«In der EU werden sich die Reihen schliessen»
Eigentlich hätten Europas Staatschefs Integrationsschritte für den Euro beschliessen sollen. Stattdessen streiten sie um die Flüchtlingspolitik. Ist die Reform der Währungsunion bereits am Ende? ETH-Ökonom Jan-Egbert Sturm sieht das anders.
Von Simon Schmid, 26.06.2018
«Bretton Woods, Brussels, and Beyond» heisst ein Buch, das die Ökonomen Jan-Egbert Sturm und Nauro Campos aktuell herausgegeben haben. Der zweite Teil des Buchtitels, «Redesigning the Institutions of Europe», steht in starkem Kontrast zur aktuellen politischen Entwicklung.
Diesen Donnerstag treffen sich die EU-Regierungschefs in Brüssel zu einem Gipfel. Beschlüsse über eine Weiterentwicklung der Bankenunion und für eine gemeinsame Flüchtlingspolitik wären für das Treffen vorgesehen gewesen. Doch im Vorfeld herrscht Zwietracht: Vorschläge von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der deutschen Kanzlerin Angela Merkel wurden von den anderen Regierungen zerzaust.
Die EU steht vor einer Zerreissprobe. Bei der Weiterentwicklung der Währungsunion geht nichts mehr: Die Politik macht vier Jahre nach dem Ende der Eurokrise einen desolaten Eindruck. Doch Jan-Egbert Sturm, Chef der an der ETH Zürich angesiedelten Konjunkturforschungsstelle KOF, teilt den Pessimismus nur bedingt. Es brauche gar nicht den grossen Zusammenschluss aller Länder, um die Währungsunion resistenter zu machen, sagt er: Kleine, aber entscheidende Schritte würden genügen.
Herr Sturm, die Wirtschaft boomt, die Krise ist vergessen. Doch statt jetzt Reformen anzupacken, reiben sich die Euroländer gegenseitig auf. Was ist los in der Währungsunion?
Die Integration ist ins Stocken geraten. Während der ersten Krisenjahre ist viel passiert. Ein Stützungsfonds für angeschlagene Länder wurde ins Leben gerufen, die Bankenunion auf den Weg gebracht. Seither wurden auf europäischer Ebene zwar viele Gespräche geführt, aber kaum konkrete Beschlüsse gefällt. Um die Strukturen der Währungsunion zu vollenden, braucht die Politik noch etwas mehr Zeit.
Mehr Zeit, als Sie sich als Ökonom wünschen würden?
Ja, leider. Jedes Jahr, in dem es keine Integrationsfortschritte gibt, ist verschwendet. Das vergangene Jahrzehnt hat die Schwächen der Währungsunion aufgezeigt. Diese müssten behoben werden.
Momentan läuft alles gut. Doch übersteht die Eurozone die nächste Rezession?
Das ist schwer zu prognostizieren. Wir wissen weder, wann die nächste Rezession kommt und wie heftig sie sein wird, noch, wo die nächste Krise einschlägt und welche Form sie annehmen wird. Immerhin wäre Europa besser vorbereitet als das letzte Mal.
Warum?
Die erste Krise traf Europa im Frühjahr 2010 aus heiterem Himmel. Es gab keine Mittel, um Krisenländer zu unterstützen, diese Mittel mussten erst aufgetrieben werden. Dann mussten die Modalitäten der Unterstützung ausdiskutiert werden. Das kostete Zeit. Auch die Europäische Zentralbank war zu Beginn nicht auf der Höhe ihrer Aufgabe. Inzwischen gibt es den Rettungsschirm European Stability Mechanism (ESM), der Staaten mit Kredit unterstützt, die sich am Markt nicht mehr refinanzieren können. Und die Zentralbank weiss besser, wie sie reagieren muss und kann. Allerdings sind die fiskalpolitischen Spielräume in der Zwischenzeit kleiner geworden. Die meisten Euroländer haben höhere Schuldenquoten als zu Beginn der Krise.
«Allen Marktteilnehmern ist klar, was auf dem Spiel steht: der Verbleib von Italien im Euroraum.»
Welches Land bereitet Ihnen die grössten Sorgen?
