Ist die Eurokrise eigentlich vorbei?
Es ist still geworden um die Eurokrise. Kaum jemand spricht noch von ihr. Heisst das, alles ist jetzt wieder gut? Nein, ist es nicht. Aber Emmanuel Macron und Angela Merkel hätten es in der Hand, das Experiment der Europäischen Währungsunion zu einem glücklichen Ende zu bringen.
Von Mark Dittli, 25.01.2018
Und plötzlich – Stille. Keine Bilder mehr von Demonstrierenden vor dem Turm der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Keine Strassenschlachten, keine brennenden Barrikaden mehr in Athen. Keine Berichte von wütenden Spanierinnen, die um ihre Ersparnisse fürchten. Keine panisch gestikulierenden Börsenhändler. Keine atemlosen TV-Reporterinnen in den Strassen Roms.
Die Finanzmärkte haben sich beruhigt. Sogar die Schweizer Exportwirtschaft kann aufatmen, denn der Franken hat sich deutlich abgeschwächt: Ein Euro kostet schon fast wieder 1.20 Franken. So viel wie nie in den letzten drei Jahren.
Heisst das, die Eurokrise ist vorbei? Heisst das, alles ist nun wieder gut?
Auf diese Fragen gibt es drei Antworten. Eine ultrakurze, eine kurze und eine lange.
Die ultrakurze: Schön wärs!
Die kurze: Die erste Eurokrise mag vorbei sein, doch die zweite kann jederzeit ausbrechen. Gebannt ist die Gefahr erst, wenn die grundlegenden Konstruktionsmängel der Währungsunion gelöst sind. Eigentlich wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, dem Konstrukt Euro ein stabiles, langfristig tragfähiges Fundament zu geben. Denn solange das nicht der Fall ist, kann weder Europa noch die Schweiz beruhigt sein.
Und damit beginnt die lange Antwort. Sie umfasst acht Kapitel.
1. Die Geschichte eines politischen Projektes
Januar 2002: In zwölf Staaten der Europäischen Union, von Portugal bis Finnland, werden die Münzen und die Noten der neuen Gemeinschaftswährung unter die Bevölkerung gebracht. Bereits drei Jahre zuvor war der Euro als Buchgeld eingeführt und die nationalen Währungen zu festen Wechselkursen aneinandergekoppelt worden.
Ein Projekt, das seit Jahrzehnten, ernsthaft aber seit 1988 in Europas Machtzentren diskutiert und 1992 mit den Verträgen von Maastricht festgezurrt worden war, wird an diesem 1. Januar 2002 sichtbare Wirklichkeit.
Unter Ökonomen ist der Euro zu diesem Zeitpunkt ein seit Jahren kontrovers diskutiertes Thema. Schon Anfang der 1990er-Jahre, vor und nach Maastricht, äussern sich vor allem aus dem angelsächsischen Raum etliche warnende Stimmen. Der in Berkeley lehrende Wirtschaftshistoriker Barry Eichengreen, um nur ein Beispiel zu nennen, kommt 1992 in einer Studie zum Schluss, dass nur die Kernländer der Europäischen Gemeinschaft – Deutschland und seine Nachbarn – die Voraussetzungen für eine Währungsunion bieten. Peripherieländer wie Portugal, Spanien und Italien sollten nicht dazugehören, warnt Eichengreen.
Der Grund: Europa sei kein optimaler Währungsraum. Ein Konzept, das sich dereinst rächen sollte. Doch mehr dazu später.
Die Warnungen werden in den Wind geschlagen. Der Euro ist in erster Linie ein politisches, kein ökonomisches Projekt. Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt einigen sich die Staaten der Währungsunion 1997 zwar auf gemeinsame Eckwerte in der Ausgabendisziplin, doch so genau nimmt es damit nie jemand. Für Italien drückt man beide Augen zu, und 2001 kann auch Griechenland – schon damals ein finanzpolitisch hoffnungsloser Fall – dem Euro beitreten.
