Die Normalisierung der Schweizer Geldpolitik
Wann hebt die Nationalbank die Zinsen an? Und was passiert dann mit ihrer Bilanz? Wird die SNB bald Euros verkaufen? Dritter und letzter Teil der Serie zur Schweizer Geldpolitik.
Von Simon Schmid, 14.05.2018
Wir starten mit einer kleinen Warnung – vor dem Begriff: «Normalisierung».
Wirtschaftsexperten benutzen ihn gern, wenn sie über das Ende der sogenannt unkonventionellen Geldpolitik der letzten Jahre reden. Sie gehen dabei stillschweigend davon aus, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis bei den Notenbanken alles wieder so funktioniert wie vor der Finanzkrise (und damit so, wie wir es im Beitrag vor einer Woche beschrieben haben).
Doch diese Idee ist trügerisch. Wird die neue Normalität wirklich aussehen wie die alte Normalität? Und überhaupt: Wer weiss schon, was normal ist?
Damit zum Thema.
Was die Notenbanken im Schilde führen
Und zu einem kurzen Abriss der Lage, in der die wichtigsten Notenbanken derzeit stecken.
In den USA hat das Federal Reserve schon vor einiger Zeit erklärt, wie es seine Geldpolitik künftig führen wolle. Im Zuge der Normalisierung, hielt die amerikanische Notenbank 2014 fest, würde sie
die Leitzinsen, die zuvor während fünf Jahren praktisch bei null gelegen waren, schrittweise wieder auf «normalere Werte» anheben (aktuell liegt der Zielbereich bei 1,5 bis 1,75 Prozent);
ihre Bilanz, die seit der Finanzkrise von rund 0,9 auf 4,5 Billionen Dollar angewachsen ist, langsam wieder schrumpfen (der Zenit wurde vor drei Jahren erreicht, heute ist die Bilanz minimal kleiner).
In Europa hat die sogenannte Normalisierung noch nicht begonnen. Aus Sicht der Europäischen Zentralbank (EZB) präsentiert sich die Lage etwa so:
Die Bilanz (die inzwischen auf über 4,5 Billionen Euro angewachsen ist) wird mittels Wertpapierkäufen weiterhin ausgeweitet, möglicherweise laufen diese Käufe gegen Ende 2018 oder Anfang 2019 aus.
Die Leitzinsen (die aktuell bei –0,4 Prozent liegen) dürften dann einige Monate nach dem Ende der Wertpapierkäufe angehoben werden, also möglicherweise im Verlauf des Jahres 2019.
In der Schweiz hält sich die Schweizerische Nationalbank bedeckt. Alle Aufmerksamkeit bleibt vorerst auf dem Wechselkurs des Frankens.
Dieser soll mittels Negativzinsen ( –0,75 Prozent) und Interventionen am Devisenmarkt einigermassen stabil gehalten werden.
Ein weiteres Wachstum der Bilanz (aktuelle Grösse: gut 800 Milliarden Franken) wird nicht angestrebt, aber in Kauf genommen.
Der Kurzüberblick zeigt, dass die Geldpolitik in der Schweiz relativ wenig vorausgespurt ist, gerade wenn man sie mit jener in den USA vergleicht.
Ein Grund mehr, sich ein paar Gedanken zu machen: Wie geht es weiter mit der Bilanz der SNB? Und mit den Zinsen in der Schweiz?
Was mit der SNB-Bilanz passiert I
Beginnen wir mit der Bilanz. Und mit einem wichtigen Unterschied zwischen der SNB und den anderen Notenbanken:
Das Fed und die EZB nutzen ihre Bilanz für eine aktive Steuerung der Geldpolitik. Ihre quantitativen Lockerungsprogramme beinhalteten monatlich fixe Ausgaben für Wertpapierkäufe. Der Ausstieg aus diesen Programmen wird nach einem ähnlichen Prinzip ablaufen: Fed und EZB werden aktiv bestimmte Zielwerte bei der Bilanzgrösse ansteuern.
Die SNB setzt ihre Bilanz dagegen passiv ein. Sie hat mit Wertpapierkäufen kein Ziel in sich verfolgt, sondern diese Käufe einem anderen Ziel untergeordnet: dem Wechselkurs. Er gab den Ausschlag darüber, wie stark die Bilanz der Nationalbank wuchs. Anders als Fed und EZB hat die SNB auch keine inländischen, sondern nur ausländische Wertpapiere gekauft.
