Der Whistleblower
Der Whistleblower
Ein Mann ist ausgestiegen: Er hat das Bündner Baukartell auffliegen lassen. Eigentlich will er nur eines erreichen: in Frieden ein ehrenwertes Leben führen. Doch das erweist sich als unmöglich. Obwohl der Mann ein Kämpfer ist, ist die Zahl seiner Feinde zu gross. Und sie sind mächtig. Das Kartell, Teil II.
Von Gion-Mattias Durband, Anja Conzett, Ariel Hauptmeier (Text) und Yves Bachmann (Bilder), 25.04.2018
Lange Zeit hat der Baumeister Adam Quadroni aus Ramosch im Engadin mitgemacht beim Graubündner Baukartell. 2006 steigt er aus. Geschäftlich nützt ihm das zunächst durchaus. Doch hinter den Kulissen schwärzen ihn die anderen Baumeister an, wo sie können. Sogar Morddrohungen erhält er. Auch von den Behörden sieht er sich zusehends drangsaliert.
Donnerstag, 15. Juni 2017, früher Abend
Fast zwei Stunden dauert die Fahrt von Scuol nach Chur. Adam Quadroni hat diesen Weg Hunderte Male zurückgelegt, er kennt jede Kurve. Nun sitzt er in einem Polizeiwagen, die Hände gefesselt, auf den Augen eine geschwärzte Skibrille.
Mehrmals bittet er, dass man ihm die Hände vor der Brust fessle. Aber erst nach dem Vereina-Tunnel, nach einer guten Stunde, wird sein Wunsch erfüllt. Später bittet er, dass das Fenster einen Spalt weit geöffnet wird. Dem Wunsch wird stattgegeben. So erinnert er es.
Als sie in der Waldhausklinik der Psychiatrischen Dienste Graubündens ankommen, nimmt man ihm die Brille ab; gerade geht die Sonne unter. Man bringt ihn in einen leeren Raum, in dem nur ein Gummikubus als Tisch, ein Gummikubus als Stuhl, ein Gummikubus als Bett steht. Eine Gummizelle.
Zwei Ärztinnen treten herein und beginnen mit der Untersuchung. Sie stellen einfache Fragen. «Wissen Sie, welchen Tag wir haben? Welches Jahr? Wie alt sind Sie?» Adam Quadroni antwortet so ruhig wie möglich. Er protestiert nicht und zetert nicht, bemüht sich, die Fassung zu wahren. Aber es trifft ihn schwer, sich hier wiederzufinden. Er sagt, dass «die Klinikeinweisung auf Initiative der Ehefrau geschehen sei, da diese die Kinder für sich haben wolle». So steht es im Untersuchungsbericht.
Das Kartell
Die vierteilige Serie erzählt die Geschichte von Adam Quadroni, der in Graubünden den grössten Bauskandal der Schweiz aufdeckt – und dafür fertiggemacht wird.
Nach einer halben Stunde, so erinnert es Quadroni, blicken sich die Ärztinnen vielsagend an. Um Gottes Willen, habe eine von ihnen gesagt. Sie fragen ihn, ob er Durst oder Hunger habe. Er verneint. Sie sagen, er könne sich frei bewegen, am nächsten Morgen bekomme er ein reguläres Zimmer. Sie entschuldigen sich, dass er in der Gummizelle übernachten muss, ohne Dusche. Noch immer trägt er die vom Polizeieinsatz zerrissenen Kleider.
Eingeliefert wurde er mit einem «Verdacht auf akute Suizidalität, Hinweisen auf geplanten erweiterten Suizid sowie häusliche Gewalt».
Mit anderen Worten: Irgendjemand unterstellt ihm, er könne sich umbringen und andere mit in den Tod reissen. Aber das erfährt er erst viel später.
Nachts, auf der Gummipritsche, kann er nicht schlafen. In einem fort denkt er an seine Kinder. Was man ihnen wohl erzählt, wo er jetzt sei? Wer liest ihnen jetzt die Gutenachtgeschichte vor? Es ist noch immer der 15. Juni 2017. Donnerstag.
Die Pleite
Im Sommer 2013 meldet Adam Quadroni Konkurs an. Er hat verloren. Das Kartell – gegen das nun die Wettbewerbskommission ermittelt – war stärker. Es gibt einen zweiten Grund: Jahre zuvor hat er einen Treuhänder angestellt. Heute ist er überzeugt, dass der ihn systematisch hintertrieben habe. Wohl, um die Firma eines Tages günstig zu übernehmen. Doch lieber lässt er die Firma pleitegehen, als sie ihm zu überlassen.
