Auf lange Sicht

Falscher Alarm zum Wirtschaftswachstum

Die Schweiz leide an einer Wachstumsschwäche: Das sagen Experten gerne, wenn sie Reformen fordern. So berechtigt die Appelle auch sein mögen – die Diagnose ist fragwürdig.

Von Simon Schmid, 11.06.2018

Es gibt gewisse Dinge, die Sie zwar tun können, aber nicht unbedingt tun sollten. Zum Beispiel: eine Büchse Ravioli mit einer Kettensäge öffnen. Oder auch: längerfristige Wirtschaftsvergleiche zwischen Ländern aufstellen, indem Sie das Bruttoinlandprodukt pro Kopf dieser Länder vergleichen.

Tun Sie diese Dinge dennoch, resultiert im besten Fall eine einseitige Aussage, welche die Wirtschaftswirklichkeit nur teilweise abbildet. Im schlimmsten Fall gibt es aber eine richtige Sauerei auf dem Küchenboden.

Etwas dazwischen ist in der folgenden Grafik passiert. Es handelt sich um eine Abbildung aus dem «Weissbuch Schweiz», einer Szenarien-Studie, die der Thinktank Avenir Suisse vor zwei Wochen publiziert hat.

Die Grafik trägt den Titel «Anhaltende Wachstumsschwäche in der Schweiz». Sie zeigt das reale, also um die Inflation bereinigte Bruttoinlandprodukt pro Kopf für eine Gruppe von sieben Ländern – indexiert auf einen Wert von 100 fürs Jahr 1990 und mit jährlichem Wert für jedes Land bis ins Jahr 2016.

Die Schweiz erscheint als Wachstumsschlusslicht

BIP pro Kopf in inländischer Währung (1990 = 100)

Achse gekürzt1990199920072016119,0 Schweiz138,9 Deutschland127,9 Frankreich145,4 Grossbritannien111,0 Italien146,8 Niederlande143,4 USA100120140

Quelle: Maddison (2018)

Die Schweiz erscheint in dieser Grafik an zweitletzter Stelle: Nur in Italien sei das BIP pro Kopf in den letzten 26 Jahren langsamer gewachsen, lautet die Aussage. Sie wird als Beleg dafür gewertet, dass die Schweiz international ins Hintertreffen gerate und dringend Reformen umsetzen müsse.

Nichts gegen Reformen – es wäre zum Beispiel wichtig, dass die Schweiz bald ihre Altersvorsorge auf eine solide finanzielle Basis stellen würde und die Besteuerung von internationalen Unternehmen sauber regelt. Nur: Es ist problematisch, solche Forderungen auf der obigen Grafik abzustützen.

Aus folgendem Grund: Das Bruttoinlandprodukt unterschätzt – zumindest in der Form, in der es normalerweise berechnet wird –, wie stark die hiesige Wirtschaft in den letzten Jahren und Jahrzehnten effektiv gewachsen ist. Es bildet den wahren Produktivitäts- und Wohlstandszuwachs der Schweiz nur unzureichend ab.

Command-BIP

Warum kommt die Schweiz in den gewöhnlichen BIP-Wachstumsstatistiken zu schlecht weg? Der wichtigste Grund dafür ist die Offenheit. Die Schweiz ist ein kleines und im internationalen Handel erfolgreiches Land: Importe und Exporte von Waren und Dienstleistungen haben eine grosse Bedeutung.

Doch das BIP ist nicht für Länder wie die Schweiz konzipiert. Sondern für grosse, relativ schwach verflochtene Volkswirtschaften wie etwa die USA.

Hier tut das BIP einen guten Dienst: Es erfasst den Wert aller in einem Jahr produzierten und konsumierten Güter – zuzüglich der Exporte (die nur in den USA produziert, aber nicht dort konsumiert werden) und abzüglich der Importe (die nicht in den USA produziert werden, aber dort konsumiert). Bei den Exporten und den Importen tun die Statistiker der Einfachheit halber einfach so, als würde es sich dabei um gewöhnliche Güter handeln: Sie erfassen sie getrennt und berechnen ihren Wert anhand separater Preise.

Diese Methode ergibt grundsätzlich Sinn. Anhand der Preisveränderungen der Güter lässt sich nämlich auch ableiten, wie stark die Produktion von einem Jahr zum nächsten Jahr gewachsen ist – also um wie viele Kartoffeln, Autos, Kinobesuche oder Zugreisen die Wirtschaftsleistung gestiegen ist.

