Serie «Talk to the Machine» – Teil I

Weltweite Webkunst

Der Siegeszug des Computers hat viele Gründe. Einer davon: Wir können Maschinen unsere Wünsche mitteilen. Wie geht das? Teil I unserer Reise durch Digitalien bietet erste, einfache Programmierübungen.

Von Thomas Preusse, Hanna Wick, 25.06.2018

Der Stoff, mit dem diese Geschichte beginnt, liegt in den Händen eines kleinen Mannes. Seine Finger gleiten prüfend über die Seide, seine Augen saugen die üppigen Blumen auf, die bunten Farben. Alles perfekt gewebt. Napoleon ist zufrieden. Es ist ein Frühlingstag in Lyon im Jahr 1805, und Napoleon ist wieder einmal dabei, Geschichte zu machen. Denn der geblümte Stoff, den der Kaiser da in den Händen hält, ist eine Sensation, die Europa und die Welt vollkommen verändern wird: ein Produkt der Digitalisierung. Sein Muster basiert nicht auf Handarbeit, sondern auf Löchern in einem Streifen Karton, auf einer Software.

Serie «Talk to the Machine»

Hanna Wick und Thomas Preusse bringen Ihnen in drei Folgen bei, wie man mit Maschinen spricht: Sie beleuchten unsere nicht ganz unbelastete Beziehung mit Computern mit einem Blick in die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.

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Weltweite Webkunst

Teil III

Pro­gram­mier dich doch selbst!

Die dazugehörige Hardware? Ein neuartiger Webstuhl. Da sitzt kein Gehilfe mehr oben drauf, der die einzelnen Fäden hebt und senkt, der mühsam Abstände zählt und so das Muster in den Stoff fliessen lässt. Das erledigt alles die Maschine, mit einem raffinierten Mechanismus: Jeder Kettfaden lässt sich automatisch bewegen, denn er ist durch lange Drähte oben am Webstuhl mit einem Metallstift verbunden. Vor diesem Metallstift wandert ein Streifen aus Lochkarten vorbei. Trifft der Stift auf ein Loch, sackt er durch das Loch hindurch, und der Faden hebt sich. Ist da kein Loch, bleibt der Faden unten. Loch, kein Loch – 0, 1. Loch, kein Loch, kein Loch, Loch, kein Loch – 0,1,1,0,1.

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Erklärvideo zum Jacquard-Webstuhl vom Victoria and Albert Museum in London

Voilà, ein Ornament. Das Design kreieren – natürlich – noch immer Menschen. Sie übersetzen es in eine Abfolge von Löchern, stanzen es in den Karton und speisen es in die Maschine ein. Aber dann läuft alles von selbst, beliebig oft hintereinander, mit beliebig komplizierten Schnörkeln.

Napoleon ist begeistert. Er sieht Frankreich schon an der Spitze des Textilmarktes und wünscht, dass seine Kleider künftig damit gefertigt würden.

Neben Napoleon steht an diesem Tag der Erfinder der Wundermaschine, Joseph-Marie Jacquard. Als Spross einer Textilfamilie weiss er, wie fehleranfällig die Weberei üblicherweise ist. Vor allem bei aufwendig verziertem Brokat, dem Stoff der Träume, nach dem damals alle verlangen. Eine einzige Unaufmerksamkeit, und das Muster ist futsch.

Porträt von Joseph-Marie Jacquard, gewebt mit Seide auf einem Jacquard-Webstuhl im Jahr 1839. Für den Input waren 24’000 Lochkarten nötig. Getty Images

Kann man das nicht verhindern? Das fragt sich Jacquard schon als junger Mann. Jahrzehntelang sucht er überall nach Inspiration, schnappt da einen Trick auf, klaut dort eine Idee – und kämpft ganz nebenbei noch in der Revolutionsarmee. Schliesslich hat er alle Komponenten zusammen für den Bau des halb automatischen Webstuhls, der bis heute seinen Namen trägt. Jacquard, der Meisteringenieur, Jacquard, der Steve Jobs des 19. Jahrhunderts.

Das Jacquard-Prinzip erweist sich als disruptiv, wie man das heute nennen würde. Das heisst: Es pflügt die ganze Industrie um. Man kann die Lochkarten (und damit die Muster) auswechseln, von einem Webstuhl zum anderen tragen, man kann sie kopieren, man kann sie klauen. Stoffdesign als Piratenware. Und vor allem: Der neue Webstuhl spart Kosten und Personal.

Alarmiert beginnen die Weberzünfte zu rebellieren. Es heisst, sie hätten sogar einmal einen Jacquard-Webstuhl guillotiniert.

Vielleicht haben sie ihn auch nur verbrannt. Aufhalten können sie die industrielle Revolution jedenfalls nicht. Schon bald setzt sich die neue Technik durch, in Grossbritannien, in der Ostschweiz, weltweit. Manufakturen werden zu Fabriken, Brokat und Damast zu Massenware. Jeder kann sie sich jetzt leisten, des Kaisers neue Kleider.