Nichts darf dem Start der Gemeinschaftswährung im Weg stehen.
2. Das Ende der Souveränität in der Geldpolitik
In den Taschen der Bürgerinnen und Bürger wird der Euro im Januar 2002 Realität – und wird von Deutschland bis Italien bald als «Teuro» verflucht, weil Detailhändler ihn für versteckte Preiserhöhungen missbrauchen.
Weit folgenschwerer als der kurzzeitige Teuerungsschub ist für die Eurostaaten allerdings eine für die Bevölkerung unsichtbare Tatsache: Sie haben mit dem Beitritt zur Währungsunion ihre Souveränität in der Geldpolitik aufgegeben. Zwar besitzen sie ab 1999 noch ihre nationalen Zentralbanken, doch diese sind bloss noch Erfüllungsgehilfinnen einer neuen, mächtigen Institution: der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt.
Weshalb ist das folgenschwer? Im alten System, als jeder Staat eine souveräne Geldpolitik betreiben konnte, war die Zentralbank ein Instrument zur Steuerung der Konjunktur. Wenn zum Beispiel Italien eine Wachstumsschwäche erlitt, konnte die Banca d’Italia tun, was eine Zentralbank in diesem Fall tun muss: die Zinsen senken. Das stützt die Wirtschaft, schwächt – im Normalfall – die heimische Währung ab und hilft den Exporteuren. Sollten zudem italienische Banken in Not geraten, konnte ihnen die Banca d’Italia als Kreditgeberin in letzter Instanz unter die Arme greifen.
Ab 1999 ist das nicht mehr möglich. Seit diesem Jahr liegt die Geldpolitik für die gesamte Eurozone in den Händen der EZB. Frankfurt bestimmt den einen Leitzins, der für den gesamten Währungsraum zu gelten hat, von Dublin bis Athen, von Lissabon bis Helsinki.
Das sollte sich später einmal als fatal erweisen. Doch noch ist es nicht so weit. Noch schlummert die Gefahr im Verborgenen.
Zunächst gilt der Euro nämlich als grosser Erfolg.
3. Die grosse Illusion
In seinen ersten Lebensjahren übertrifft der Euro alle Erwartungen. Er etabliert sich als starke Währung; zwischen Mitte 2002 und Ende 2004 verteuert er sich gegenüber dem US-Dollar um mehr als 30 Prozent. Der innig gehegte Wunsch diverser Politiker in Europa, mit der Eurozone einen den USA ebenbürtigen Wirtschaftsraum aufzubauen, scheint Realität geworden zu sein.
Wichtiger noch als die Solidität der Währung: Die Zinsen gleichen sich im gesamten Euroraum an. Das Renditeniveau griechischer, portugiesischer oder italienischer Staatsanleihen fällt nahezu auf den gleichen Stand wie dasjenige von Deutschland. Die Finanzmärkte stufen das Risiko von Investitionen in griechische Staatsanleihen nur unwesentlich höher ein als das von Investitionen in deutsche Staatsanleihen. Die Papiere gelten, mit anderen Worten, als absolut sicher.
Es ist ein Akt der Magie: Die Investitionsrisiken in den Peripherieländern der Währungsunion sind verschwunden. Innerhalb weniger Monate. Und das alles dank dem Euro.
Dieser Erfolg führt unter der Oberfläche, kaum beachtet vom politischen Establishment, zu riesigen Kapitalverschiebungen. Hunderte Milliarden fliessen durch das europäische Bankensystem aus dem Kern der Währungsunion in die plötzlich als sicher geltende Peripherie. Dort wird das Geld rasch zum Treibstoff für Übertreibungen: einen wahnwitzigen Immobilienboom in Irland und Spanien, Investitions- und Konsumexzesse in Griechenland, Portugal und Italien.
