Bis dass der Präsident uns scheidet (II)
Am 24. Juni wird in der Türkei gewählt. Zeit, sich dem Land ganz türkisch zu nähern. Mit einer Soap. Gestatten, Familie Atalay. Episode II: Der Terrorist.
Von Adalet Kaplan, Solmaz Khorsand (Text) und Andreas Gefe (Illustrationen), 20.06.2018
In der Türkei wird am 24. Juni gewählt, Präsident und Parlament. Die Autorin Adalet Kaplan hat eine Idee für eine Soap. Leider ist sie in ihrer Heimat so nicht realisierbar. Dafür in der Republik. Unter einem Pseudonym skizziert sie hier ihre Serie «Bis dass der Präsident uns scheidet». Viel Vergnügen mit den Atalays, einer Familie aus Istanbul.
Oh Gott, was habe ich bloss getan. Zeynep knackt mit den Fingern. Das macht sie immer, wenn sie nervös ist und keine Zigarette zur Hand hat. Ich hätte die Klappe halten sollen, denkt sie. Mehmet wird durchdrehen.
Aysel tätschelt ihr die Schulter. Sie versucht, Zeynep zu beruhigen. So aufgelöst kennt sie ihre Freundin gar nicht. Seit Jahren treffen sich die beiden Frauen. Jeden Tag verabreden sie sich zu Mittag in Zeyneps Apotheke, um gemeinsam essen zu gehen. Bei ein paar Salatblättern konferieren sie dann über die drei unlösbaren Dinge ihres Lebens: ihre Ehemänner, die Kinder und den zähen Hüftspeck.
Fünf Personen sind es, mit denen Sie in unserer Soap die nächsten Tage bis zu den Wahlen in der Türkei verbringen werden: Mehmet, Zeynep, Elif, Atakan und Baran. Die Kurzbiografien finden Sie hier.
Heute sieht es nicht danach aus. Zeynep ist völlig fertig. In der Apotheke ist nicht viel los. Sie sind allein, mit Baran, Zeyneps Assistenten und Elif, ihrer Tochter. Seltsam sieht Elif aus. Ihr Nacken ist ganz rot. Kunstblut klebt ihr am Hals. Mit Spucke versucht Zeynep, die rote Farbe mit ihrem Daumen wegzuwischen. Elif dreht sich angewidert weg. «Wie erkläre ich das meinen Freunden morgen in der Schule?», schnauzt sie ihre Mutter wütend an.
«Du brauchst ihnen gar nichts zu erklären! Weil du da nicht mehr hingehst!», schnauzt Zeynep zurück. Nicht mit ihr. Nicht mit Zeynep Atalay. Keinen Tag länger lässt sie ihre Tochter in dieser Schule von diesen Psychopathen unterrichten.
«Kannst du es glauben, Aysel? Kleine Kinder, die sich auf der Bühne gegenseitig abschlachten! Kinder mit falschen Bärten und Erdogan-Flaggen, die brüllen: Tod den Verrätern! Tod den Putschisten! Das ist doch Wahnsinn!»
Dabei hatte vor ein paar Wochen alles so vielversprechend angefangen. Der Direktor hatte Zeynep zu sich ins Büro bestellt. Sie sollte das diesjährige Theaterstück organisieren. Das hat Zeynep gefallen. Sie wollte ihre Tochter stolz machen: Elif zeigen, was noch in ihrer alten Mutter steckt.
«Elif musste auch so einen bescheuerten Bart tragen und wurde von einem Papp-Panzer überrollt. Dann haben kleine Offiziere in Uniform mit Schaumgewehren so getan, als ob sie Elif niederprügeln würden. Kannst du dir das vorstellen Aysel? Wie sie unsere Soldaten mit so einem Schwachsinn verhöhnen? So respektlos!»
Serie «Bis dass der Präsident uns scheidet»
Noch 2008 war die Türkei voller Leichtigkeit. Unter Recep Tayyip Erdoğan und seiner AKP brummte die Wirtschaft, und sein moderater, politisch geschickter Kurs schien die Zeit der Militärherrschaft für immer beendet zu haben. Zehn Jahre später ist von Leichtigkeit keine Rede mehr. Wie sich das für die Menschen anfühlt, lesen Sie in dieser Familien-Soap.