Italien. Aus zwei Gründen: Italien hat erstens eine der höchsten Schuldenquoten und eine der niedrigsten Wachstumsraten im Euroraum – das erhöht das Risiko einer Schuldenkrise. Zweitens ist Italien ein Schwergewicht; das Land wäre zu gross, um von den restlichen Eurostaaten gerettet zu werden.
Ist deshalb die Nervosität an den Finanzmärkten so gross?
Ja. Allen Marktteilnehmern ist klar, was auf dem Spiel steht: der Verbleib von Italien im Euroraum. Vor der Krise wurde Italien viel zu optimistisch eingestuft – die Besitzer von italienischen Anleihen waren blind für die Gefahren, obwohl die Probleme des Landes bereits damals bekannt waren. Während der Krise waren die Ausschläge dann heftig, erratisch. Heute sind die Einschätzungen realistischer. An den Finanzmärkten ist klar: Wenn die neue, populistische Regierung auch nur einen Teil ihres Ausgabenprogramms umsetzt, belastet dies den Haushalt schwer. Ich hoffe, dass dank des Marktdrucks eine gewisse Vernunft in Italien Einzug hält.
Ist es unvernünftig, die Wirtschaft über höhere Staatsausgaben zu stimulieren?
Eine solche Stimulierung würde Sinn ergeben, wenn Italien in einem konjunkturellen Tief wäre. Doch das ist es nicht. Die Probleme sind strukturell.
Was bedeutet das?
Dass die Wirtschaft nicht in einer vorübergehenden Schwächephase ist, sondern im dauerhaften Kriechgang. Italien wächst seit Jahrzehnten kaum. Der Wettbewerb ist zu wenig intensiv, der Arbeitsmarkt zu unflexibel. Die italienische Wirtschaft braucht keine höheren Staatsausgaben, sondern Liberalisierungsreformen. Zum Beispiel nach dem Vorbild von Frankreich, wo Emmanuel Macron jetzt auf gutem Weg ist. Oder nach jenem von Deutschland, wo in den Nullerjahren Reformen umgesetzt wurden.
Austerität für alle: Ist das die Lösung für Europa?
Man kann Wirtschaftspolitik entweder auf der Nachfrage- oder auf der Angebotsseite betreiben. Bei der Nachfrageseite geht es darum, eine temporäre Rezession zu überbrücken: Werden die wirtschaftlichen Erzeugnisse aus irgendeinem Grund von den Konsumenten nicht gekauft, so kann es sinnvoll sein, wenn der Staat mit vorübergehenden Steuersenkungen oder Ausgabenprogrammen dazu beiträgt, die Nachfragelücke zu schliessen. Sparprogramme wären in einer solchen Situation die falsche Lösung. Heute geht es aber eher um die Angebotsseite. Ausgabenprogramme helfen meistens nicht dabei, Probleme bei der Produktionstechnologie der Unternehmen oder der Organisation des Marktes zu beheben.
Während der Krise legte die Politik den Fokus aufs Sparen und auf Reformen – jetzt rufen die Populisten nach mehr Staatsausgaben und wollen von Reformen nichts mehr wissen. Europa kriegt das richtige Timing für seine Wirtschaftspolitik einfach nicht hin.
Optimal wäre gewesen, wenn die Politik bereits im Vorfeld der Krise dafür gesorgt hätte, dass sich keine Ungleichgewichte bilden. Jetzt geht es darum, das Beste aus der Situation zu machen. Zum Höhepunkt der Krise wurde zu viel gespart – man hätte höhere Defizite in Kauf nehmen können. Jetzt jedoch herrscht Hochkonjunktur. Das ist die Zeit, in der sich die Staaten sanieren und die Integration der Währungsunion vorantreiben sollten.
Der gemeinsame Wille dafür ist momentan gleich null.
Immerhin haben sich Deutschland und Frankreich zusammengerauft und eine Initiative für ein grösseres Eurobudget und eine gemeinsame Flüchtlingspolitik aufgegleist.
Die Initiative ist eine Totgeburt: Zwölf Staaten, darunter die Niederlande und Österreich, haben bereits einen Protestbrief verfasst. Sie wollen kein gemeinsames Eurobudget.