Erstmals zeigt sich in dieser Phase, im Zeitraum von 2002 bis 2007, das Problem der EZB-Politik. Die Zentralbank hält die Leitzinsen niedrig, weil besonders Deutschland in der ersten Hälfte der Nullerjahre unter einer zähen Wachstumsflaute leidet. Diese Geldpolitik ist angebracht für Deutschland, aber sie ist viel zu locker für Irland, Spanien und die anderen Peripherieländer. Diese boomen. Sie überhitzen. Das führt dazu, dass in diesen Ländern das Preis- und das Lohnniveau immer weiter steigen.
Riesige Ungleichgewichte bauen sich auf. Mit dereinst explosiven Folgen. Doch noch ist es nicht so weit.
Zunächst kommt nun die Theorie des optimalen Währungsraums ins Spiel.
4. Die Theorie des optimalen Währungsraums
Jetzt wirds etwas technisch. In den 1960er-Jahren befassten sich in den USA mehrere Ökonomen mit der Frage, unter welchen Bedingungen es eigentlich sinnvoll ist, dass sich ein Wirtschaftsraum eine einheitliche Währung gibt.
Wer an den Details interessiert ist: Zu den wichtigsten Arbeiten dieser Zeit zählen «A Theory of Optimum Currency Areas» (1961) von Robert Mundell, «Optimum Currency Areas» (1963) von Ronald McKinnon und «The Theory of Optimum Currency Areas: An Eclectic View» (1969) von Peter Kenen.
Kurz und stark vereinfacht zusammengefasst schreiben sie: Ein Wirtschaftsraum bietet sich dann als «optimal» für eine gemeinsame Währung an, wenn eine Mischung aus fünf Bedingungen erfüllt ist.
Erstens müssen sich Arbeitskräfte im gesamten Raum frei bewegen können. Wer an einem Ort wegen einer Fabrikschliessung seine Stelle verliert, muss an einen anderen Ort ziehen können, wo bessere Arbeitsmöglichkeiten locken.
Zweitens muss sich Kapital im gesamten Raum frei bewegen können.
Drittens müssen Preise und Löhne in den verschiedenen Regionen des Wirtschaftsraums flexibel sein. Das heisst, sie müssen sich nach oben oder nach unten anpassen können.
Viertens müssen die verschiedenen Regionen des Wirtschaftsraums ähnliche – symmetrische – Geschäftszyklen aufweisen. Das heisst, sie müssen ungefähr gleichzeitig Aufschwünge, Abschwünge und Rezessionen durchlaufen.
Fünftens schliesslich muss der Wirtschaftsraum gewisse fiskalische Transfermechanismen haben. Das heisst, strukturschwache und mit hoher Arbeitslosigkeit kämpfende Regionen erhalten finanzielle Unterstützung von den reicheren Regionen.
Die fünf Bedingungen müssen nicht gleichzeitig vollständig erfüllt sein, doch sie beeinflussen sich gegenseitig. Sind zum Beispiel die Geschäftszyklen nicht symmetrisch oder die Arbeitskräfte zu wenig mobil, kommt den fiskalischen Transfermechanismen eine grössere Bedeutung zu.
Die Europäische Währungsunion, wie sie 1999 eingeführt wurde, erfüllt einzig die zweite Bedingung, die Kapitalmobilität, sowie zumindest theoretisch die Bedingung der mobilen Arbeitskräfte.
Alle anderen Bedingungen sind nicht oder nur ansatzweise erfüllt. Das ist an sich keine neue Erkenntnis, denn die warnenden Stimmen hatten schon Anfang der 1990er-Jahre darauf hingewiesen. Es war von Beginn an auch den Architekten der Währungsunion klar, dass die teilnehmenden Länder keinen optimalen Währungsraum bilden.
Doch was nicht war, sollte bald werden. Die Wirtschaftskraft der Staaten im Euroraum würde sich allmählich angleichen, hofften die Politiker, die Eurozone würde also zu einem halbwegs optimalen Währungsraum verschmelzen.
Alles, was dafür nötig sei, sei etwas Zeit, glaubten die Architekten des Euro.