Daheim wird das Geld knapp. Die Ausflüge in die Oper, die Shoppingtouren ins Ausland sind nicht mehr drin. Seine Ehe gerät ins Rutschen. Immer häufiger streiten sich seine Frau und er nun, und oft geht es dabei ums Geld. Sie zieht aus dem gemeinsamen Schlafzimmer aus. Nur eine Sache hält sie und ihren Mann noch zusammen, macht sie sogar von Zeit zu Zeit gemeinsam glücklich: die drei Mädchen.
Es gibt einen neuen Bezirksrichter, er heisst Orlando Zegg. Er ist der Nachfolger von Georg Buchli – und zuständig für das Konkursverfahren. Quadroni schickt ihm Akten, besucht ihn, mehrfach führen sie ruhige, konstruktive Gespräche. Quadroni fasst Vertrauen. Erzählt ihm vom Kartell, von den Morddrohungen, von seinen Schuldgefühlen gegenüber seiner Frau. Sie kommen aufs Private: Quadroni erzählt ihm, er habe eine Lebensversicherung abgeschlossen über 1 Million Franken. Damit seine Familie im Fall der Fälle keine Not leiden müsse. Richter Zegg bittet ihn, all das in einer E-Mail festzuhalten.
Am 20. Mai 2015 schreibt ihm Quadroni diese E-Mail. Erklärt Richter Orlando Zegg, welche finanziellen Sicherheiten er habe, wie er seine Schulden begleichen wolle, und fügt einen folgenschweren letzten Absatz hinzu:
«Sehr geehrter Herr Zegg, ich habe Ihnen auch mitgeteilt, dass ich eine Risiko-Lebensversicherung von 1 Million Franken habe, die bei Todesfall an meine Familie ausbezahlt wird. Ich werde nicht zulassen, dass meine Familie wegen mir zu leiden hat. Ich bin mir im Klaren, das alles passiert wegen mir, aber ich werde meiner Familie dies nicht zumuten. Wissen Sie, Herr Zegg, mein Leben ist schon seit dieser Weko-Untersuchung nicht mehr lebenswert. Mit dieser Million ist alles erledigt.»
Eine Woche später schickt Richter Orlando Zegg ein Fax an Bezirksarzt Dr. Büsing. Er schreibt: «Wie soeben telefonisch erläutert, hat Herr Adam Quadroni in einem an das Bezirksgericht Inn gerichteten E-Mail vom 20. Mai 2015 konkrete Suizidabsichten geäussert.»
Er bittet darum, «entsprechende Massnahmen in die Wege zu leiten». Und verweist auf das Amtsgeheimnis.
Richter Zegg äussert sich auf Anfrage nicht zu dem Vorgang und verweist auf laufende Verfahren.
Adam Quadroni weiss nicht, warum ihn Dr. Büsing einige Tage später besucht. Und überraschend untersucht. Erst viele Jahre später erfährt er vom Verdacht, er sei in Gefahr, Selbstmord zu begehen. Ein Verdacht, den Dr. Büsing bei dieser Untersuchung nicht erkennt. Und der auch bei keiner künftigen Untersuchung je zutage tritt. Doch der Verdacht ist nun aktenkundig.
Und er bleibt hängen.
Freitag, 16. Juni 2017, 10 Uhr
Am nächsten Morgen wird er zur Visite in ein Untersuchungszimmer geführt, zu zwei Psychiatern, sie stellen sich vor als Dr. Müller und Dr. Baumann. Sie wirken freundlich, neugierig, leicht irritiert. Nach kurzer Zeit sagt Dr. Müller, so erinnert es Quadroni: «Entschuldigung, Sie gehören nicht hierher.» Er weist an, die Verletzungen aufzunehmen, und diagnostiziert eine «Anpassungsstörung F43.2», eine «Reaktion auf starke Belastungssituationen». Beide Ärzte erkennen keine Selbstmordabsichten. Trotzdem, erklären sie ihm, müssten sie ihn bis Montag dabehalten. Das ist Vorschrift.
Tagsüber plaudert er mit den Pflegern. Einer muss immer wieder lachen, wenn er Quadroni sieht – er soll derjenige sein, den das Sonderkommando so kriegsmässig eingeliefert hat?
Am Freitagnachmittag kommt die Schwester zu Besuch. Sie gehen im Wald spazieren und trinken Kaffee in der Cafeteria. Sie sprechen nicht viel. Quadroni hat nur eine Frage: Wie geht es den Kindern? Sie weiss es nicht. Nur die Mittlere habe sie kurz gesehen, zufällig, auf der Strasse. Die Schwester vermutet, dass die Mutter die Kinder im Haus behält und ihnen den Kontakt zu Papas Schwester verbietet.