Um zu verstehen, was mit der Bilanz der SNB passieren wird, müssen wir also auf den Devisenmarkt blicken – und auf die Bilanzpläne der grossen Notenbanken, weil diese einen grossen Einfluss auf Wechselkurse haben und so indirekt auch die Bilanzentwicklung bei der SNB mitbestimmen werden.
Was werden Fed und EZB also mit ihren Bilanzen anstellen? Werden sie diese bald wieder auf das Vorkrisenniveau zurückfahren?
Zu dieser Frage gibt es theoretische und empirische Überlegungen. Sie laufen mehr oder weniger in dieselbe Richtung.
Die Theorie fasst der Ökonom Charles Goodhart in einem kurzen Papier über die «optimale Grösse» von Notenbankbilanzen folgendermassen zusammen: Man könne nicht mit Sicherheit sagen, wo diese optimale Grösse liege, aber Notenbanken sollten «wahrscheinlich» versuchen, langfristig wieder zum Status quo von vor der Krise zurückzukehren. Sie sollten also mit kleinen Bilanzen operieren, meint Goodhart. Allerdings werde es «vermutlich Jahrzehnte» dauern, bis sie wieder an diesem Punkt stünden.
Auf die Empirie gehen Niall Ferguson, Andreas Schaab und Moritz Schularick in einem etwas ausführlicheren, aber sehr anschaulichen Papier zur hundertjährigen Geschichte der Notenbankbilanzen ein. Ihr Fazit: Notenbanken haben ihre Bilanzen nach einer Ausweitung (wie etwa während des Zweiten Weltkriegs, siehe unseren Beitrag vor drei Wochen) nur selten über rasche Wertpapierverkäufe reduziert. Sondern über das Wirtschaftswachstum: Relativ zum BIP reduzierten sich so die Bilanzen, selbst wenn die Notenbanken nichts dafür unternehmen.
Die Vermutung liegt also nahe, dass es sich bei der «Normalisierung» der Geldpolitik um einen eher langwierigen Prozess handeln wird.
Ob die Nationalbank in den nächsten Jahren ihre Bilanz verkleinern kann (indem sie Euro- oder Dollaranlagen verkauft), ist vor diesem Hintergrund alles andere als klar. Die naheliegendste Hypothese wäre: Falls der Franken einigermassen stark bleibt, wird die SNB kaum dazukommen, im grossen Stil ihre Währungsreserven abzubauen – und so ihre Bilanz zu schrumpfen.
Dieses Szenario würde auch zur Geschichte passen. Seit die Nationalbank gegründet wurde, hat ihre Bilanz fast jedes Jahr an Grösse zugelegt. Eine Grafik, welche die Jahreswachstumsraten seit 1908 abbildet, zeigt die Asymmetrie auf: Auf Phasen hohen Wachstums (wie etwa während des Ersten Weltkriegs) folgten selten hohe Schrumpfungsraten.
Die Bilanz zu schrumpfen, wird bei der SNB in den nächsten Jahren kaum erste Priorität haben – so schätzen es auch drei Ökonomen von Schweizer Banken ein, mit denen wir gesprochen haben: Daniel Kalt von der UBS, Thomas Stucki von der St. Galler Kantonalbank und Nikolay Markov von Pictet Asset Management.
Dies nicht zuletzt weil es für eine Schrumpfung nicht wirklich einen zwingenden Anlass gibt. Eine grosse Bilanz ist für eine Notenbank per se kein Problem. Viele ausländische Wertpapiere in den Büchern zu haben, kann für die Nationalbank zwar politisch zum Thema werden, falls sich grössere Schwankungen beim Jahresgewinn ergeben. Doch diese Gewinne sind ökonomisch irrelevant, solange die Volkswirtschaft selbst gesund ist.
Zumal sie – der Theorie nach – im langfristigen Mittel stets positiv bleiben müssten: Notenbanken verzeichnen auf der Aktivseite ihrer Bilanz (also mit ihren Wertpapieranlagen) in der Regel höhere Einnahmen, als sie Ausgaben auf der Passivseite (also bei den Giroguthaben der Banken) tätigen müssen. Diese Regel gilt nicht nur bei negativen, sondern auch bei positiven Zinsen.