Doch die Historie hatte andere Pläne. Sie war nicht bereit, der jungen Währung diese Zeit zu geben. Denn mit dem Jahr 2008 wird schlagartig alles anders: Die grosse globale Finanzkrise bricht aus, und mit ihr beginnen sich alle Versäumnisse in der Konstruktion der Währungsunion zu rächen, die bislang ignoriert worden waren.
Eine besondere Rolle kommt dabei zunächst den Banken zu.
5. Staaten und ihre Banken: Der «doom loop»
Was als Krise im amerikanischen Immobilienmarkt beginnt, frisst sich ab dem Spätsommer 2008 rasend schnell durch das internationale Bankensystem. Reihenweise kollabieren die Geldhäuser. In der Eurozone fordert die Krise ihre ersten Opfer: Die Immobilienblasen in Irland und Spanien platzen.
Nun dreht sich der Kapitalfluss um: Die Milliarden strömen zurück in den Kern der Währungsunion. Den Volkswirtschaften an der Peripherie, die kurz zuvor ihren grössten Boom seit Jahrzehnten erlebt hatten, wird der Sauerstoff aus den Lungen gerissen. Von Dublin über Madrid bis Athen kommen die Investitionen zum Erliegen, die Baustellen stehen still, die schlingernden Banken können oder wollen keine Kredite mehr vergeben.
Den Staaten bleibt in den meisten Fällen nichts anderes übrig, als ihre havarierten Banken zu retten. Irland versucht 2011 den ordnungspolitisch reinen Weg und will auch die Gläubiger der gestrauchelten irischen Banken zur Kasse bitten. Doch Dublin wird vom amtierenden EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet gezwungen, die Geldinstitute vollständig mit Staatsmitteln zu retten. Trichet befürchtet eine Kettenreaktion, denn zu den Gläubigern der irischen Banken zählen auch deutsche und französische Geldhäuser. Diese hätten wegen ihrer dünnen Eigenkapitaldecke keine grossen Abschreibungsverluste verkraften können.
Die Staatsfinanzen Spaniens und Irlands – eben noch europäische Musterknaben in Sachen Staatsverschuldung – werden durch die Bankenrettungen innerhalb weniger Monate ruiniert.
Bald beginnt unter Ökonomen ein neuer Begriff zu kursieren: der «doom loop». Er beschreibt das verhängnisvolle Zusammenspiel zwischen den Staatsfinanzen der Euro-Peripherieländer und dem Gesundheitszustand ihrer eigenen Banken. Wann immer das Bankensystem in einem Land – etwa in Italien – wankt, steigt an den Finanzmärkten die Sorge, ob der Staat im Notfall in der Lage wäre, die Banken zu retten. Und wann immer der Markt an der Zahlungsfähigkeit eines Eurostaates – etwa Griechenland oder Portugal – zweifelt, geraten die Banken des jeweiligen Landes unter Druck, denn sie sind es, bei denen sich die Staaten verschuldet haben.
Besonders in den akuten Jahren der Eurokrise, von 2010 bis 2013, zeigt sich ein weiterer fataler Fehler in der Architektur der Währungsunion: Die Banken unterstehen nationalen Regulierungen. Das führt zu bisweilen absurden Interessenkonflikten, wenn beispielsweise die deutsche Bankenaufsicht der bayrischen Hypovereinsbank (HVB) die Liquiditätsvorschriften in die Höhe schraubt, während gleichzeitig das Mutterhaus der HVB, die UniCredit, von der italienischen Aufsicht den Befehl erhält, mehr liquide Mittel in Italien zu halten.
Jeder Staat ist sich selbst der nächste. So war das nicht gemeint, damals, mit dem Zusammenwachsen der Euroländer zu einem einzigen grossen Währungsraum.
6. Das fehlende Ventil
Ein Peripherieland nach dem anderen schlittert nun in die Rezession.