Und damit nicht genug. Jacquard beschert uns – indirekt – noch eine weitere Revolution. Denn er verhilft den Lochkarten zum Durchbruch und inspiriert damit Computerpioniere, die an universell programmierbaren Maschinen herumtüfteln. Die binäre Logik setzt sich fest, weil man damit so gut rechnen kann. Loch, kein Loch, Loch, Loch, Loch, kein Loch. 0,1,0,0,0,1. Zwei Zustände, ein Bit. Der Code der Maschine.

IBM entwickelte in den 1940er-Jahren den Friden Flexowriter, eine elektrische Schreibmaschine, die mit einem Lochstreifenleser ausgestattet war. Getty Images
Die Lochkarte wird gestanzt. Angelo Cozzi/Mondadori Portfolio/Getty Images

Noch bis in die 1960er-Jahre gehören Lochkarten zu jedem Computer dazu. Frauen und Männer im adretten Business-Look arbeiten damals konzentriert an grossen Terminals oder stanzen an kleinen Tischen Löcher in Karten. Die Software besteht aus dicken Kartenstapeln, mit denen die Maschine gefüttert sein will – in der richtigen Reihenfolge. Bloss nicht stolpern, bloss nichts fallen lassen! Sonst muss man den Code mühsam von Hand wieder sortieren (was Stunden dauern kann).

Heute sind Lochkarten passé. Entwicklerinnen und Entwickler schreiben ihre Programme direkt in den Computer hinein, in Silizium statt in Karton. Fertig mit mühsamer Handarbeit, nicht nur beim Weben: Maschinen nehmen uns das Sortieren ab, Maschinen nehmen uns das Suchen ab, Maschinen buchen unsere Flüge und empfehlen uns unsere Liebespartner, sie steuern unsere Rasensprinkler, handeln mit unseren Aktien und töten für uns. Es funktioniert. Es arbeitet. It works!

Zufrieden sind wir trotzdem nicht. Wir schimpfen über die blöden Kisten, die nicht tun, was wir von ihnen wollen. Wir misstrauen der Maschinerie, die in unseren Handys steckt – und wollen doch nicht darauf verzichten. Es ist eine seltsame Mischung aus Überlegenheitsgefühl und Unterwerfungslust, mit der wir unseren Computern begegnen. Gewürzt mit einer Prise Mystifizierung.

Doch Programmieren ist keine Zauberei, und es tut Not, das in Erinnerung zu behalten. Gerade heute, wo Computer scheinbar allgegenwärtig sind. Wer programmiert, macht im Prinzip nichts anderes als der Webermeister Jacquard vor 200 Jahren: sich eine Aufgabe überlegen und sie dann der Maschine verklickern.

«Jede Maschine verlangt nach einer bestimmten Prozedur, damit sie macht, wozu sie bestimmt ist», schreibt der IT-Experte Paul Ceruzzi in seinem Einführungswerk. «Aber nur bei Computern heben wir diese Prozedur aufs selbe Level wie die Hardware und geben ihr einen eigenen Namen.» Die Software. Man tippt auf dem Bildschirm Befehle ein, in einer bestimmten Programmiersprache – und die Maschine tut wie geheissen. It works!

Mittlerweile gibt es eine ganze Palette solcher Sprachen, keine davon perfekt. Das Sortierbeispiel, das Sie soeben überwinden mussten, verwendet Javascript – eine der wichtigsten Programmiersprachen überhaupt. In der Online-Sammlung Github, einer Art Bibliothek für Software, war Javascript im Jahr 2017 die bei weitem meistgenutzte Sprache.

Die Wahl der Sprache hängt vom Problem ab, das man lösen will, von Zeit und Kosten, manchmal auch vom Geschmack. Dem Computer ist sie letztlich egal. Er übersetzt unseren Input sowieso immer in binären Maschinencode. Die Javascript-Zeilen, die Sie geschrieben haben, werden weitergegeben an ein Software-Programm, das den Code in eine Zwischenstufe übersetzt. Diese Zwischenstufe wird dann – spezifisch je nach Betriebssystem und Hardware – für die Maschine übersetzt. Am Ende stehen Nullen und Einsen.

Dank der vielen Computersprachen und -dialekte kann man heute viel kompliziertere Dinge programmieren als früher. Zum Bespiel einen Rover auf dem Mars fernsteuern oder die Übersicht behalten über Millionen von Wikipedia-Einträgen oder Strassenkarten. Computer werden laufend kleiner und schneller. Trotzdem (oder gerade deswegen) hapert es bei der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine. Niemand versteht ohne weiteres, was ein Computer macht. Man kann ihm nicht zuschauen wie einer Webmaschine. Man kratzt nur an der Oberfläche – selbst als Programmiererin.

Ausserdem verlangen Computersprachen eine bestimmte innere Ordnung bei der Eingabe – alles muss logisch sein, muss Konzept haben. Der Mensch aber ist ein Chaot. «Menschliche Bedürfnisse müssen die Schwelle zum Code überschreiten. Sie müssen durch diese halbdurchlässige Membran hindurch, die Dringlichkeit, Angst und Hoffnung herausfiltert – und nur den Verstand durchlässt.» So beschreibt es die Autorin und Programmiererin Ellen Ullman in ihrem Klassiker «Close to the Machine».

