Der TV-Start 1953 als Projekt der geistigen Landesverteidigung
Die Angst vor ausländischen Kanälen ist grösser als die Skepsis gegenüber einem Schweizer Fernsehen.
Von Christof Moser, Lukas Nyffenegger und Florian Wicki, 02.03.2018
Anfang der 1950er-Jahre kann Fernsehen in der Schweiz noch nicht viel mehr als flimmerndes Schneetreiben. Am Ende des Jahrzehnts wird das Skirennen am Lauberhorn in 130’000 Haushalten zu empfangen sein.
«Das Problem ist technisch gelöst», teilte ein Vertreter der Generaldirektion PTT bereits im Jahr 1935 an einer SRG-Vorstandssitzung mit.
Deutschland überträgt zu dieser Zeit bereits Fernsehbilder der Olympischen Spiele.
Das entscheidende Problem der Schweiz ist lange die Topografie. Berggebiete erfordern viele Sender und breite Frequenzbänder. Erste Fernsehversuche der ETH Zürich: 1939. Präsentation des Eidophor-Systems (Schweizer Patent) zur Projektion von Fernsehbildern: 1943. Erste Übertragungstests der Post-, Telefon- und Telegrafenbetriebe (PTT): Mitte der 1940er-Jahre.
Die entscheidenden Akteure im Ringen um ein Schweizer Fernsehen sind Bundesrat, PTT und SRG, die sich dafür einsetzen. Radiovertreter, Verleger und die Mehrheit der Parlamentarier sind dagegen. Die Kirchen pokern.
Der entscheidende Treiber für den politischen Durchbruch: Angst.
Die 1950er-Jahre
Das Fernsehen ist noch keine Sekunde auf Sendung, aber bereits heftig umstritten. Die Zeitungen warnen apokalyptisch vor der «kulturellen und sozialen Vermassung» der Gesellschaft.
1951: Der «Tages-Anzeiger» fürchtet Erziehung zu «passivem Herdenwesen».
Die Radiofans fürchten Fernsehen auf Kosten der Radiogebühren. Die konservativen Politiker fürchten alles, was nach Freiheit riecht. Und die Verleger fürchten Konkurrenz.
Der Bundesrat hält mit dem Argument der «geistigen Landesverteidigung» dagegen. Wie gut das funktioniert, hat er bereits beim Radio gelernt.
Warum sollte Propaganda nicht auch mit dem Fernsehen möglich sein?
Wie das Fernsehen wurde, was es ist
Mit der No-Billag-Initiative geht es um die Zukunft des öffentlichen Fernsehens in der Schweiz. Die Geschichte des Fernsehens ist eine brutale Hetzjagd durch die Zeit. In den fünf Episoden wir diese Geschichte aufgearbeitet.
Sie lesen: Episode I
Der TV-Start 1953 als Projekt der geistigen Landesverteidigung
Episode II
Die 1960er: Fernsehen wird kritisch – die Politik wird es auch
Episode III
Von links kritisiert, von rechts fichiert – die TV-Soap der 1970er
Episode IV
Die 1980er bis heute – endlich ein Verfassungsartikel
Episode V
Die Zukunft – wie weiter mit der SRG?
1951: CVP-Bundesrat Josef Escher sagt im Parlament: «Wenn wir selber nichts unternehmen, werden wir Schweizer eben eine fremde Station nehmen. Aber wir können uns am Fernsehen nicht desinteressieren, denn sonst kommt etwas gegen uns und ohne uns, und das wäre viel schlimmer.»
Die Zeitungsverleger erkennen im politischen Willen des Staats zur Kontrolle des Fernsehens einen Hebel, um eigene Interessen durchzusetzen. Wie gut das funktioniert, haben sie bereits beim Radio gelernt.
1951: Die Gemischte Pressepolitische Kommission (GPK), ein Ausschuss des Verlegerverbands und des Vereins Schweizer Presse, verweist auf «die Gefahr der Beeinflussung des Schweizer Volkes durch ausländische Propaganda» – und fordert die Einsetzung einer Kommission.