Irland, Portugal, Spanien, Italien, Griechenland: In jedem dieser Staaten würde eine souverän agierende Zentralbank die Zinsen jetzt in die Tiefe reissen, ihre Währung abwerten und damit den eigenen Exporteuren die Möglichkeit geben, sich auf den Weltmärkten wettbewerbsfähig zu präsentieren. Genau mit diesem Ventil, einer externen Abwertung, haben sich 1998 beispielsweise die Länder in Südostasien aus der Krise befreit.
Doch dieser Pfad steht den Eurostaaten nicht mehr offen. Sie haben keine souveräne Geldpolitik und keine eigene Währung mehr. Ihre Leitzinsen werden in Frankfurt bestimmt. Dort schraubt EZB-Chef Trichet die Zinsen Anfang 2011 sogar noch in die Höhe, während sich die Peripheriestaaten bereits im freien Fall befinden.
Die Spirale beginnt sich immer schneller zu drehen. Die Wirtschaft in den Krisenstaaten bricht ein, die Arbeitslosigkeit schiesst in die Höhe, die Staatsausgaben steigen und damit die Staatsverschuldung. Die Europäische Kommission und die starken Kernländer um Deutschland zwingen die Krisenländer zum Sparen, um die steigenden Staatsschulden im Griff zu behalten. Diese Austeritätspolitik verschlimmert die Lage zusätzlich. Die Peripherieländer fallen in eine Depression.
Die Bondmärkte verlieren ihr Vertrauen; die Zinsen auf den Staatsanleihen, die bis 2009 noch als risikolos eingeschätzt worden waren, steigen rasant. Das setzt wiederum den heimischen Banken zu, die aus Furcht vor faulen Krediten den Geldhahn noch weiter zudrehen. Bürgerinnen und Bürger fürchten um ihre Ersparnisse; ein Euro auf einer Bank in Italien oder Griechenland gilt plötzlich als weniger sicher als ein Euro auf einer Bank in Deutschland.
Und Kapital tut das, was es in unsicheren Zeiten immer tut: Es flieht.
Der Zenit der Krise ist im Sommer 2012 erreicht. Italien und Spanien, die dritt- und die viertgrösste Volkswirtschaft der Eurozone, können sich an den Anleihenmärkten kaum mehr finanzieren. Wer weiss, vielleicht steht die Währungsunion in jenem Sommer kurz vor dem Bersten.
Doch da tritt am 26. Juli 2012, auf einer Konferenz in London, ein Italiener ans Rednerpult, Mario Draghi, seit etwas mehr als einem halben Jahr Präsident der EZB, und spricht 23 Worte, die in die Geschichte eingehen: «Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the Euro. And believe me, it will be enough.»
Draghi verspricht, die EZB werde alles tun, um den Euro zu retten. Die Worte wirken. Die EZB flutet die Märkte mit Liquidität, die Panik verflüchtigt sich, die Eurokrise verschwindet allmählich aus den Schlagzeilen und aus den Köpfen.
Bis heute. Bis sich die Sparerinnen in Italien, die Bondhändler in Frankfurt, die Politikerinnen in Berlin, die Exporteure in der Schweiz wieder ernsthaft fragen können: Ist nun alles wieder gut?
Nein. Ist es nicht.
7. Was die Geschichte lehrt
Die Historie ist eine gnadenlose Richterin. Immer wieder haben in der Neuzeit einzelne Staaten versucht, sich auf eine gemeinsame Währung zu einigen, um den Handel zu erleichtern. 1865 entstand die Lateinische Münzunion, die Frankreich, Italien, Belgien, die Schweiz und später auch Griechenland umfasste. 1872 versuchte es die Skandinavische Münzunion mit Norwegen, Schweden und Dänemark.
Beide scheiterten. Die Wirtschaft entwickelte sich in den einzelnen Ländern zu unterschiedlich, was enorme Kapitalströme mobilisierte, denen keine ausgleichenden Transfermechanismen als Druckventil gegenüberstanden.
