Wie das Fernsehen wurde, was es ist
Es gibt kein besseres Spiegelbild der Schweiz als – die SRG. Wie das Schweizer Fernsehen wurde, was es ist: der lange politische Weg zum Verfassungsartikel für Radio und Fernsehen. Auftakt zur fünfteiligen TV-Serie zum No-Billag-Wochenende.
Von Christof Moser, Lukas Nyffenegger und Florian Wicki, 02.03.2018
An diesem Wochenende geht es fürs Schweizer Radio und Fernsehen um alles oder nichts. Die Abstimmung über die No-Billag-Initiative entscheidet über das Schicksal des öffentlichen Rundfunks in der Schweiz.
Was «nichts» genau bedeuten würde, weiss niemand so genau.
Aber was ist eigentlich «alles»?
Die Geschichte des Schweizer Radios und Fernsehens illustriert gesellschafts- und medienpolitische Entwicklungen der Schweiz wie in einem Bilderbuch. Die SRG und ihre Kanäle sind ein Abbild der Schweizer Gesellschaft und ihrer Entwicklung seit den 1950er-Jahren.
In dieser Serie zeigt die Republik in vier Teilen den ebenso aufregenden wie verworrenen Weg zum Verfassungsartikel über Radio und Fernsehen. Nach zahlreichen gescheiterten Versuchen des Bundesrats wird der Artikel 1984 von der Stimmbevölkerung angenommen und in der Verfassung verankert.
Im fünften Teil der Serie geht es um die Zukunft der SRG und die Frage: wie weiter? Er wird am Montag nach dem Sonntag der Entscheidung erscheinen.
Wie das Fernsehen wurde, was es ist
Mit der No-Billag-Initiative geht es um die Zukunft des öffentlichen Fernsehens in der Schweiz. Die Geschichte des Fernsehens ist eine brutale Hetzjagd durch die Zeit. In den fünf Episoden wir diese Geschichte aufgearbeitet.
Sie lesen: Auftakt
Wie das Fernsehen wurde, was es ist
Episode II
Die 1960er: Fernsehen wird kritisch – die Politik wird es auch
Episode III
Von links kritisiert, von rechts fichiert – die TV-Soap der 1970er
Episode IV
Die 1980er bis heute – endlich ein Verfassungsartikel
Episode V
Die Zukunft – wie weiter mit der SRG?
Der Verfassungsartikel von 1984 ist ein Meilenstein in der Geschichte von Radio und Fernsehen in der Schweiz. Er sichert dem öffentlichen Rundfunk damals – dreissig Jahre nach dem Start und einem ebenso langen, in aller Härte ausgetragenen Gerangel in der Politik um Macht und Einfluss auf die SRG – erstmals verfassungsrechtliche Unabhängigkeit zu.
Es ist genau dieser Artikel, den die No-Billag-Initiative aus der Verfassung streichen will.
Er ist «alles».
Das Fernsehen und der Staat
Was die TV-Serie der Republik ausserdem zeigt: welche Akteure in der Geschichte des Schweizer Radios und Fernsehens entscheidend waren.
Als Projekt zur geistigen Landesverteidigung lanciert, braucht das 1953 im Testbetrieb gestartete Schweizer Fernsehen Jahrzehnte, um sich halbwegs aus der Umklammerung des Staats zu befreien.
Während des Ersten Weltkriegs hatte der Bundesrat ein Verbot von privatem Radiorundfunk erlassen. Der Rundfunk, so argumentierte die Regierung, sei keine «private Angelegenheit», er werde mit den «staatlichen Behörden in Verbindung» gebracht. Deshalb sei es ausgeschlossen, dass er «gegen Staatsinteressen» Verwendung finde. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbricht, entzieht die Regierung der SRG die Sendekonzession. Bis 1945 unterstehen alle Radiosendungen staatlicher Kontrolle.
Daran knüpfen die Behörden in den Startjahren des Bewegtbilds an. Das Fernsehen wird von Anfang an als staatsschützendes und -stützendes Medium aufgebaut.
Wie ernst es den Behörden damit ist, zeigt ein Briefwechsel von Juni 1954, in dem der damalige Bundesanwalt Werner Lüthi Justizminister Markus Feldmann mitteilt, die TV-Macher seien vom Geheimdienst durchleuchtet worden. Der Aufbau des Fernsehens verlange «politisch zuverlässige» Mitarbeiter. Aus Angst, die Behörden könnten den Fernsehstart verhindern, hatte die SRG drei Jahre zuvor in vorauseilendem Gehorsam mit der Bundesanwaltschaft vereinbart, Neuanstellungen von den Behörden prüfen zu lassen – «im Interesse der äusseren und inneren Sicherheit der Schweiz».