Womit wir beim nächsten Punkt angelangt sind.
Was mit den Zinsen passiert
Auf dem Papier ist die Schweizerische Nationalbank völlig unabhängig: Sie fällt ihre Zinsentscheide nach eigenem Ermessen. In der Praxis werden diese Entscheide allerdings stark vom äusseren Umfeld beeinflusst. Weil die Schweizer Wirtschaft stark mit der Welt verflochten ist, muss die SNB bei ihrer Politik darauf Rücksicht nehmen, was die anderen Notenbanken tun.
Eine wichtige Notenbank ist die EZB. Ihre Politik bestimmt den Kurs der SNB entscheidend mit. Man erkennt dies an der Zinsentwicklung im Franken- und im Euroraum: Seit der Jahrtausendwende haben die Leitzinsen in der Schweiz (also die Zinsen auf dreimonatige, unbesicherte Kredite in Franken) die Bewegungen im Euroraum stets mitgemacht – mit einem gewissen Höflichkeitsabstand nach unten, damit der Franken nicht zu stark wurde.
Alle Daten in diesem Beitrag stammen von der Nationalbank. Auf deren Datenportal finden sich Angaben zu den Zinssätzen und zu den Bilanzpositionen. Die historischen Zeitreihen von 1907 bis 2006 sind gesondert verfügbar.
Die Europäische Zentralbank dürfte (wenn mit der Konjunktur im Euroraum nicht nochmals ein Unfall passiert) nach Ansicht vieler Beobachter in rund einem Jahr beginnen, ihre Leitzinsen behutsam wieder anzuheben. Dass die SNB bereits vorher eine Zinserhöhung beschliesst, gilt praktisch als ausgeschlossen. Die Nationalbank würde damit signalisieren, dass sie in den kommenden Jahren einen aggressiven Kurs fahren wird – was Spekulanten dazu provozieren würde, erneut auf einen starken Franken zu wetten.
Das wahrscheinlichere Szenario ist, dass die SNB brav hinter der EZB herzotteln wird – und die Leitzinsen in der Schweiz erst dann anhebt, wenn dies in Europa bereits geschehen ist. Die Nationalbank würde dazu erst die Negativzinsen schrittweise abschwächen, die sie seit 2015 auf den Girokonten der Banken einzieht: von –0,75 auf –0,5 und –0,25 Prozent. Dann würden die Negativzinsen ganz abgeschafft. Und dann – so etwa 2020 oder 2021, falls alles rund läuft – wären die Leitzinsen in der Schweiz erstmals wieder positiv.
Und so käme es in absehbarer Zukunft zu einem erneuten Moduswechsel in der Geldpolitik, den wir uns nun genauer anschauen.
Was mit der SNB-Bilanz passiert II
Das Schöne an diesem Modus ist: Man kann in die Vergangenheit blicken, um ihn zumindest in Umrissen zu erkennen.
Und zwar im Zeitraum zwischen Mai 2010 und Juli 2011. Damals probte die Nationalbank bereits einmal so etwas wie eine Normalisierung – bevor sie die Übung abbrach und wieder auf Expansion umschwenkte.
Die besagte Periode mutet im Rückblick etwas merkwürdig an. Gerade noch war die Finanzkrise mit einem konzertierten Kraftakt überwunden worden; die Weltwirtschaft hatte aus ihrem Tief gefunden, und es war nicht zur grossen Depression gekommen, so wie es viele Ökonomen befürchtet hatten.
Gleichzeitig ahnten in diesem Moment noch die wenigsten Beobachter, wie einschneidend die Eurokrise am Ende sein würde. Die Eurokrise bahnte sich in Ländern wie Griechenland, Irland und Portugal gerade erst an.
Jedenfalls befürchtete die SNB damals, auf den Girokonten der Schweizer Banken würden zu viele überschüssige Franken lagern. Sie machte sich im Frühjahr 2010 deshalb auf, die Liquidität aus dem System abzusaugen. Man erkennt dies an den blauen Balken in der Grafik (es ist dieselbe Grafik der SNB-Bilanz wie vor einer Woche): Sie stellen Finanzinstrumente dar, in welche die Schweizer Banken ihr überschüssiges Geld investieren konnten.