«Der Sesseltanz um die Kontrolle des Fernsehens setzte früh ein», schreibt Historiker Lukas Nyffenegger in einem Essay über die Geschichte der SRG bei «Geschichte der Gegenwart». «Das Schweizer Fernsehen ist gerade deshalb umstritten, weil es zwar ein politisches, aber kein Staatsmedium ist.»
Konservative Politiker und strukturkonservative Verleger ziehen jetzt an den entscheidenden Fäden, um das Fernsehen in Ketten zu legen.
1952: Die NZZ fürchtet die Entstehung einer «Herdenmentalität».
Die Angst gewinnt gegen die Furcht.
Um gegen «geistige Überfremdung» durch ausländische Kanäle gerüstet zu sein, kommt das Versuchsprojekt für ein Schweizer Fernsehen ins Rollen.
1952: Der Bundesrat setzt eine «kulturpolitische Kommission» ein, die «Richtlinien für die Programmgestaltung des Fernsehversuchsbetriebs von verantwortungsvoller Warte aus» erarbeiten soll.
Die Verleger leisten keinen Widerstand. Aber nur, wenn dem Fernsehen Werbung verboten wird.
Die Kirchen melden sich.
Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund fordert ein «Mitspracherecht» bei diesem «so mächtigen Mittel geistiger Beeinflussung» und zählt dabei auf den SRG-Generaldirektor, der, als «guter Protestant», der protestantischen Seite einen Platz in der Kommission des Bundesrats sichern würde.
Der Prälat des Papstes Pius XII. ruft die katholische Gemeinde auf, das neue Medium als «grandioses Mittel der Verkündigung» zu begrüssen, das sie «im Dienste des Evangeliums mit allem Eifer benützen sollte».
1952: Bundesbeschluss zur Finanzierung eines schweizerischen Fernsehversuchsbetriebs.
Als das Fernsehen startet, zählt das Land 920 Fernseher.
1953: Sendebeginn Probebetrieb.
Das Fernsehen startet als gefilmtes Radio.
Das Programm vom 20. Juli 1953:
20.15 Uhr: Testbild, unterlegt mit «leichter Musik».
20.31 Uhr: Ein Künstler zeigt die Technik des Holzschnitts, danach Standbildserie des Holzschnittzyklus «Die Blinden», unterlegt mit poetischem Text. Anschliessend: 35-Millimeter-Film «Mit der Swissair nach Ägypten».
21.15 Uhr: Abmoderation, Verabschiedung.
Im provisorischen Fernsehstudio Bellerive in Zürich wird an drei Abenden (Montag, Mittwoch, Freitag, ab 20.30 Uhr) eine Stunde Programm produziert.
Das älteste Dokument aus der Geschichte des Schweizer Fernsehens: Test-Sendung für die Mustermesse in Basel 1952
1953: Theodor Adornos «Prolog zum Fernsehen» zeichnet Bildmenschen als manipulierbare Wesen. Das Zusammensein der Familie im Kreis des Fernsehapparates sei «fatale Nähe», verschleiere die «reale Entfremdung zwischen den Menschen».
In den Richtlinien der kulturpolitischen Kommission für den Testbetrieb steht: «Die Programme sollen im Dienste der Landesinteressen und im Sinne der Unparteilichkeit gestaltet werden und ideale Ziele verfolgen. Es ist alles zu vermeiden, was die guten Sitten verletzen, die Jugend gefährden, die öffentliche Sicherheit, Ruhe und Ordnung, sowie den religiösen Frieden im Lande, oder die guten Beziehungen mit anderen Staaten stören könnte.»
Und ausserdem: Die Fernsehprogramme müssten dem «christlichen Grundcharakter des Schweizervolkes» gerecht werden.