Doch in einem bestimmten Fall führt diese Methode zu kontraintuitiven Ergebnissen: Nämlich dann, wenn ein Land im Lauf der Zeit immer bessere Handelsbedingungen vergegenwärtigt – wenn also die Exporte des Landes immer hochpreisiger werden, sodass mit den Exporten immer mehr Importe finanziert werden können. So, wie es in der Schweiz passiert ist, deren sogenannte Terms of Trade sich über die Jahre hinweg verbessert haben.

Paradoxerweise hat sich dies in der BIP-Statistik negativ ausgewirkt. Es schien, als sei die Wirtschaftsleistung weniger stark gewachsen – weil mehr Mengen an Gütern importiert wurden (die Importe fliessen ja negativ ins BIP ein). Das allerdings wird der Wirklichkeit nicht ganz gerecht. Denn eigentlich fand eine positive Entwicklung statt: Die Schweiz wurde produktiver, sie konnte für ihre Exporte am Weltmarkt höhere Preise durchsetzen und damit grössere Mengen an Gütern und Dienstleistungen importieren.

Um diesen Effekt zu korrigieren und ein realistischeres Wachstumsmass zu erhalten, wurde vor geraumer Zeit eine andere Grösse entwickelt: das sogenannte Command-BIP, auch bekannt als «Bruttoinlandeinkommen». Das Command-BIP berücksichtigt Veränderungen bei den Terms of Trade, also beim Verhältnis von Export- und Importpreisen: Steigt dieses Verhältnis an, so wächst beim Command-BIP auch der Beitrag, den der Aussenhandel zur gesamten Wirtschaft beiträgt. Ein Teil des BIP wird also um einen Faktor korrigiert, der die Terms-of-Trade-Gewinne der Volkswirtschaft beschreibt.

Das Command-BIP pro Kopf der Schweiz wuchs in den letzten 26 Jahren schneller als das normale BIP. Je nachdem, aus welchen Preisen man die Terms-of-Trade-Veränderungen ableitet (mehr dazu gleich), ergibt sich eine mittlere Wachstumsrate, die zwischen 0,2 und 0,55 Prozent über jener des normalen BIPs pro Kopf liegt. Insgesamt hat das Command-BIP pro Kopf rund 6 bis 18 Prozent stärker zugenommen als das normale BIP pro Kopf. Dies geht aus eigenen Berechnungen hervor, basierend auf diversen Quellen.

Wachstum wird nach oben korrigiert

BIP pro Kopf und Command-BIP pro Kopf, berechnet anhand von verschiedenen Terms-of-Trade-Indikatoren

Achse gekürzt1990199920072016119,6 BIP125,5 C-BIP (OECD)130,7 C-BIP (CS)137,7 C-BIP (KOF)100110120130

Quelle: BFS, Seco, CS, OECD, eigene Berechnungen. C-BIP = Command-BIP

Die Daten

Die beiden Grafiken mit mehreren Ländern basieren auf der Datenbank des Maddison Project. Diese ist als Excel verfügbar. Die mittlere Grafik basiert auf einer Zeitreihe zum Bruttoinlandprodukt pro Kopf des Bundesamts für Statistik, auf Angaben der OECD zum Aussenhandelsanteil sowie auf Zeitreihen zu den Terms of Trade aus diversen Quellen (der Konjunkturforschungsstelle KOF, der OECD sowie der CS), die von der Credit Suisse zusammengestellt wurden.

Ökonomie ist keine exakte Wissenschaft – und ebenso wie das BIP nicht der Weisheit letzter Schluss ist, gibt es auch zur Berechnung des Command-BIP unterschiedliche Methoden, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Der Unterschied in der obigen Grafik liegt im Zahlen-Ausgangsmaterial: Die blauen Kurven basieren auf verschiedenen Statistiken zu den Terms of Trade.

  • Eine davon stammt von der Konjunkturforschungsstelle KOF. Sie basiert wiederum auf den Preisdaten der Eidgenössischen Zollverwaltung zur Warenein- und -ausfuhr. Gemäss dieser Statistik verzeichnete die Schweiz in den letzten Jahren sehr hohe Terms-of-Trade-Gewinne. Entsprechend stark ist das Command-BIP gewachsen, das sich daraus berechnen lässt.