Natürlich geht das Projekt stark auf Angela Merkel und besonders auf Macron zurück. Ich bin trotz der Rhetorik, die aktuell aus den Hauptstädten zu vernehmen ist, verhalten optimistisch, dass die Europapolitik in nächster Zeit in Bewegung kommt.
Sprechen wir über die konkreten Schritte. Warum braucht die Eurozone eine Bankenunion?
Die Bankenunion ist das vielleicht wichtigste Integrationsprojekt der letzten Jahre – zusammen mit der sogenannten Kapitalmarktunion, die eine stärkere Verflechtung der Kapitalanlagen anstrebt. Die Integration dieser beiden Bereiche ist deshalb so wichtig, weil sie in einer funktionierenden Währungsunion einen wichtigen Beitrag zur Abfederung von wirtschaftlichen Schocks leisten. Gerät zum Beispiel Belgien in eine Rezession, so verlieren belgische Anlagen an Wert. Über eine starke Integration der Finanzmärkte wird ein bedeutender Teil des Schadens an Investoren im übrigen Europa verteilt.
Europa hat in dieser Hinsicht einen Rückschritt gemacht: Die Finanzwelt ist seit der Krise nicht mehr, sondern weniger verflochten als zuvor.
Ja. Und damit ist auch die Risikoteilung unter den Ländern zurückgegangen. Die Fragmentierung der Finanzmärkte ist ein riesiges Problem.
Weil die Banken ihre Staaten nach wie vor in die Tiefe reissen können?
Ja. Und weil die Staaten umgekehrt auch ihre inländischen Banken in die Tiefe reissen können. Die gegenseitige Abhängigkeit von Staaten und Banken – der sogenannte Doom Loop – ist ungebrochen. Er ist sogar stärker ausgeprägt als zuvor, weil viele Banken ihre internationalen Anlagen abgebaut haben und mehr inländische Wertpapiere halten.
Braucht es eine Bereinigung in der Bankenindustrie?
Ja. Fusionen und Übernahmen von Banken aus verschiedenen Euroländern würden die Fragmentierung des Finanzmarkts verringern. Aber: Welcher deutsche Politiker will schon, dass die lokale Sparkasse von einer französischen Grossbank geschluckt wird? Politiker machen gerne Stimmung gegen grenzüberschreitende Investitionen. Dabei hat sich gerade in der Krise gezeigt, wie hilfreich es ist, wenn Volkswirtschaften über das Bankenwesen verflochten sind: Osteuropa wurde verhältnismässig wenig von der Rezession getroffen, weil ausländische Banken vor Ort dazu beitrugen, die Schocks zu absorbieren.
«In der Krise sollten sich Staaten nicht auf Regelwerke versteifen, sondern schlicht und einfach miteinander reden.»
Die Maastricht-Kriterien, welche die Verschuldung der einzelnen Eurostaaten regeln sollten, sorgen immer wieder für Zoff. Braucht es bessere Regeln?
Die ursprünglichen Maastricht-Regeln besagten, dass sich Staaten nicht über 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts verschulden sollten und dass ihr Haushaltsdefizit nicht über 3 Prozent steigen darf. Das Problem an diesen Regeln ist, dass sie ein zu enges Korsett in der Krise sind und dass sie nicht glaubwürdig durchgesetzt werden können.
Gäbe es bessere Lösungen?
Statt immer detailliertere Regeln aufzustellen, muss man vermehrt auf die Vernunft der einzelnen Staaten setzen. Deren Ziel sollte sein, im Normalfall ein ausgeglichenes Budget vorzulegen, sodass die Schuldenlast mit der Zeit sinkt und sich die Wahrscheinlichkeit einer Krise verringert. Kommt es doch einmal zur Krise, sollten sich die Staaten nicht auf Regelwerke versteifen, sondern schlicht und einfach miteinander reden.
Wie wollen Sie mit diesem Ansatz sicherstellen, dass einzelne Staaten nicht dem Anreiz verfallen, über ihre Verhältnisse zu leben?