Sie lesen: Episode II
Der Terrorist
Episode III
Die Leiche
Episode IV
So Gott will
Episode V
Bonnie und Clyde
Aysel schüttelt den Kopf. «Ich bin zum Direktor marschiert, und weisst du, was der gesagt hat? Nur Putschisten hätten etwas gegen das Stück!», sagt Zeynep. Ihre Finger sind schon ganz schlaff geknackt. Wie gern würde sie sich jetzt eine Zigarette anzünden.
Ihr Assistent Baran hat die Diskussion mitverfolgt. Zeyneps Pathos hat ihn schon immer amüsiert. So eine Drama-Queen. Er bringt seiner Chefin ein Glas Wasser. «Der Typ klingt verrückt, aber ich erinnere mich noch gut, als sie uns in der Schule gezwungen haben, mit Kunstblut und Plastikwaffen Atatürks Kämpfe nachzuspielen. Das war nichts anderes», erzählt er.
Zeynep funkelt ihn böse an. «Wie kannst du es wagen! Das war doch etwas ganz anderes. Ihr habt als Kinder unseren tapferen Gründungsvater gefeiert, während die jetzt eine blutige Propaganda-Show abziehen!»
Die Türglocke unterbricht ihren Wutausbruch. Zwei syrische Frauen in schwarzen Nikabs treten ein. Beide haben Babys im Arm. Baran grüsst sie auf Arabisch. Fasziniert beobachtet ihn Elif. Noch nie hat sie Baran zuvor Arabisch sprechen gehört.
Zeynep beeindruckt das gar nicht. Sie ist genervt von den Kundinnen. Ein Problem mehr in ihrem Leben, die Flüchtlinge. Das sind doch alles Feiglinge, warum bleiben die nicht zu Hause und kämpfen für ihre Heimat? «Schmutzig und primitiv sind die», flüstert Zeynep. «Sie werden die Türkei noch in den Abgrund reissen.» «Das sind doch alle Erdogans Marionetten, damit er die Wahlen gewinnt», pflichtet ihr Aysel bei, als die zwei Syrerinnen die Apotheke verlassen haben.
Zeynep schaut ihnen nach. «Deswegen hat Erdogan die Leute doch überhaupt reingelassen. Jeder weiss doch, wen die wählen werden», sagt sie.
Elif verdreht die Augen. «Mama», tadelt sie, «nur wenige Flüchtlinge können in der Türkei wählen. Nur die, die vor 2013 hergekommen sind.»
Immer so superschlau, ihre Tochter. Normalerweise ist Zeynep stolz auf ihren Einstein. Nicht heute. Zu viel spukt ihr im Kopf herum. Sie muss sich auf das Abendessen mit Mehmet vorbereiten. Vor allem darauf, wie sie ihm von dem Eklat in der Schule erzählen soll. Er wird es nicht verstehen, warum sie diesem Vollpfosten von Direktor den Marsch geblasen hat. Sie hat keinen Kopf für Elifs neunmalkluges Geplapper.
«Baran, könntest du Elif bitte nach Hause fahren. Du wohnst doch bei uns um die Ecke. Ich muss hier noch ein paar Dinge erledigen», bittet sie ihren Kollegen.
Elif lächelt. Alles ist besser, als sich das Gezeter ihrer Mutter anzuhören. Und sie mag Baran. Er ist anders als die anderen Erwachsenen, so klug und nachdenklich. In seinem Auto lässt Baran kurdische Musik laufen. Elif ist ergriffen, auch wenn sie die Worte nicht versteht. «Wer ist das?», will sie wissen. Baran zögert, bevor er antwortet. «Şakiro. Er war ein Denbek, ein kurdischer Volksliedsänger», sagt er. Er wartet. Es ist ihm unangenehm, mit Elif über diese Dinge zu sprechen. Sie ist doch noch ein Kind. Doch als er Elifs fragendes Gesicht sieht, gibt er sich geschlagen. «Er singt über das Massaker von Dersim von 1937. Mehr als 70’000 Menschen seien dabei ermordet worden, sagt man», sagt er. «Alte Geschichten.»
Elif schluckt. «Du meinst Tunceli im Osten der Türkei, oder?»
«Klar. Oder Nordkurdistan, je nachdem, wer die Landkarte gezeichnet hat», sagt Baran und lächelt.