Sie lässt ihm ein Handy da. Er ruft die Kinder an, doch ihre Telefone sind ausgeschaltet. Bei seiner Frau klingelt das Handy nur durch. Sie nimmt nicht ab.
In der Nacht schreit und tobt eine Frau. Stundenlang rüttelt sie an der Türklinke.
Am nächsten Tag vertreibt er sich die Zeit mit Lesen. Er reisst sich zusammen, keine Texte in Sütterlinschrift zu schreiben – obwohl ihn das immer beruhigt hat. Aber er fürchtet, das werfe ein schlechtes Licht auf ihn.
Am Montagmorgen wird er entlassen. Wieder geht es zuerst zu den beiden Psychiatern. Im abschliessenden Befund werden sie schreiben, Adam Quadroni sei «stets zugänglich, freundlich und angepasst im Kontakt» gewesen. Weder habe er «Sinnestäuschungen und Ich-Störungen», noch habe man «Hinweise für erhöhte Impulsivität, Aggressivität oder Eigengefährdung» entdecken können. Man entlasse ihn in «psychisch stabilem Zustand».
Dennoch, man sollte ihn «im Sinne einer eventuellen Traumatisierung im Auge behalten». Eine Traumatisierung, die der Einsatz des Sonderkommandos hervorgerufen haben könnte.
Einige Monate später wird Co-Chefarzt Axel Baumann gegenüber der «Südostschweiz» sagen, dass er eine solch martialische Einlieferung nur ein anderes Mal erlebt habe. Und dass «derartige Umstände bei der Einweisung ungewöhnlich sind, insbesondere bei einem sich dann adäquat verhaltenden Patienten».
Im Visier der Polizei
Im Mai 2016 stirbt Adam Quadronis Mutter im Alter von 88 Jahren. Sie war seine wichtigste Verbündete in einem Tal, in dem er kaum noch Freunde hat. Sie teilt die Sorgen ihres geliebten Sohnes um das Geschäft, das sie mit ihrem Mann aufgebaut hat. Und sie kennt das Engadin. Das Gerede der Leute, das in diesem engmaschigen Tal so verheerend sein kann.
Er pflegt sie zu Hause, bis sie stirbt. In ihren letzten Stunden ist er bei ihr, seine Hände und ihre zusammengebunden mit einem Tuch auf ihrer Brust. Nach ihrem Tod verfällt er in tiefe Trauer und schreibt stundenlang in Sütterlin schwermütige Gebete ab. Man wird ihm das später zum Vorwurf machen. Das sei ein weiterer Beleg für seine Selbstmordgedanken.
Es ist ein schwieriges Jahr für Adam Quadroni, dieses 2016. Der Verlust der Mutter, die Ehe erkaltet, die Firma ruiniert. Da erhält er am Montag, 19. Dezember 2016, gegen 9 Uhr einen Anruf: Tinet Schmidt ist dran, Chef des Polizeipostens in Scuol. Er solle mal kurz rüberkommen. Man müsse da etwas klären. Nein, am Telefon gehe das nicht, es dauere auch nicht lange. Quadroni macht sich auf den Weg.
Als er auf dem Posten erscheint, wird er in Schmidts Büro gebracht. Man kennt sich, mag sich aber nicht besonders. Von seiner Schwester hat Quadroni erfahren, dass Schmidt herumtelefoniert hat, um sich zu erkundigen, ob er Waffen habe. Auch bei ihr habe er angerufen und nachgefragt.
Darauf die Schwester zu Schmidt: Was soll das, lasst ihn doch endlich in Ruhe.
Schmidt: Wer in die Ecke gedrängt wird, kommt irgendwann raus, das weiss ich aus Erfahrung.
Er meint – wer so unter Druck steht wie Adam Quadroni, der schlägt irgendwann um sich.
Schmidt empfängt ihn in seinem Büro. Quadroni erinnert sich folgendermassen an das Gespräch:
«Es geht um Waffen, die du zu Hause hast», eröffnet ihm Schmidt.
«Ich habe keine Waffen.»
«Aber der Vater.»
«Ja, der hatte Waffen.»
Schmidt sagt, er habe das bereits mit dem Polizeikommissariat in Chur geklärt: Er werde diese Waffen jetzt registrieren. Dann sei alles in Ordnung.
Quadroni ruft seinen Anwalt an. Der rät ihm: Mach mit. Und so erklärt Quadroni dem Polizeichef, welche Waffen sich wo im Elternhaus befänden.
«Wir fahren jetzt hin und holen die Waffen ab», sagt Schmidt.
«Moment», protestiert Quadroni, «du hast mir gesagt, dass du das nicht machen wirst.»
«Das spielt jetzt keine Rolle. Wenn du kooperierst, komme nur ich mit rein und hole sie.»