Der Blick in die Geschichte zeigt, wie vorsichtig sich der Staat an das neue Medium Fernsehen herangetastet hat. Und wie er der SRG ein enges Korsett umlegt – um sich mit politischen Auflagen Einfluss und Kontrolle zu sichern.
Das Fernsehen kann zu seiner Verteidigung auf zwei Verbündete zählen: den technischen Fortschritt. Und die Bevölkerung, die kein Staatsfernsehen will.
Der technische Fortschritt prägt die Entwicklung von Radio und Fernsehen. Kabelnetze, Satellitensender und später die Digitalisierung erweitern das Medienangebot – und tragen dazu bei, dass die Schweizer Behörden das SRG-Monopol aufweichen müssen.
Die versuchsweise Zulassung kommerzieller Privatradios legt 1983 den Grundstein für das lange im Grundsatz unbestrittene duale System in der Rundfunklandschaft. Es steckte die Claims ab zwischen öffentlichen und privaten Medien. Und wird jetzt von der Digitalisierung herausgefordert.
Und von No Billag bekämpft.
Was das Fernsehen und das Radio, die SRG insgesamt, über all die Jahre begleitet: der Argwohn der Zeitungsverleger, die dem neuen Medium mit aller Macht jedes Hindernis in den Weg stellen, das sie finden können.
Bis heute.
Das Fernsehen und die Verleger
Der aktuelle Kampf der Verlage gegen die SRG ist nicht ohne Kenntnis über die lange Tradition der Verleger als staatlich privilegierte Unternehmer zu verstehen. Kaum ist 1848 die Pressefreiheit in der ersten Bundesverfassung verankert, setzen die Verleger die indirekte Presseförderung mittels reduzierter Posttarife durch – und verursachen damit bei der noch jungen Schweizerischen Post Millionendefizite. Mit dem strikten Werbeverbot für das SRG-Radio verhinderten sie neue Konkurrenz zugunsten ihrer eigenen Profite – und sicherten in den Anfangsjahren des Rundfunks die bürgerliche Vormacht im öffentlichen Diskurs.
So durfte zum Beispiel das SRG-Radio lange keine Nachrichten verbreiten. Die Zeitungsverleger hatten bei den Behörden durchgesetzt, dass Radio nur ein Bildungs- und Unterhaltungsmedium sein dürfe. Die Verbreitung von politischen Informationen stehe ausschliesslich den Zeitungen zu. Später schreibt der Bundesrat der SRG vor, die Radionachrichten an die Schweizerische Depeschenagentur (SDA) zu delegieren, die den Verlegern gehört.
Hier schliesst sich ein Kreis in die Gegenwart: zur aktuellen SDA-Krise.
Selbstverständlich waren die Verleger auch beim Start des Fernsehens zur Stelle. Die Kommission, die 1952 Richtlinien zum TV-Rundfunk ausarbeiten soll, besteht zu einem Fünftel aus Vertretern der Presse. Der damalige Verlegerpräsident Karl Sartorius wird Kommissionspräsident. Auch das TV darf auf Druck der Verleger bis 1965 nur SDA-Nachrichten verbreiten.
Die Zeitungsverleger kämpften vom ersten Tag an gegen die SRG. Und haben sich fast immer durchgesetzt. Mit der Digitalisierung wird jedoch ihre Lage komplizierter: Die Gewinne aus der Vergangenheit nützen nichts mehr, und die aktuellen Gewinne aus dem Journalismus schrumpfen zu Brosamen.
Das erklärt die momentane Nervosität, die Verzweiflung im Mediensystem. Es ist der Kampf der Aasgeier um die letzten, übrig gebliebenen Reste von 34 Jahren Medienpolitik.
Das Fernsehen und die Kritiker
In den 1950er-Jahren, als das Fernsehen aufkam, waren es linke Kreise, die gegen Gebührenerhöhungen kämpften und vor einem Bürokratiemonster warnten. Dieses Gebührenmonster ist im Abstimmungskampf um die No-Billag-Initiative als Werbesujet der Befürworter wiederauferstanden.
Die linken Medienkritiker, die sich bereits Anfang der 1930er-Jahre auf den Start des Radios hin formierten, forderten kurz vor dem Start des offiziellen TV-Sendebetriebs «Reklamesendungen», um die finanzielle Situation der SRG aufzubessern – und um dem Radio ja kein Geld zu entziehen.