Der richtige Weg besteht darin, dass man von Regeln wegkommt, die nicht gelebt werden, und stärker auf den Aufbau von Institutionen setzt. Zum Beispiel auf einen europäischen Währungsfonds. Dieser Fonds wird Staaten im Krisenfall unterstützen – aber natürlich nur unter der Bedingung, dass wachstumsfördernde Reformen umgesetzt werden. Was das genau bedeutet, muss jeweils im Einzelfall ausgehandelt werden. Klar ist: Kein Land wird gerne in der demütigenden Situation sein, in der die Griechen die letzten acht Jahre lang waren.
Griechenland muss bis ins Jahr 2060 Überschüsse erwirtschaften, um seine Schulden an Resteuropa abzuzahlen. Ist das nachhaltig?
Wenn Griechenland gleichzeitig vernünftige Wachstumsraten hinlegen wird, ist das machbar. Das heisst nicht, dass es für Griechenland einfach sein wird.
Diese Woche steht ein grosses Gipfeltreffen an. Emmanuel Macron schlägt ein gemeinsames Eurozonenbudget vor. Macht das Sinn?
Die Frage ist, welchen Zweck dieses Budget erfüllen soll. Wenn es darum geht, die Infrastruktur auszubauen, dann wäre diese Aufgabe im Prinzip schon von den Strukturfonds der EU abgedeckt. So gesehen bräuchte es keinen separaten Fonds für die Euroländer.
«Man kann keine Versicherung kreieren, wenn das Haus bereits brennt.»
Ein Reizwort in Brüssel sind die sogenannten Fiskaltransfers, also die Verschiebung von Steuergeldern zwischen den Staaten. Sind sie notwendig, damit der Euro langfristig überlebensfähig ist?
Transfers von Steuergeldern zugunsten von Ländern in wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind wie eine Versicherung. Sie könnten ökonomisch durchaus Sinn ergeben. Gleichzeitig gibt es eine Missbrauchsgefahr. Die wirtschaftlich starken Länder befürchten, dass eine solche Versicherung zu einer Trittbrettfahrermentalität führen würde.
Und Ihr Urteil? Braucht es eine Fiskalunion, mit gemeinsamem Budget, mit Euroanleihen und einer gemeinsamen Arbeitslosenversicherung?
Die Frage ist eigentlich müssig, denn es ist ausgeschlossen, dass die Euroländer in nächster Zeit einer solchen Integration zustimmen werden. Die Reihenfolge ist das Problem: Man kann keine Versicherung kreieren, wenn das Haus bereits brennt. Statt über die Fiskalunion zu diskutieren, sollten sich die Regierungen der EU-Länder auf wichtigere Projekte konzentrieren. Etwa auf eine engere Zusammenarbeit im Bereich der Flüchtlinge und bei der Sicherheitspolitik. Hier sind realistisch betrachtet raschere Erfolge möglich.
US-Präsident Trump geht auf Konfrontationskurs zu Europa. China setzt seine Interessen mit Entschlossenheit durch. Kann ein fragmentiertes Europa in dieser zunehmend antagonistischen Welt bestehen?
Natürlich birgt es Gefahren, wenn Europa auf eine weitere Zentralisierung verzichtet. Doch auch die Dezentralisierung hat Vorteile. Europa ist ein Sinnbild für die Demokratie. Streit und Diskussionen sind in diesem System normal und zu einem gewissen Grad auch erwünscht. Man sieht das auch in der Schweiz, wo der Bund und die Kantone dauernd um Zuständigkeiten rangeln. Das Ergebnis ist nicht immer das schlechteste. Ich denke zudem, der Druck von aussen wird innerhalb der EU zu einem Zusammenrücken führen und die Integration beschleunigen.
Wie soll sich die Schweiz positionieren?
Die Haltung zur EU ist ein Dauerthema. Bislang ist die Schweiz mit dem bilateralen Weg gut gefahren. Allerdings bedeutet das nicht, dass dieser Weg für alle Ewigkeit der richtige sein wird.
Ist Europa für die nächste Rezession gewappnet? Oder bringt Italien das ganze Gebilde im nächsten Abschwung zum Einsturz? Welche Elemente sind unverzichtbar, damit die Europäische Währungsunion funktionieren kann? Und wie soll sich die Schweiz verhalten? Hier gehts zur Debatte mit Jan-Egbert Sturm (11.30 bis 12.45 Uhr) und Simon Schmid (9 bis 11 Uhr).