Auch der Goldstandard war eine Art von Währungsunion; er kollabierte in den 1930er-Jahren nach rund fünfzigjährigem Bestehen, als unter dem Druck der Grossen Depression zuerst Grossbritannien und danach weitere Staaten ausscherten. Sie wollten ihre geldpolitische Souveränität zurückerlangen und ihre Währung abwerten.
Die Geschichte zeigt auch, wann eine Währungsunion funktioniert. Die USA, Kanada oder die Schweiz sind funktionierende Währungsunionen. Deutschland und Italien sind – bevor sie 1999 den Euro übernahmen – ebenfalls Exempel für eine überlebensfähige Währungsunion.
An all diesen Beispielen lässt sich das Zusammenspiel der erwähnten fünf Bedingungen für optimale Währungsräume schön beobachten. Zwar verlaufen in keinem dieser Staaten die Wirtschaftszyklen symmetrisch; wenn beispielsweise die Uhrenbranche unter Absatzproblemen leidet, kann der Kanton Neuenburg in eine Rezession rutschen, während Zürich boomt. Der Staat Mississippi kann in einer Depression mit hoher Arbeitslosigkeit stecken, während der Staat Washington heissläuft. In Süditalien und Ostdeutschland kann Krise herrschen, während Norditalien und Westdeutschland brummen.
Drei Faktoren sorgen dafür, dass diese Währungsunionen trotz des im Inneren herrschenden Drucks nicht bersten:
Erstens die Mobilität der Arbeitskräfte. Eine arbeitslose Frau aus Alabama kann nach Seattle ziehen und dort eine Stelle suchen. Ein arbeitsloser Mann aus Neufundland kann in den boomenden Staat Alberta ziehen.
Zweitens eine über den gesamten Währungsraum vereinheitlichte Bankenregulierung mit gemeinsamer Einlagenversicherung: Ein Kunde im Wallis muss nicht befürchten, dass ein Franken auf seinem Konto weniger sicher ist als ein Franken auf einem Konto im Kanton Zug.
Und drittens fiskalische Transfermechanismen: Wird Florida von einer Immobilienkrise, einer Rezession und hoher Arbeitslosigkeit heimgesucht, erhält der Staat automatisch Zuschüsse vom US-Finanzministerium, unter anderem über die bundesweit vereinheitlichte Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Steuergeld fliesst von den stärkeren Regionen der Währungsunion in die schwächeren Regionen. Und je geringer die Mobilität der Arbeitskräfte, desto wichtiger sind Fiskaltransfers, um den unterschiedlichen wirtschaftlichen Druck innerhalb einer Währungsunion auszugleichen.
Und damit sind wir zurück beim Euro, bei der Europäischen Währungsunion und der Frage: Was nun?
8. Die Lösung
Als die Zeitungen voll waren mit der Eurokrise, als in den Talkshows über wenig anderes geredet wurde, drehte sich die Diskussion meist um das Thema der Staatsschulden. Der Tenor: Die Griechen, die Spanier, die Italiener haben über ihre Verhältnisse gelebt. Die Krise ist die Quittung dafür. So ungefähr lautete die Meinung in Deutschland, in den Niederlanden, in Finnland. Auch in der Schweiz.
Die maroden öffentlichen Finanzen spielten 2011 und 2012 gewiss eine Rolle, als die Anleihenmärkte zu zweifeln begannen, ob die betreffenden Staaten noch zahlungsfähig sind. Doch sie waren weder Grund noch Auslöser der Eurokrise. Das bedeutet im Umkehrschluss: Das Problem ist auch nicht gelöst, wenn die Peripheriestaaten sparen und versuchen, ihren Haushalt in Ordnung zu bringen.
Der Grund für die Eurokrise war, dass sich Länder mit zu unterschiedlichen Geschäftszyklen, ungenügender Mobilität der Arbeitskräfte, nationalen Bankenregulierungen, rigiden Lohn- und Preisstrukturen fest aneinandergekettet haben. Mit einer gemeinsamen Währung und einer einheitlichen Geldpolitik. Und das ohne Transfermechanismen, die den unweigerlich entstehenden Druck innerhalb dieses Systems ausgleichen würden.