Er ist wie ein Lexikon, denkt Elif. So klug. Sein Wissen schüchtert sie ein. Schon immer. Sie mag das. Wenn Baran mit ihr spricht, fühlt sie sich erwachsen, so ernst genommen, nicht wie ein Kind, auf das niemand hört. Niemand hört je auf sie. Nicht in der Schule. Und erst recht nicht zu Hause. Alle halten sie nur für einen Klugscheisser. Aber nicht Baran. Er sieht mehr in ihr. Das weiss Elif genau. «Woher kannst du eigentlich Arabisch?», fragt sie.
«Jeder aus Mardin kann Arabisch. Wenn du dort aufwächst, lernen die Kurden Arabisch und die Araber Kurdisch. Das ist normal», sagt er.
«Und Türkisch?», fragt Elif. «Und Türkisch. Ob wir wollen oder nicht», sagt Baran. Er lacht.
«Ich würde auch gerne drei Sprachen können», sagt Elif.
«Das wirst du eines Tages. Ich sehe dir an, wie gerne du lernst.» Aus dem Handschuhfach kramt er eine vergilbte Postkarte von Mardin heraus. «Hier, schenke ich dir.» Elif errötet.
Als Baran in ihre Strasse einbiegt, wird er plötzlich still. «Bitte nicht», flüstert er. Sein Blick fällt auf eine alte Frau, die zwischen den Mülleimern umherirrt. «Meine Mutter», erklärt er. «Ihre Gedanken schweifen manchmal ab. Kannst du mir helfen, sie ins Haus zu bringen?»
Elif nickt. Auf den Stufen versucht sich die alte Frau von den beiden loszureissen. «Ich gehe zurück in mein Dorf», stammelt sie. «Mama, dein Dorf gibt es nicht mehr, das weisst du doch», sagt Baran sanft. Behutsam führt er seine Mutter zurück ins Haus.
«Endlich zu Hause. Jetzt mache ich uns erst mal einen Tee, gut?», sagt Baran und verschwindet in der Küche. Elif wartet im Wohnzimmer. Ihr Blick fällt auf die volle Bücherwand. Die meisten Titel versteht sie nicht. Sie sind auf Kurdisch. Dann bleibt ihr Blick an einem dicken abgegriffenen Wälzer hängen. Der Autor: Abdullah Öcalan. Sie kennt den Namen. Er ist der Gründer der PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans. Ihre Eltern nennen ihn nur die Ausgeburt des Teufels. Elif schmunzelt. Wenn die wüssten.
Wieder zu Hause bei den Atalays kreist das Gespräch beim Abendessen immer noch um das Theaterstück in der Schule. «Mehmet, dieser Mann hat mich einen Terroristen genannt, kannst du das glauben?», sagt Zeynep, während sie die Schale mit dem Joghurt auf den Tisch stellt.
Mehmet reisst die Augen auf. «Bist du völlig verrückt?», brüllt er. «Weisst du nicht, in welche Gefahr du uns bringst?!»
Noch bevor Zeynep protestieren kann, schlägt Mehmet mit der Faust auf den Tisch. «Kein Wort mehr! Morgen bringe ich Elif in die Schule, und sie wird in diesem Stück mitspielen. Und sie wird es lieben! Ende der Diskussion!»
Elif hasst es, wenn ihre Eltern streiten. Und sie streiten so oft in letzter Zeit. «Ich war heute in Barans Wohnung», versucht sie das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. «Er hat sogar Bücher von Öcalan», sagt sie. Dann holt sie die Karte von Mardin aus ihrer Tasche. «Und die hat mir Baran geschenkt.» Sie lächelt unsicher.
Ihre Eltern verstummen. «Seit zehn Jahren arbeite ich mit dem Kerl zusammen», raunt ihre Mutter. «Da glaubst du, du kennst einen Menschen, und dann stellt sich heraus, dass der auch nur einer von denen ist. Nur ein Terrorist hat solche Bücher.» Sie schüttelt den Kopf.
«Und wer lässt seine 13-jährige Tochter allein mit einem Terroristen?», presst Mehmet hervor.
Elif erstarrt. Sie hätte nichts sagen sollen. Warum hat sie etwas gesagt? Dumme Elif. Dumme Elif! Zeynep und Mehmet schauen sich an. Seit langer Zeit sind sie sich zum ersten Mal einig. Zeynep reicht Mehmet sein Handy. Er geht auf den Balkon und ruft seinen Kollegen auf der Polizeiwache an.