Wir haben diese Finanzinstrumente vor einer Woche bereits kennen gelernt:
SNB-Bills: Das sind Obligationen, welche die Nationalbank herausgibt. Sie tritt dabei als Kreditnehmer auf. Dieses Instrument ist gewissermassen der Staubsauger: Damit sammelte die Nationalbank vor acht Jahren über hundert Milliarden Franken ein. Anleger und Banken, die bereit waren, für einen gewissen Zeitraum auf ihre Franken zu verzichten, investierten in diese Obligationen. Das führte dazu, dass sich die Giroguthaben der Banken in der SNB-Bilanz verringerten. Im Gegenzug dazu tauchten nun SNB-Bills in gleicher Höhe in der Bilanz auf.
Reverse Repos: Das sind umgekehrte Repo-Geschäfte – also Kredite, welche die Nationalbank auf dem Markt aufnimmt. Vom Prinzip her funktionieren diese Kredite ähnlich wie SNB-Bills, allerdings laufen sie während kürzerer Fristen und verlangen zusätzlich ein Pfand. Reverse Repos sind, um beim Bild zu bleiben, das Röhrchen: Sie dienen nicht zum Abschöpfen grosser Liquiditätsmengen, sondern zur Feinsteuerung der Zinsen. Als die SNB letztmals Reverse Repos einsetzte, ging es um rund 25 Milliarden Franken.
Die Chance ist gross, dass diese beiden Instrumente erneut zum Einsatz kommen, wenn die SNB die Zinsen dereinst wieder über null hebt.
Denn: Ohne den Einsatz solcher Instrumente wäre die SNB gar nicht in der Lage, die Zinsen über null zu heben. Auf den Girokonten der Banken lagern aktuell hunderte von Milliarden an «nutzlosem» und damit auch kostenlosem Geld – die dunkelgrünen Balken in der Grafik. Erst wenn grosse Teile davon anderweitig investiert sind (also etwa in SNB-Bills stecken), kann der Preis des verbleibenden Geldes – und damit der Zins, der am Markt für Frankenausleihungen verlangt wird – wieder über null steigen.
Dies zu bewerkstelligen (also: die Girokonten der Banken zu räumen), wird aus Sicht der Nationalbank natürlich nicht gratis sein. Und damit wird auch die grosse Neuerung ersichtlich, die sich in der Geldpolitik in ein paar Jahren abzeichnet: Die SNB wird auf der Passivseite der Bilanz keinen Zins mehr erhalten, so wie heute, sondern sie wird dort einen Zins bezahlen.
Das Fed macht das übrigens bereits heute: Es bezahlt Banken einen Zins auf deren Girokonten («interest on excess reserves»). Die SNB dürfte die Sache technisch etwas anders umsetzen, aber im Prinzip wäre es eine ähnliche Operation. Die entscheidende Eigenschaft dieser Operation wäre, dass sie nur den Finanzmarkt innerhalb des Frankenraumes tangiert. Würde die SNB die Giroguthaben der Banken auf andere Weise leer räumen (nämlich indem sie die dortigen Franken mit ihren Euro- und Dollarpapieren zurückkauft), würde dies erneute Verwerfungen beim Franken-Wechselkurs provozieren.
Wie diese Bilanzoperationen bei der Nationalbank zeitlich genau ablaufen könnten, ist heute schwer zu beurteilen. Theoretisch könnte die SNB bereits Bills ausgeben, auch wenn die Negativzinsen noch in Kraft sind. Vermutlich dürfte sie aber damit warten, bis sie die Negativzinsen abgeschafft hat, also bis die Zinsverhältnisse in der Schweiz wirklich wieder «normal» sind.
Oder doch abnormal?
Sollten sich die Ereignisse so abspielen, wäre die Nationalbank auf jeden Fall kommunikativ gefordert. Sie müsste der Öffentlichkeit dann erklären, warum sie als Notenbank einen Zins auf dem Geld zahlen muss, das sie selbst geschaffen hat – was nicht ganz leicht zu vermitteln sein wird.
Auf jeden Fall wären Sie für diese neue «Normalität» nun vorbereitet.
Wird die Normalisierung der Geldpolitik so ablaufen, wie sich Ökonomen dies vorstellen? Oder funkt die nächste Krise den Notenbanken wieder dazwischen? Diskutieren Sie im Forum der Rubrik «Auf lange Sicht»: Hier geht es zur Debatte.