In einem Polizeiwagen bringt man ihn zu sich nach Hause. Dort stehen zwei weitere Polizisten vor dem Haus. Schmidt erklärt ihm, dass sie das Haus jetzt durchsuchen würden.
Wieder protestiert Quadroni: «Du hast mir versprochen, dass nur du mit reinkommst!»
«Nein, wir gehen jetzt alle rein.»
«Habt ihr einen Durchsuchungsbefehl?»
«Den bekommst du später.» Er wird ihn nie sehen.
Quadronis Haus ist zweigeteilt. Im Eingangsbereich führt links eine Tür in das Haus seiner Eltern, seit dem Tod der Mutter steht es leer. Er zeigt ihnen den Waffenschrank, die Beamten räumen ihn aus und schreiben ein Protokoll: sieben Gewehre, ein Revolver, Munition und eine Schreckschusspistole. Bis zu siebzig Jahre alt sind die Waffen, sogar ein Vorderlader ist dabei. Ein Teil der Munition stammt aus dem Zweiten Weltkrieg.
«Und was ist mit diesen hier?», fragt Quadroni und zeigt auf zwei betagte Gewehre, die über dem Cheminée hängen. Nein, die wollen wir nicht, sagen die Polizisten.
Quadroni hat keine Waffen, er ist kein Jäger, er mag Schiessen nicht, das alles hat er Schmidt erklärt. Trotzdem wird nun auch sein eigenes Haus durchsucht. Die Polizisten streifen sich Latexhandschuhe über und durchkämmen Räume. Auch die Kinderzimmer. Schauen auch dort unter den Matratzen nach, in Schränken und Schubladen.
Quadroni kann es nicht fassen. «Wenn ich Waffen verstecken würde, dann doch sicher nicht unter den Betten der Kinder!»
Später sieht er durchs Fenster, wie seine Frau auf dem Hof mit Polizeichef Schmidt spricht. Kurz darauf zieht das Kommando ab. Es ist gegen elf Uhr. Bald kommen die Kinder aus der Schule. Beim Mittagessen sagt seine Frau grimmig: «Jetzt holst du uns auch noch die Polizei ins Haus.» Es sei gut, dass man ihm die Waffen abgenommen habe. Quadroni wird das Gefühl nicht los, sie wolle ihn vor den Kindern schlechtmachen.
Nachmittags kommen noch einmal zwei Beamte vorbei und fordern ihn in rüdem Ton auf, einen Zahlungsbefehl zu unterzeichnen. Es geht um die Kosten der Untersuchung, mit der seiner Mutter die Zurechnungsfähigkeit entzogen werden sollte – als die schwerkrank im Krankenhaus lag.
Polizeichef Schmidt reagiert erbost auf den Anruf der Republik auf sein privates Handy – und auf die Bitte, seine Version des Geschehens zu schildern. Er äussert sich nicht zur Sache. Stattdessen beschwert er sich bei seinen Vorgesetzten, dem Polizeikommando in Chur, über den «bedrohlichen Unterton» der Journalisten.
Die Kantonspolizei schreibt auf erneute Anfrage: «Unsererseits betroffen sind nicht ‹Tinet Schmidt und die Kantonspolizei Graubünden› sondern nur die Kantonspolizei Graubünden als Behörde; Herr Schmidt ist Angehöriger dieser Behörde und nicht etwa eine eigenständig handelnde Drittperson.» Und weiter: «In inhaltlicher Hinsicht ist das Vorgehen der Kantonspolizei Graubünden in der Angelegenheit Adam Quadroni Gegenstand sowohl eines Straf- als auch eines Verwaltungsverfahrens.» Darum könne man sich dazu nicht äussern.
Quadroni fühlt sich ins Unrecht gesetzt. Er will Tinet Schmidt zur Rede stellen. Am nächsten Nachmittag ruft er ihn an, tags darauf geht er zu ihm, auf den Polizeiposten in Scuol. Am Schalter begrüssen sie einander kühl. So erinnert Quadroni das Gespräch:
Quadroni: «Ich komme wegen dem, was am Montag passiert ist. Glaubt ihr, dass das richtig war?»
Schmidt: «Ja. Für mich ist diese Sache damit erledigt.»
Quadroni: «Ihr denkt offenbar, dass ich gefährlich sei. Und nun wollt ihr mich in die Ecke drängen, in der ihr mich haben wollt. Ihr wollt mich als gefährlich hinstellen. Und dann habt ihr nicht mal alles mitgenommen.»
Schmidt: «Du willst sagen, dass du noch weitere Waffen hast?»