Es ist nachvollziehbar, dass vor allem in den reichen Eurostaaten, angefangen mit Deutschland, wenig Interesse an fiskalischen Transfermechanismen besteht. Man fürchtet das «Mezzogiorno-Problem»: In Italien haben sich die Fiskaltransfers vom Norden in den Süden über Jahrzehnte perpetuiert, ohne dass dem Mezzogiorno jemals eine Angleichung an die wirtschaftliche Vitalität des Nordens gelungen wäre.
Eine Gruppe von 14 renommierten Ökonominnen und Ökonomen, 7 aus Frankreich, 7 aus Deutschland, hat jetzt ein Papier mit konstruktiven Empfehlungen vorgelegt, wie die Europäische Währungsunion überlebensfähig gemacht werden soll. Die Mitglieder dieser Gruppe achten peinlich genau darauf, die aus Berliner Sicht wichtige Tugend der Disziplin mit dem aus französischer und südeuropäischer Sicht zentralen Element der Risikoteilung zu verbinden.
Konkret schlagen die 14 Autorinnen und Autoren vor, dass zunächst die verhängnisvolle Abhängigkeit zwischen den Staaten und ihren Banken, der «doom loop», eliminiert werden muss. Das gelingt mit einer im gesamten Euroraum geltenden Bankenunion mit einheitlicher Bankenregulierung – in Teilen ist das bereits umgesetzt – und einer zentralisierten, voll finanzierten Einlagenschutzversicherung. Erst dann hat eine Sparerin in Portugal die Gewissheit, dass der Euro auf ihrem Bankkonto gleich sicher ist wie ein Euro auf einem Bankkonto in Deutschland.
Zudem schlagen sie vor, dass für die Banken Anreize – etwa in Form höherer Risikogewichte – geschaffen werden sollen, damit sie weniger Anleihen ihres Heimatstaates in den Bilanzen halten. Um das Bedürfnis der Finanzmärkte nach einer risikolosen Anlage zu stillen, präsentiert das Papier die – nicht neue – Idee einer von allen Eurostaaten gemeinsam garantierten Anleihe.
An fiskalpolitischen Transfermechanismen empfehlen sie nur das absolut notwendige Minimum; eine Art europäischen Krisenhilfsfonds, der automatisch zur Anwendung kommt, wenn ein Land einen abnormal scharfen Wirtschaftseinbruch erleidet und die Arbeitslosenrate über eine definierte Schwelle steigt.
Andere Vorschläge, unter anderen vorgelegt vom französischen Ökonomen Thomas Piketty oder von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, gehen etwas weiter und skizzieren eine Art Euro-Finanzministerium mit bedingter Steuer- und Budgethoheit, um staatliche Mittel für Investitionsprojekte, beispielsweise für Schulen, Glasfasernetze, Bahnlinien oder Brücken, in schwächeren Regionen der Währungsunion zu sprechen.
Die verschiedenen Vorschläge unterscheiden sich in Details. Doch zumindest in Ökonomenkreisen herrscht weitgehend Einigkeit, dass die Währungsunion ohne voll ausgebaute Bankenunion und ein minimales Mass an fiskalischen Transfermechanismen nicht überlebensfähig ist.
Mario Draghi hat mit seinem Machtwort und seiner Liquiditätsflut die Märkte gezähmt. Doch dauerhafte Stabilität kann die EZB nicht bieten.
Das kann nur die Politik.
Das neue Führungsduo in Europa, Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, hat es nun in der Hand, die fatalen Konstruktionsmängel der Währungsunion zu beheben und dem Euro nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch ein solides Fundament zu geben.
Der Zeitpunkt ist günstig. Die Finanzmärkte sind ruhig. Denn eines ist sicher: Sie werden es nicht ewig bleiben.
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