Bis dass der Präsident uns scheidet (III)
Am 24. Juni wird in der Türkei gewählt. Zeit, sich dem Land ganz türkisch zu nähern. Mit einer Soap. Gestatten, Familie Atalay. Episode III: Die Leiche.
Von Adalet Kaplan, Solmaz Khorsand (Text) und Andreas Gefe (Illustrationen), 21.06.2018
In der Türkei wird am 24. Juni gewählt, Präsident und Parlament. Die Autorin Adalet Kaplan hat eine Idee für eine Soap. Leider ist sie in ihrer Heimat so nicht realisierbar. Dafür in der Republik. Unter einem Pseudonym skizziert sie hier ihre Serie «Bis dass der Präsident uns scheidet». Viel Vergnügen mit den Atalays, einer Familie aus Istanbul.
Mehmet liegt im Hotelzimmerbett. Kalter Schweiss klebt an seinem Körper. Er stöhnt, sein Gesicht tief in das Kissen vergraben. Warum hat er so viel getrunken? Er dreht sich zur Seite. Da liegt es wieder: sein schlechtes Gewissen, weich und fleischig, mit verschmiertem Mascara und türkisfarbenen Acrylnägeln. Es schnarcht.
Fünf Personen sind es, mit denen Sie in unserer Soap die nächsten Tage bis zu den Wahlen in der Türkei verbringen werden: Mehmet, Zeynep, Elif, Atakan und Baran. Die Kurzbiografien finden Sie hier.
Mehmet dreht sich wieder um. Er schaut auf sein Handy. Sieben Mal hat Zeynep schon angerufen. Beim achten Mal rappelt er sich auf. «Ja, was ist?», fragt er mit belegter Stimme. «Ich kann jetzt nicht. Nein, alles ist gut. Nein, ich komme nicht zum Essen», murmelt er. «Vergiss nicht, heute Abend ist Onkel Alis Trauerfeier bei meiner Mutter. Sei pünktlich.»
Dann legt er auf. Er trinkt einen Schluck Wasser. Das schlechte Gewissen döst friedlich. «Ich muss los», sagt Mehmet. «Das Geld liegt auf dem Tisch. Wie immer.»
Hell ist es draussen. Mehmets Schädel brummt. Er braucht noch eine Tasse Tee, bevor er sich auf der Polizeistation blicken lässt. So kann er sich unmöglich den Kollegen zeigen. Beim Busbahnhof gibt es ein kleines Café, da kann er ausnüchtern.
Gestern Nacht hatte er wieder diesen Traum. Er sieht Zeyneps Beine vor sich, wie sie umherwirbeln in der strahlenden Sonne. Im Hintergrund hört er ein Lachen. Fröhlich ist es. Er fühlt sich geborgen. Plötzlich wird es kalt. Das Lachen verstummt, und Zeyneps Beine verwandeln sich in dürre schwarze Äste. Sie fallen auf den Boden und zerbrechen.
Was soll das bedeuten? Dass ihre Ehe verdörrt? Ja, stirbt? Mehmet runzelt die Stirn. Diese Beine. Mit ihnen hat alles auf der Medizin-Uni angefangen. Sie haben ihn ins Unglück gestürzt. Er lächelt in sich hinein. Hätten sie ihn nicht verhext, hätte er sein Studium vielleicht fertig gemacht. Und er wäre noch mit Sami befreundet, seinem damals besten Freund.
Serie «Bis dass der Präsident uns scheidet»
Noch 2008 war die Türkei voller Leichtigkeit. Unter Recep Tayyip Erdoğan und seiner AKP brummte die Wirtschaft, und sein moderater, politisch geschickter Kurs schien die Zeit der Militärherrschaft für immer beendet zu haben. Zehn Jahre später ist von Leichtigkeit keine Rede mehr. Wie sich das für die Menschen anfühlt, lesen Sie in dieser Familien-Soap.
Sie lesen: Episode III
Die Leiche
Episode IV
So Gott will
Episode V
Bonnie und Clyde
Was, wenn ich ihm Zeynep nicht ausgespannt hätte? Wenn sie nicht schwanger geworden wäre? Wenn ich nicht die Uni geschmissen hätte, um für sie und Atakan Geld zu verdienen?
Hätte, wäre, würde. Alles Schwachsinn. Es ist, wie es ist. Nutzlos, alten Geschichten nachzuhängen.
Mehmet schleppt sich zur Polizeistation. Er vertritt diese Woche seinen Chef. Seine beiden Adjutanten, Taner und Yusuf, warten bereits. Nervös sitzen sie da. Taner hat ganz rote Augen. «Was habt ihr zwei Idioten wieder verbockt?»
Taner beginnt zu weinen. «Es ist einfach passiert», presst er hervor. «Sie, ich mein er, ich mein, du weisst schon, was ich meine! Einer von denen halt», stammelt er. Er deutet mit seinen Händen zwei Brüste an.
«Eine Transe», sagt Mehmet entnervt. «Und weiter?»
Taner schaut hilflos zu Yusuf. «Hast du sie ordentlich durchgefickt, du widerliche Ratte?», fragt Mehmet gelangweilt. Taner nickt. «Jungs, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit für eure perversen Geschichten. Was ist dann passiert?», fragt Mehmet.
«Sie hat sich gewehrt. Ich mein er. Er hat sich gewehrt, der Wichser», flüstert Taner. «Ich hatte ein bisschen etwas getrunken.» Er stockt. «Es war nicht meine Schuld, wirklich nicht.» Mehmet stemmt die Hände in die Hüften und schaut Taner erwartungsvoll an.
«Taner hat den Wichser erschossen», springt Yusuf ein. Er schnalzt mit der Zunge. «Wir haben die Leiche im Kofferraum.»