Quadroni: «Wenn ich so gefährlich wäre, wie ihr mich hinstellt, dann hättet ihr auch die Küchenmesser mitnehmen müssen. Und die Gewehre an der Wand habt ihr auch nicht haben wollen. Dabei habe ich noch gefragt, ob ihr die wollt.»
Schmidt: «Wir hätten schon alles durchsuchen können. Aber es gibt ja noch den gesunden Menschenverstand.»
Quadroni: «Wozu war der Einsatz dann überhaupt gut? Wieso war das dann nötig?»
Schmidt: «Für mich war das so in Ordnung. Du musst an meine Verantwortung denken.»
Quadroni: «Wenn es um euch geht, wollt ihr nicht darüber sprechen; wenn es um mich geht, dann schon. Und dieser Einsatz am Montag … du wirst sehen, das nächste Mal zieht noch einer die Pistole.»
Schmidt: «Das nächste Mal komme ich, dann kannst du ja auf mich schiessen.»
Quadroni: «Zieht nur eure Pistole, ihr seid ja nicht sicher vor mir.»
Schmidt: «Das ist eine Drohung.»
Quadroni: «Nein, das ist keine Drohung. Ich sage ja nur: Wenn ihr mich für so gefährlich haltet, zieht ihr besser gleich die Pistole. Waffen können ja auch Messer sein, oder ein Lastwagen.»
Schmidt: «Diese Diskussion ist mir zuwider. Ich muss mich hier nicht bedrohen lassen.»
Quadroni: «Das ist keine Drohung. Ihr stellt mich hin, als sei ich so gefährlich. Dann seht zu, dass ihr sicher seid, dass es auch so ist. Das ist alles, was ich meine.»
Wieder daheim, setzt sich Adam Quadroni an seinen Rechner und schreibt ein Gedächtnisprotokoll. Er ist sich darum sicher: Genau so ist dieses Gespräch abgelaufen.
Tinet Schmidt setzt am gleichen Tag einen «Vorermittlungsrapport» auf «In Sachen – gewaltbereite Person»:
«Nach einer gleichentags erfolgten Zustellung von Zahlungsbefehlen hat Quadroni mehrmals folgende Drohung ausgesprochen: ‹Sollten in Zukunft Polizisten bei mir zu Hause erscheinen, rate ich diesen, mich sofort zu erschiessen. Ansonsten werde ich die Polizisten abknallen. Ich bin nach wie vor im Besitze von zwei Waffen, die ich unweigerlich einsetzen werde.›»
Quadroni wird erst acht Monate später davon erfahren.
Montag, 18. Juni 2017, vormittags
Seine Schwester und ihr Mann holen ihn in der Psychiatrie ab und bringen Adam Quadroni zurück nach Ramosch. Er erfährt, dass die Mutter seine drei Töchter von der Schule abgemeldet hat. Da ist ihm klar, dass seine Kinder nicht mehr zu Hause sind. Unterwegs holen sie beim Polizeiposten Scuol seine Sachen ab, sein Telefon und seinen Gürtel, seine Schlüssel und sein Portemonnaie.
Das Haus ist ein einziges Durcheinander, gerade so, als habe jemand fluchtartig gepackt. Sein erster Weg führt in die Kinderzimmer. Er sieht gleich, dass die Lieblingsstofftiere fehlen. Zwei Hasen, zwei Pferde, ein Hund.
Nur sein Bett ist gemacht, von Kinderhand, die Mittlere hat einen Brief für den Vater auf dem Kopfkissen hinterlegt, darauf ein Herz und ein Wort: «Bap».
Kampf um die Kinder
Quadroni ist fassungslos. Wo sind seine Töchter? Er ruft seinen Anwalt an. Der ruft die Polizei in Scuol an. Ja, heisst es dort, man wisse, wo die Kinder sind, sage es aber nicht.
Anruf bei der Kesb. Nein, es gebe kein Dossier Quadroni.
In den nächsten Tagen sitzt er wie betäubt daheim.
Und dann beginnt das Hickhack der Anwälte, das bis heute anhält.
Sein Anwalt reicht ein Eheschutzverfahren ein und fordert, das Gericht möge auch die Kinder anhören. Regionalrichter Orlando Zegg – der bei Adam Quadroni zwei Jahre zuvor mögliche Selbstmordabsichten abklären liess – geht zunächst nicht darauf ein.
Am 19. Juli 2017 verfügt Regionalrichter Zegg per superprovisorische Massnahme, dass sich Adam Quadroni seiner Frau und seinen drei Töchtern nicht mehr als hundert Meter nähern darf. Jeglicher Kontakt, auch per Brief oder Telefon, sei zu überwachen.