  • Eine weitere Statistik stammt von der OECD. Die Terms of Trade werden darin etwas vage definiert als «Verhältnis zwischen dem Exportpreis-Index und dem Importpreis-Index» des Handels in Gütern und Dienstleistungen. Diese Statistik zeigt zuletzt nur schwache Terms-of-Trade-Gewinne für die Schweiz an.

  • Eine dritte Statistik stammt von der Credit Suisse und basiert auf Preisdaten aus der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung des Bundesamts für Statistik und des Seco zum Waren- und Dienstleistungshandel (ohne Gold und Wertsachen). Sie verläuft in der Mitte der beiden anderen Statistiken.

Welche Statistik die beste ist, lässt sich nicht abschliessend sagen. Klar ist: Je mehr Warenhandel in der Berechnung des Command-BIPs steckt, desto höher fällt das Wachstum aus. Das zeigt sich speziell seit der Finanzkrise.

In dieser Zeit hat der Franken international an Wert gewonnen. Mit der Aufwertung haben sich auch die Terms of Trade der Schweiz verbessert: Der Warenimport ist beispielsweise für Detailhändler günstiger geworden. Andererseits vermochte etwa die Pharmaindustrie ihre Preise im Ausland trotz starkem Franken hochzuhalten. Das hat für Mehreinnahmen gesorgt.

Soll man solche handelsbedingten Mehreinnahmen wirklich als Wachstumsgewinn verbuchen – und damit auf dieselbe Stufe stellen wie das Wachstum, das etwa durch technischen Fortschritt bei Unternehmen innerhalb der Schweiz zustande kommt? Der ehemalige Chefökonom der SNB, Ulrich Kohli, schrieb dazu 2002 ein Papier. Darin beschreibt er den internationalen Handel als Aktivität, die einige Anstrengung erfordert:

«Importeure und Exporteure müssen auf der Suche nach neuen Möglichkeiten laufend die Marktentwicklung verfolgen. Unternehmungen müssen sich immer wieder neu positionieren, um von ihren komparativen Vorteilen zu profitieren und neue komparative Vorteile zu erkennen und zu entwickeln. Dasselbe gilt für den technischen Fortschritt, der selbst erarbeitet wird, zufällig entsteht oder auch aus dem Ausland importiert wird. Es gibt damit keinen Grund, diese beiden Arten von Anstrengungen unterschiedlich zu behandeln.»

Ulrich Kohli (2002)

Kohli schrieb in der besagten Arbeit, dass das BIP in der Schweiz wegen des internationalen Handels in den 1980er- und 1990er-Jahren um 0,6 Prozent pro Jahr unterschätzt werde. Auf eine noch grössere Zahl kam der ehemalige Avenir-Suisse-Direktor Gerhard Schwarz vor vier Jahren: Ihm zufolge wurde das hiesige BIP-Wachstum ab 2002 sogar um 1,1 Prozent pro Jahr zu niedrig angegeben. Auf einen etwas niedrigeren Wert kommt der CS-Ökonom Claude Maurer in einer neuen Publikation zum Zeitraum von 1970 bis 2016.

Tatsache ist: Man weiss in der Schweiz um die besagten Effekte. Das Seco besprach sie etwa im Jahr 2002 in einem Kurzbericht, und sporadisch schreiben Ökonomen wie der Fribourger Professor Reiner Eichenberger auch darüber. Trotzdem werden die handelsbedingten Gewinne der Schweizer Volkswirtschaft häufig ignoriert. Man bleibt lieber beim klassischen BIP, auch wenn dieses für die Schweiz systematisch nach unten verzerrt ist.

Was doppelt unverständlich ist – denn es gibt auch noch weitere Grössen, welche die angebliche Wachstumsschwäche der Schweiz relativieren. Oder, um beim Bild zu bleiben: Es existieren neben der Kettensäge und dem Taschenmesser noch weitere Instrumente, um die Raviolibüchse zu öffnen.

Kaufkraftparitäten

Zu diesen zählt das BIP nach Kaufkraftparitäten (KKP). Wir haben es bereits in einem früheren Beitrag kennengelernt. Bei dieser Methode wird das BIP eines Landes mit dem BIP anderer Länder über fiktive Wechselkurse verglichen. Diese sogenannten KKP-Faktoren lassen sich aus dem Wert eines standardisierten Warenkorbs in verschiedenen Ländern berechnen.

