gleich am nächsten Abend haben wir uns wiedergesehen. Josefine war gross und schlank und kam aus Kalifornien, lebte mal hier, mal dort auf der Welt, das hat mich angezogen, dieser Geschmack von Freiheit. Plötzlich lief da so ein Film bei mir ab: Kodak-Licht, weite Strände, Bikinikörper. Ja, ich war ziemlich scharf auf sie.

So oft wie möglich haben wir uns in den nächsten Wochen getroffen. Ich machte ihr Komplimente und genoss es, wenn sie sagte: «You are gorgeous.» Oder: «I love your soft European skin.» Sie wollte mit mir schlafen, aber ich zögerte. Ich liebte meine Frau, ich liebe sie bis heute, unsere Ehe lief bestens, warum sollte ich sie betrügen? Und doch musste ich in einem fort an Josefine denken.

Inzwischen war es Herbst geworden, die Tage waren golden, ich schlief schlecht, stand um fünf Uhr auf und joggte durch die leere Stadt, während meine Gedanken tackerten. Ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte. Bis mir meine Frau erzählte, dass sie übers Wochenende mit den Kindern wegfährt. Plötzlich fielen alle Hemmungen. Wie ein kleiner Verbrecher begann ich, den Verrat zu planen. Und buchte für zwei Nächte ein Hotel.

Treue bedeutet mir viel. Ich fände es nicht tragisch, wenn meine Frau nach einem Flirt spontan mit einem Kerl ins Bett geht. Aber eine Affäre neben unserer Ehe? Das wäre das Ende. Für mich und sicher auch für sie. Denn dann wäre ja klar, dass in unserer Beziehung elementar etwas fehlt. Ich weiss nicht, ob wir danach zusammenbleiben könnten.

Einmal, nach der Geburt unseres zweiten Sohnes, ist unser Sexleben komplett eingeschlafen. Sechs Monate lang lief fast nichts, und am unerträglichsten fand ich, dass meine Frau mir das Gefühl gab, sie brauche das nicht. Eines Abends habe ich ihr gesagt: «Ich kann mir eine Beziehung ohne Sex nicht vorstellen.» Und ich meinte es genauso radikal, wie ich es gesagt habe. Sex gehört für mich dazu. Ich möchte meine Frau begehren, und ich möchte mit ihr schlafen. Das hat sie aufgerüttelt. Sie hat gemerkt: Es ist ihrem Mann wichtig. Also hat sie sich darauf eingelassen, und darüber hat sie auch ihre Lust wiederentdeckt.

Wir kennen uns seit zwanzig Jahren. Wir sind uns sehr ähnlich, haben die gleiche Sicht auf das Leben und führen anregende Gespräche. Klar gibt es bis heute Phasen, in denen wir wenig Sex haben. Aber wir geben uns Mühe. Einmal haben wir uns gegenseitig Sex-Ratgeber geschenkt. Ein anderes Mal einen erotischen Paartest von einer Uni gemacht, bei dem jeweils der andere die eigenen Ergebnisse zugemailt bekam. «Ihre Frau mag das und das, genau wie Sie, kann sich aber auch jenes und jenes vorstellen.» Das hat uns sehr beflügelt.

Die zweite Nacht mit Josefine war harmonischer. Aber diese tiefe, innere Erfüllung, die ich vom Sex mit meiner Frau kenne? Sie stellte sich nicht ein.

Danach haben wir uns zwei Wochen lang nicht gesehen. Und dann doch wieder, ich erinnere mich nicht, wer sich bei wem gemeldet hat. Wir sassen in einer Kneipe, redeten, betranken uns und sind am Ende auf einer dunklen Parkbank übereinander hergefallen. Endlich brach die ganze Lust aus uns heraus.

Am nächsten Morgen war für mich klar: Es geht nicht. Es muss vorbei sein. Ich kann das nicht. Es würde mich zerreissen. Ich würde mir das nicht verzeihen. Alles, was ich gerade machte, widersprach dem Bild, das ich von mir habe, als zuverlässiger, verantwortungsbewusster Mensch. Dass dieses Selbstbild nun ins Wanken geriet, fand ich unerträglich. Ich wollte das meiner Frau und unserer Ehe nicht antun. Die Entscheidung war klar.

Josefine hat geweint bei unserem letzten Treffen. Sie hat es akzeptiert. Wir haben uns nie wieder gesehen.

Ob meine Frau etwas gemerkt hat? Möglich. Sie ist dann sehr diskret darüber hinweggegangen.

* Namen geändert

Erzählen Sie uns Ihre Geschichte

Schildern Sie uns hier in den kommenden Tagen jeweils zwischen 10 und 22 Uhr Ihre Höhenflüge, Wünsche, Traumpartner. Anonym.