Den Konservativen von damals war das Fernsehen schnell zu «kritisch» und zu wenig staatstragend. Den Linken von damals war das Fernsehen zu «unkritisch», «meinungsfrei» und «zu sehr der Nation verpflichtet».
Den Konservativen von heute ist das Fernsehen zu «unkritisch gegenüber dem Staat», sie bezeichnen es deshalb als «Staatsmedium». Vielen Linken von heute ist das Fernsehen nach wie vor «zu unkritisch», ausserdem «zu stark am rechtsnationalen Mainstream orientiert», «zu boulevardesk» und «zu ländlich» – oder wie es SP-Ständerätin Anita Fetz ausdrückte: «Die Bespassung des Publikums ist kein Service public.»
Und die Libertären wollen es abschaffen.
Was heisst Service public?
Die Frage, wie viel Spielraum der öffentliche Rundfunk haben soll, prägte die Geschichte der SRG, die Geschichte von Radio und Fernsehen in der Schweiz, die Geschichte des Landes und der Gesellschaft.
So gefährdet wie gerade jetzt ist die Existenz der SRG seit ihrer Gründung 1931 noch nie gewesen. Die No-Billag-Abstimmung ist ein Torpedo-Angriff auf Radio und Fernsehen: das tödlichste Geschoss, das in ihrer 87-jährigen Geschichte als beschossene Institution je auf die SRG abgefeuert wurde.
«Kaum eine andere formell vom Staat unabhängige Organisation wird in diesem Land, in allen Landesteilen und von allen Bevölkerungsteilen so konstant und scharf beobachtet und kontrolliert wie die SRG», schreiben Theo Mäusli und Andreas Steigmeier in «Radio und Fernsehen in der Schweiz. Geschichte der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG 1958–1983».
Umso erstaunlicher, wie widerborstig insbesondere das Fernsehen über all die Jahrzehnte seiner Geschichte trotz allem geblieben ist. Immer wieder soll es gebändigt werden, immer wieder wird es gebändigt – und sorgt doch auch immer wieder für Gesprächsstoff, Kontroversen und Skandale, die das Land weiterbringen. Durchaus eine Leistung für eine Institution wie die SRG, die zur geistigen Landesverteidigung gegründet wird, in den Kriegsjahren gar verstaatlicht ist.
Erst in den letzten Jahren schien das Fernsehen angepasst, mutlos, erschöpft.
Gebunden an Regelwerke, die nicht mehr die Realität abbilden, sondern das Wunschdenken der Politik und der Zeitungsverleger.
Gelähmt von nicht endenden Debatten über ihren Auftrag – dem Preis der staatlichen Regulierung, die sich beim Rundfunk in der Schweiz wie in den meisten europäischen Staaten Anfang des 20. Jahrhunderts durchsetzt.
«Service public» wird in der Schweiz die Regulierungspolitik genannt. Sie bündelt föderalistische Überlegungen wie Versorgungsgerechtigkeit oder Minderheitenschutz in gesetzgeberischer Politik. Ziel: In einer weitgehend kommerzialisierten Medienlandschaft soll eine am Gemeinwohl orientierte Rundfunkpublizistik garantiert werden.
Diese Politik birgt grosses Konfliktpotenzial. Immer wieder muss neu geklärt werden, welche publizistischen Rundfunkangebote das Gemeinwohl fördern.
Oder ob das Radio und Fernsehen überhaupt nicht mehr gemeinschaftlich gefördert werden sollen.
So wie es die No-Billag-Initiative verlangt.
Ein Spiegel der Erinnerungen
Mediengeschichte ist Zeitgeschichte und damit auch Geschichte des eigenen Lebens. Wer 1963 schon lebte, wird sich bis heute erinnern, wo er gerade war, als die Nachricht von der Ermordung John F. Kennedys überbracht wurde. Und jede wird unvergessliche Erinnerungen haben an die lange Fernsehnacht der ersten Mondlandung 1969.
«Unsere biografische Erinnerung ist zu einem nicht unwichtigen Teil Erinnerung an mediale Wirklichkeiten», schrieb Historiker Georg Kreis in der NZZ.
Interessant ist auch die umgekehrte Betrachtung: Wie erinnern sich Radio und Fernsehen an uns, an die Gesellschaft, die sie prägte?
Wie das Fernsehen wurde, was es ist. Und wir mit ihm, was wir sind.
Darum geht es in dieser Serie.
Lesen Sie hier Episode 1: «Der TV-Start 1953 als Projekt zur geistigen Landesverteidigung»