Mehmet atmet tief durch. Dann beugt er sich zu Taner und knallt ihm eine, so fest, dass er fast vom Stuhl fällt. «Du Idiot!» Als Mehmet noch einmal ausholen will, spürt er einen stechenden Schmerz in der Schulter. Verdammter Gezi-Park. Verdammte Proteste. Fünf Jahre ist das nun her, und immer noch knarzt die Schulter bei jedem Mal ausholen. Völlig irre hat er damals seinen Knüppel geschwungen.
Gott, wie ihn dieser Job anpisst. Mehmets Gedanken wandern wieder zu Zeyneps Beinen. Wäre sie damals nicht schwanger geworden, müsste er sich heute nicht mit diesen zwei Vollidioten rumschlagen, die irgendwelche Tunten vögeln und dann erschiessen.
Heirate nicht dieses Mädchen, hat sein Vater gesagt. Sie ist keine von uns, hat er gesagt. Nimm dir ein Mädchen mit Hidschab und ein bisschen Fleisch auf den Rippen, hat er gesagt, nicht diesen Hungerhaken.
Mehmet geht auf den Balkon der Polizeistation und schaut auf die Strasse. Er vermisst seinen Vater, sein Dorf und den Holzofen, vor dem sie gemeinsam den Koran gelesen haben. Vor ein paar Jahren ist sein Vater gestorben. Er hat seinem Sohn niemals verziehen, dass er die Uni nicht fertig gemacht hat wegen eines Mädchens mit «unsauberen Wurzeln». «Mit unsauberen Wurzeln.» Seltsamer Ausdruck. Erst jetzt begreift Mehmet seine Bedeutung. Er lächelt. Er liebt dieses Mädchen mit den unsauberen Wurzeln. Trotz ihrer Sturheit. Trotz ihrer schlauen Sprüche. Trotz allem.
Mehmet zückt sein Handy. «Warte nicht mit dem Essen, Zeynep. Ich brauche noch», tippt er ein. «Und vergiss bitte nicht die Trauerfeier!» Zwei Kussmund-Emojis, eines für jedes Bein.
Er geht zurück ins Büro zu seinen beiden Idioten. Taner ist ganz bleich. Yusuf spielt mit seinem Kugelschreiber. «Bei Sonnenuntergang werdet ihr die Leiche in dieser Grube unweit der Autobahn vergraben. Ihr wisst schon, dort wo sie das neue Hochhaus hinbauen. Meldet euch, wenn die Sache erledigt ist.» Die beiden Männer nicken. Auf dem Weg hinaus schnappt sich Mehmet Taner. «Du hast so ein Glück, dass du der dritte Cousin des Schwagers von Erdogans Berater bist.»
Zeynep steht in der Küche über einem Topf dicker Linsensuppe, als sie Mehmets SMS bekommt. Wieder nur sie und die Kinder. Auch gut. «Elif, hol deinen Bruder, wir essen.» Elif schaut aus dem Fenster. Ihr Bruder, Atakan, sitzt dort mit seinen Freunden. Wie doof er aussieht in seinen breiten Hip-Hop-Klamotten. Pseudo-Gangster, so peinlich, denkt Elif. Was sind das für Leute, mit denen er abhängt? Diese Typen in den Cargohosen und den Militärstiefeln? Elif hat sie noch nie gesehen.
Ein weisser Sedan fährt vor. Die Burschen sammeln sich um den Fahrer des Autos. Elif ruft ihre Mutter. Zeynep kommt zum Fenster. Den Fahrer mit dem weissen Bart kennt sie nicht. «Atakan, komm rauf! Essen ist fertig!», brüllt sie hinunter. Mürrisch trottet Atakan ins Haus. Seine Mutter ist so peinlich. Immer muss sie ihn blossstellen. Im Kopf äfft er ihre Stimme nach: «Was hast du für Freunde, Atakan? Geh lernen, Atakan. So wird nie etwas aus dir, Atakan!» Wortlos verzieht sich Atakan auf sein Zimmer. «Willst du gar nichts essen?», fragt Zeynep. «Ich faste. Es ist Ramadan, weisst du das nicht?», antwortet Atakan schnippisch und schlägt die Tür zu.
Aus seinem Zimmer hört Zeynep die Schüsse von Maschinengewehren. Atakan hat sich wieder vor seine Spielkonsole gesetzt. Was soll bloss aus dem Jungen werden, denkt Zeynep. Und seit wann fastet ihr Atakan? Sie schüttelt den Kopf. Ihr Handy läutet. Mehmet steht unten. Sie soll sich fertig machen, sonst kommen sie zu spät zu Onkel Alis Trauerfeier. Mist. Sie hatte keine Zeit, sich umzuziehen. Der Rock ist vielleicht ein bisschen kurz für Mehmets Familie. Egal. Zeynep schnappt sich einen alten Schal, den sie als Kopftuch verwenden wird, und rennt zur Tür. «Bis später, mein Schatz. Ich habe dich lieb», sagt sie zu Elif und küsst sie auf die Wange.
Elif beobachtet ihre Eltern vom Fenster aus. Mit dem Dienstwagen ist ihr Vater gekommen. Er wartet vor dem Auto auf ihre Mutter. Als er sie sieht, verdunkelt sich sein Blick. Sie beginnen zu streiten. Schon wieder. Zeynep stürmt zurück in die Wohnung. Sie rennt ins Schlafzimmer und durchwühlt ihre Kommode. Nach ein paar Minuten steht sie mit einem knöchellangen Rock in der Haustür.
Ihre Beine versteckt, hinter einem geblümten Stück Stoff.