Superprovisorische Massnahmen erfolgen ohne Anhörung der Gegenpartei. Gegen sie kann kein Einspruch eingelegt werden. Meist werden sie verfügt, wenn Gefahr droht. Und genau das hat die Anwältin der Frau vor Gericht vorgebracht.
Aus der Stellungnahme der Anwältin: Quadroni habe «persistente Selbstmordgedanken», «die Absicht eines erweiterten Suizides steht nach wie vor im Raum». Dass seine Verhaftung «durch eine Sondereinheit der Polizei stattfand, zeugt im Übrigen von der hohen Gefährdungseinschätzung».
Im August sollen die Kinder vor Gericht angehört werden. Regionalrichter Zegg nennt ihm den Termin einige Tage vorher mit den Worten: Er wisse, wie sehr Quadroni an den Kindern hänge - wenn er vor dem Gericht an der Strasse stehe, könne man ihm nichts anhaben. Quadroni schöpft Hoffnung – ist das eine Gelegenheit, die Kinder zumindest kurz aus der Ferne zu sehen? Doch einige Stunden vor dem Termin sagt ihm Richter Zegg am Telefon in scharfem Ton: Quadroni solle ja nicht auf den Gedanken kommen, sich vor dem Gericht blicken zu lassen. Es sei Polizei vor Ort. Quadroni bleibt daheim.
Regionalrichter Zegg sagt auf Anfrage, er kommentiere keine laufenden Verfahren.
Am 30. August hebt Regionalrichter Zegg das Annäherungs- und Kontaktverbot auf. Im Urteil wird der «ausdrückliche Wunsch» der Kinder festgehalten, ihren Vater wiederzusehen. Quadroni erhält ein begleitetes Besuchsrecht: Zwei Mal pro Monat darf er für je drei Stunden seine Kinder sehen – unter Aufsicht.
Am 8. September fordert sein Anwalt Akteneinsicht in Sachen Hausdurchsuchung und Einsatz des Sonderkommandos. Er erhält sie nicht – die Akten lägen bei der Staatsanwaltschaft. Zu Gefährdungsmeldungen könne man generell nichts sagen, da dies «behördliche Massnahmen vereiteln» – und die öffentliche Sicherheit gefährden könnte.
Am 24. September darf er seine drei Mädchen erstmals wiedersehen. Es ist Sonntag. Das Treffen findet in einem Kindergarten statt, einige andere Väter sind da und mehrere Erzieherinnen. Am Anfang sind die Kinder ängstlich, doch dann tauen sie auf und umarmen ihn mit Tränen in den Augen. Er geht mit ihnen in einen Nebenraum und lehnt die Tür an. Sofort kommt eine Erzieherin: Die Türen bleiben offen.
Als sie später draussen auf dem Spielplatz sind, kommt die Erzieherin und rät: Sprechen Sie nicht so viel mit den Kindern, spielen Sie mit ihnen. Die 13-Jährige schreit: Lasst uns endlich in Ruhe! Sie erzählen ihm, der «Chef der Polizei» habe ihnen am Tag der Verhaftung gesagt, der Papa sei krank, er werde jetzt ins Spital gebracht, sie dürften ihn nicht anrufen. Schnell sind die drei Stunden vorbei. Sie umarmen einander. Wieder schreitet eine Erzieherin ein. So viele Umarmungen seien nicht gut für die Kinder.
Am 25. September beantragt Quadronis Anwalt vor dem Bezirksgericht eine Normalisierung des Besuchsrechts, am 29. November stellt er das Gesuch, die Kinder an Weihnachten sehen zu dürfen.
Beides wird abgelehnt. Den Entscheid erhält er am 22. Dezember, zwei Tage vor seinem 48. Geburtstag.
Am 28. Februar 2018 entscheidet das Kantonsgericht, dass er die Kinder alle zwei Wochen für einen Tag zu sich nehmen darf. Doch die Anwältin seiner Frau muss noch angehört werden.
Bis heute waren seine Mädchen nicht wieder bei ihm daheim.
Inzwischen weiss Quadroni aus den Akten, dass es seine Frau war, die an jenem Tag im Juni 2017 die Polizei gerufen hat.
Mit Schrecken erinnert er sich daran, wie er zuvor, als die Waffen seines Vaters beschlagnahmt wurden, durchs Fenster auf den Hof blickte und sah, wie dort seine Frau auf Polizeichef Schmidt einredete.
Nein, glaubt Adam Quadroni, seine Frau habe gewiss nichts mit diesem ersten Polizeieinsatz wegen der alten Gewehre zu tun gehabt. Aber könnte es sein, dass sie in jenem Moment begriffen hat, wie sie ihn loswird?
Sechs Tage vor dem Einsatz des Sonderkommandos hatten die Eheleute einen schlimmen Streit. Es gibt dann immer zwei Wahrheiten. Mindestens zwei.