Kostet der Warenkorb in Deutschland beispielsweise 100 Euro und in der Schweiz 200 Franken, so liegt die Kaufkraftparität des Schweizer Frankens gegenüber dem Euro in Deutschland bei 2. Ein BIP pro Kopf von 20’000 Franken in der Schweiz wäre damit als gleich hoch einzustufen wie ein BIP pro Kopf von 10’000 Euro in Deutschland.

Mit dem BIP nach Kaufkraftparitäten lässt sich der effektive Lebensstandard, den die Wirtschaftsproduktion in verschiedenen Ländern ermöglicht, miteinander vergleichen. Ähnlich wie beim Command-BIP spielt auch hier der Aussenhandel eine Rolle: Nimmt der reale Wert einer Währung auf dem internationalen Markt zu, so vergünstigen sich die Importe – und es steigen die Konsummöglichkeiten, die mit dem BIP finanziert werden können.

Die Schweiz schneidet auch in dieser Statistik deutlich besser ab als beim gewöhnlichen BIP. Das zeigt sich in einer Grafik, die auf Zahlen des Maddison Project basiert – dieselbe Datenquelle, die auch für die eingangs gezeigte Grafik aus dem «Weissbuch» verwendet wurde (allerdings wurde dort eine andere Zeitreihe daraus abgebildet). Lag die Schweiz dort noch auf Rang 6 von 7, abgeschlagen hinter Frankreich und Grossbritannien, so liegt sie nunmehr auf Rang 3 – nur hinter den Niederlanden und Deutschland.

Schweiz liegt über dem Durchschnitt

BIP pro Kopf nach Kaufkraftparitäten (1990 = 100)

Achse gekürzt1990199920072016174,2 Schweiz187,0 Deutschland159,2 Frankreich163,2 Grossbritannien140,0 Italien195,7 Niederlande143,4 USA100120140160180

Quelle: Maddison (2018)

Die Vorstellung, wonach die Schweiz an einer Wachstumsschwäche leide, relativiert sich damit weiter. Gemessen am BIP nach Kaufkraftparitäten waren die Wohlstands- und Produktivitätsgewinne in den letzten 26 Jahren sogar überdurchschnittlich. Der anfängliche Rückstand, den sich die hiesige Wirtschaft in der Krise der 1990er-Jahre eingehandelt haben mag, wurde in den zwei Jahrzehnten, die seither vergangen sind, mehr als wettgemacht.

Ebenso wie das BIP oder das Command-BIP ist allerdings auch das BIP nach Kaufkraftparitäten kein perfekter Indikator für die Wirtschaftsleistung. Sein Vorteil ist: Es reagiert weniger empfindlich auf Wechselkursschwankungen und ist weniger stark von der Methode abhängig, nach der die Import- und Exportpreise gemessen werden. Der Nachteil ist: Es setzt voraus, dass in zwei Ländern dieselben Warenkörbe konsumiert werden, was unrealistisch ist.

Ausserdem muss das BIP nach Kaufkraftparitäten an einen bestimmten Anker gebunden werden. Bei der Maddison-Datenbank sind dies die USA: Es ist das einzige Land, dessen Zeitreihen zum realen BIP pro Kopf (Grafik oben) und zum BIP pro Kopf nach Kaufkraftparitäten (Grafik unten) identisch sind.

Fazit

Verwenden Sie das BIP nach Kaufkraftparitäten also vorzugsweise, um relative Aussagen zu machen: Land A wuchs im Zeitraum X bis Y schneller als Land B. Verwenden Sie es aber nicht, um absolute Aussagen zu den Wachstumsraten zu machen, sonst liegen Sie ziemlich sicher daneben.

Verwenden Sie dafür stattdessen das Command-BIP. Am besten dann, wenn es um Wachstumsraten über die lange Frist geht. Für die kurze Frist, etwa um den Konjunkturverlauf von einem Jahr zum nächsten Jahr zu analysieren, bleiben Sie besser beim gewöhnlichen BIP – aber eigentlich auch nur dann.

Und vermeiden Sie überhaupt, anhand einer einzigen BIP-Grösse Aussagen über ganze Volkswirtschaften zu machen. Für ein gutes Menü reicht es schliesslich auch nicht aus, nur eine Büchse Ravioli fachmännisch zu öffnen.

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