Darum zeichnen sich ausserordentliche Programmiererinnen vor allem durch gute Planung aus. Bevor sie das erste Mal in die Tasten hauen, ist alles kristallklar: spezifiziert, strukturiert, optimiert. Bloss kommt dann garantiert ein nerviger Endnutzer mit einem diffusen Verbesserungswunsch um die Ecke. Und bringt alles wieder durcheinander. Als ob ein Kunde plötzlich eine neue Blume wollte, mitten im Stoff, obwohl man schon lange mit dem Weben begonnen hat.

So erklärt sich Ullmann die Unordnung um Programmierer herum, auf dem Pult, auf der Wandtafel, auf dem Desktop: «Die Unordnung kann nicht ins Programm hinein; sie stapelt sich um die Programmiererin.» Alles Verworrene, Unsaubere muss draussen bleiben, ausserhalb der Maschine.

Dennoch: Gewurstelt wird am Ende immer. Das kann als Defizit begreifen, wer sich die Menschen ordentlicher, logischer, systematischer wünscht. Doch warum sollten Menschen sein wie Computer – wo unser Gehirn doch so anders funktioniert? «Der menschliche Geist (…) funktioniert durch Assoziationen. Er springt von einem Gegenstand sofort zum nächsten. (…) Die Geschwindigkeit dieser Aktion, die Feingliedrigkeit der Denkspuren, die Detailtreue der mentalen Bilder ist beeindruckender als alles andere in der Natur.» So schreibt es Vannevar Bush, einer der wichtigsten US-Ingenieure des letzten Jahrhunderts, in seinem berühmten Computer-Essay «As We May Think».

Heute wissen Neurowissenschaftler viel mehr übers menschliche Gehirn, seinen Aufbau und seine Funktionen. Davon lässt sich die Informatik inspirieren. Vielleicht befinden wir uns deshalb gerade mitten in der nächsten Maschinen-Revolution. Nicht mehr wie Webstühle sollen Computer künftig funktionieren, sondern wie das, was in unseren Schädeln steckt. Künstliche Intelligenz lautet das Versprechen. #NeuronaleNetze #Deeplearning. Doch was heisst das eigentlich? Und wo sind die Grenzen dieser Technik? Darum geht es im zweiten Teil unserer Trilogie, den Sie morgen lesen können: «Künstliche Intelligenz – Einblicke in die Blackbox».

Nerds mit Stricknadeln

Zum Schluss von Teil I hier noch ein Nachtrag zur Textilbranche: Wenn Sie meinen, Programmieren sei etwas für arrogante junge Nerds und Handarbeit etwas für freundliche Grossmütter, dann möchten wir entschieden widersprechen. Nicht nur, weil Jacquards digitale Maschine ein Webstuhl war. Die Verwandtschaft zwischen Stoffen und Computerprogrammen ist eng, wie der Anthropologe Stephen Monteiro in seinem neuen Buch zeigt.

Darauf deuten auch die Metaphern hin, die in der Informatik gebraucht werden:

discussion thread (Gedankengang; wörtlich «Diskussionsfaden»)
zipped files (komprimierte Datei; von «zip», Reissverschluss)
software patches (Software-Flicken)
switch fabrics (Netzwerk; von «fabric», Gewebe)
World Wide Web (von «web», Netz)

Magazin «Filati»

Wer den oben stehenden Strick-Code verstehen kann, der kann auch programmieren lernen. Ja, vielleicht sollte man die beiden Fächer Handarbeit und Informatik sogar gemeinsam unterrichten, statt sie – wie im Lehrplan 21 – gegeneinander auszuspielen? Genau das schlagen jedenfalls einige Entwicklerinnen vor, die in der Frühbildung aktiv sind. Zum Beispiel Linda Liukas, die beim Stricken gelernt hat, wie eine Programmiererin zu denken: kreativ und systematisch zugleich.

Die Sehnsucht nach schönen Mustern und Stoffen hat uns die Digitalisierung beschert. Sie kann unverhofft innovative Folgen haben – auch heute noch.

Das lesen Sie morgen in Teil II: «Blick in die Blackbox»

Die künstliche Intelligenz hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht – zum Beispiel bei der Bilderkennung. Doch sie hat auch gravierende Schwachstellen. Welche? Warum? Und was heisst das für die Gesetzgeber?

Die Visualisierungen basieren auf Beispielen von Mike Bostock und Tom MacWright. Ohne sie wären diese interaktiven Visualisierungen nicht möglich gewesen. Vielen Dank!

Debatte: Wie behalten wir die Maschinen im Griff?

Sind wir zu sehr von Maschinen abhängig? Oder nehmen sie uns genau die Arbeiten ab, die uns nur lästig sind und die sie sowieso besser können? Haben Sie Angst davor, dass Maschinen einmal besser funktionieren als das menschliche Gehirn? Und warum muss ich eigentlich selbst programmieren können? Hier geht es zur Debatte mit Autorin Hanna Wick und IT-Spezialist Andreas Moor (heute Mittwoch von 8 bis 11 Uhr).

Serie «Talk to the Machine»

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Pro­gram­mier dich doch selbst!