Quadroni schildert es so: Seine Frau habe ihn in sein Büro zitiert und gefragt: Wo ist der Fabergé-Schmuck? Darauf er: Den habe er vor der Ehe gekauft, der sei für die Kinder. Er habe das Büro verlassen wollen, sie habe ihm zwei Mal zwischen die Beine getreten. Er habe sie zur Seite gedrückt, ohne sie zu verletzen, und sei ins Haus seiner Schwester gelaufen. Eine halbe Stunde später, inzwischen seien die Kinder da gewesen, habe sie vom Fenster aus geschrien: Frauenschläger! Sie rufe jetzt die Polizei. Die Kinder seien danach verängstigt gewesen, und in den Tagen danach hätten zwei der Mädchen bei ihm im Zimmer geschlafen, in einem Extrabett, das er dort für sie aufgestellt hatte.
Die Anwältin seiner Frau liess verlauten, dass weder sie noch Frau Quadroni sich zu den Vorkommnissen äussern würden. Also bleiben nur die Akten, um die Sicht seiner Frau zu rekonstruieren. Sie widerspricht sich: Einmal hat er sie aus dem Büro geworfen, das andere Mal gegen den Türrahmen gedrückt – und habe dann selbst das Büro verlassen.
Gegenüber dem Regionalgericht Engiadina Bassa / Val Müstair gibt Frau Quadroni am 13. Juli 2017 an: Sie habe ihren Mann in seinem Büro auf Schmuckstücke von ihr angesprochen, vor allem den Ehering ihres verstorbenen Vaters. Ihr Mann habe zunächst geantwortet, dass die sicher in einem Safe seien, dann, dass er diese zur Aufbewahrung einem guten Freund gegeben habe. «Die Ehefrau glaubte ihm nicht und beharrte darauf, dass er ihr die Gegenstände aushändigte. Da packte der Gesuchsteller sie und warf sie mit Gewalt aus dem Büro. Die Ehefrau trug zahlreiche blaue Flecken von diesem Angriff davon.»
Im Gutachten der Kinderpsychiatrischen Dienste Graubündens vom 30. November 2017 wird seine Ehefrau so zitiert: «Frau Quadroni sei mit Herrn Quadroni in einen Streit um Schmuck geraten, dabei sei es darum gegangen, dass Frau Quadroni den Ehering ihres Vaters habe zurückhaben wollen. Sie habe Herrn Quadroni in die Ecke gedrängt, worauf er sie an den Türrahmen geworfen habe und gegangen sei. Frau Quadroni habe vom Wurf an den Türrahmen die in den Akten verzeichneten blauen Flecken davongetragen.»
In den Tagen darauf ist die Stimmung zwischen den Eheleuten eisig.
Es kommt der Donnerstag, jener verhängnisvolle 15. Juni 2017. An jenem Morgen wählt Frau Quadroni zuerst die Nummer der Kesb, dann die Nummer der Polizei. Sie mache sich Sorgen. Ihr Mann habe vor ihr verheimlicht, dass er mit den Kindern in die Jagdhütte wolle. Das sei besonders verdächtig, weil er früher nie etwas mit den Kindern allein unternommen habe.
Üblicherweise wäre die Polizei nun mit einem Streifenwagen bei den Quadronis vorgefahren, um die Sache zu klären.
Doch sie entsendet ein Sonderkommando.
Die letzte Nadel
Das Kartell ist Geschichte. Doch Adam Quadroni muss weiterkämpfen. Als habe das alles nie ein Ende. Als sei das Tal noch nicht mit ihm fertig.
Roland Conrad, der Strippenzieher des Kartells im Unterengadin, hat sich nach den Hausdurchsuchungen 2012 selbst angezeigt und mit der Weko kooperiert. Er ist mächtiger denn je, Verwaltungsratspräsident der Foffa Conrad AG und der Bezzola Denoth AG, zusammen 150 Mann stark. Es gibt kaum noch kleine Baufirmen in der Region. Die Grossen haben gewonnen. Sein Vorstandsamt beim Baumeisterverband Graubünden hat er kurz ruhen lassen. 2016 nahm er es wieder auf.
Jetzt, ab Frühsommer 2018, wird die Wettbewerbskommission ihre jahrelange Untersuchung zum Baukartell Graubünden abschliessen. Kanton und Gemeinden können dann Konventionalstrafen verhängen, bis zu zehn Prozent des Auftragsvolumens, maximal eine Million Franken pro Fall. Sie können vor Gericht Schadensersatz einklagen und betroffene Baufirmen für fünf Jahre von öffentlichen Aufträgen ausschliessen. Gut möglich, dass einige Baufirmen die Sanktionen nicht überleben werden. Falls die Behörden durchgreifen. Was offen ist.
Wie hoch der Schaden für öffentliche und private Bauherren, beziffert die Weko nicht. Es bleiben nur Schätzungen. Ein Beispiel. In Graubünden wird viel gebaut. 2008 flossen dort laut Baumeisterverband rund 500 Millionen Franken allein in den Tiefbau. Aus vergleichbaren Kartellfällen weiss man, dass die illegalen Preisaufschläge rund 10 bis 30 Prozent betragen. Das bestätigt Frank Stüssi, Vizedirektor der Weko. Rechnet man sehr konservativ und unterstellt, dass nur jede zweite Offerte abgesprochen war - dann könnten allein für den Tiefbau, allein für das Jahr 2008 zwischen 23 und 58 Millionen Franken unrechtmässig in den Taschen der Baumeister gelandet sein.
Und dabei ist der Hochbau – gemäss Baumeisterverband wurden dort 2008 gut 420 Millionen Franken verbaut – nicht berücksichtigt.
Zur Erinnerung: Graubünden ist ein armer Kanton. Über den Ressourcenausgleich erhält er von den anderen Kantonen pro Jahr rund 50 Millionen Franken. Und weitere 90 Millionen Franken vom Bund.
Im Tessin kamen 2007 kleinere, aber vergleichbare Preisabsprachen im Strassenbau ans Licht. Dort stellten die Kartellbeamten fest: Nach deren Beendigung fielen die Preise um rund 30 Prozent. Das entspricht im Umkehrschluss einem kartellbedingten Aufschlag von 50 Prozent. Jüngere empirische Studien gehen im Tiefbau auch von 45 Prozent höheren Preisen infolge von Preiskartellen aus.
Adam Quadroni hat nach der Pleite seiner Firma versucht, sein Betonwerk aus der Konkursmasse zu mieten und unter dem Namen Quadroni und Partner neu anzufangen. Von privater Hand bekam er etliche Aufträge. Aber ohne den Kanton gibt es kein Überleben, und von dort sei nichts gekommen. Anfang 2016 musste er den letzten seiner einst 35 Mitarbeiter entlassen.
Ihn trifft es tief, dass er die Firma nicht halten konnte, die sein Grossvater und sein Vater mit lebenslanger Arbeit aufgebaut hatten. Er bittet den Vater bis heute jeden einzelnen Tag dafür um Verzeihung, irgendwo im Drüben.
Er lebt jetzt von seinen letzten Reserven und einem Batzen, den ihm die Schwester zusteckt. Er hält sich mit Jobs über Wasser. Manchmal schreibt er Offerten für Baufirmen ausserhalb des Engadins. In seiner Heimat, weiss er, findet er nie wieder eine Stelle.
Knapp 500 Menschen zählt Ramosch, das Dorf, das Adam Quadroni schon seit längerem nicht mehr betritt, weil er es nicht erträgt, wie die Menschen tuscheln, starren und den Blick abwenden, wenn er vorbeigeht. Er, der Gutmütige, der Überhöfliche, bei dem «dumme Zwetschge» zu den schlimmsten Schimpfwörtern gehören – für die er sich umgehend entschuldigt.
Nein, er geht nicht mehr ins Dorf. Lieber verkriecht er sich in seinem Haus, in dem noch immer der Weihnachtsbaum steht, eine deckenhohe Föhre, die Nadeln vergilbt, die vertrockneten Äste geschmückt mit gläsernen Nachtigallen und Perlensternen. Er wird den Schmuck nicht abhängen und den Baum nicht entsorgen, ehe ihn seine Töchter nicht gesehen haben. Seit einem Dreivierteljahr waren sie nicht mehr bei ihm. Und so rieseln Stunde um Stunde die Nadeln zu Boden, längst ist es Frühjahr geworden, rieseln auf die drei Nester, die er unter den Baum gestellt hat, auf Schokohasen und Zuckereier in grünem Stroh, im grossen, leeren Haus von Adam Quadroni, in dem Weihnachten und Ostern zugleich sind.
Das ist seine grösste Not: dass seine drei Mädchen wieder bei ihm wohnen. Bis sie zurückkehren, hat er in der Wohnung ihre Briefe ausgelegt. Auf dem Stubentisch, auf dem Küchentisch, auf der Küchenablage, Bilder, Briefe, Zeichnungen, akkurat geordnet, ständig sichtbar, ein Mausoleum seines einstigen Glücks, gebaut um die Frage: Was hält ein Mann aus?
In einer früheren Version dieses Artikels waren an einer Stelle die Namen der Kinder genannt. Wir haben diesen Fehler behoben.