1953: Erste Ausgabe der «Tagesschau»; gesendet werden zwei Berichte: von der Eröffnung des Flughafens Kloten und von der Radbahn-WM in Zürich.
Die kulturpolitische Kommission ist zu einem Fünftel mit Pressevertretern besetzt. Auch die Kirchen sind stark vertreten.
1953: Angestachelt von der Führungsspitze des Radios, greifen Politiker und Kulturkritiker das Fernsehen an. «Kein Radiofranken für das Fernsehen» wird zu ihrem Schlachtruf. Sie warnen vor der Zerstörung der Familie und dem Untergang der abendländischen Kultur: «Wenn es einmal nicht notwendig ist, dass die Schweiz das Rennen mit dem Ausland aufnimmt, dann ist dies heute beim Fernsehen der Fall.»
Die TV-Empfangsgebühr kostet 40 Franken. Gaststätten zahlen 120 Franken.
1954: Erstmals wird das «Wort zum Sonntag» ausgestrahlt.
Im Bundeshaus entdeckt die Politik die Macht bewegter Bilder, während sich andere noch knorrig dagegen wehren.
1954: Erstmals wird eine Bundesratswahl live übertragen.
1955: Die Kantone Appenzell und Glarus wehren sich dagegen, dass das Fernsehen ihre Landsgemeinden überträgt.
Diese Mischung aus Ablehnung und Faszination, im Verlauf der Zeit gepaart mit immer unbändigerem Willen zu Einfluss, sollte das Verhältnis zwischen Politik und Fernsehen von jetzt an bis in die Gegenwart prägen.
Unabhängig ist das Fernsehen noch lange nicht.
Es soll der geistigen Landesverteidigung dienen.
Das ist der Plan des Bundesrats.
Radio Beromünster erfüllte während des Zweiten Weltkriegs seine Aufgabe als staatlich gelenkter «Landessender» zur Zufriedenheit der staatlichen Behörden. Vor allem CVP-Bundesrat Philipp Etter propagierte damals die Verteidigung des Landes mit den Mitteln des Rundfunks. Für ihn ist das Radio das «wichtigste und machtvollste Kultur- und Propagandawerkzeug».
Jetzt soll das Fernsehen auch so ein Werkzeug werden.
Das ist der Plan des Bundesrats.
Die SRG, 1931 gegründet, sei mit dem Kampfruf «Vielfalt in der Einheit» von den Behörden gegen den aufkommenden Totalitarismus in Stellung gebracht worden, schreibt Medienwissenschaftler Edzard Schade in «Geschichte der Schweizerischen Rundspruchgesellschaft SRG bis 1958». Auch noch zwanzig Jahre später wirbt der Bundesrat für seinen Vorschlag für einen Rundfunkartikel mit dem positiven Einfluss des Fernsehens auf die wehrbereite Bevölkerung.
1955: Der Bund verlängert den TV-Versuchsbetrieb mit einem dringlichen Bundesbeschluss um zwei Jahre.
Zuvor hatte das Parlament dem Bundesrat vorgeschlagen, eine rechtliche Grundlage für Radio und Fernsehen auszuarbeiten. Das Parlament stimmt einem Kredit von 13,3 Millionen Franken und einem Ausbau des PTT-Netzes zu. Werbung und die Verwendung von Radiogeldern zur Finanzierung des weiteren Versuchsbetriebs werden abgelehnt.
Um das Fernsehen als Service public langfristig zu finanzieren, schlägt die Regierung einen Verfassungsartikel vor, der die TV-Konzessionierung regelt.
1956: Erster Grand Prix Eurovision de la Chanson, der Wettstreit findet in Lugano statt, Lys Assia gewinnt für die Schweiz, TV-Moderator Lohengrin Filipello führt durch den Abend. Es ist die zweite Eurovisions-Sendung nach der Übertragung der Fussball-WM aus Bern zwei Jahre zuvor.
In der Fernsehwelt des aufkommenden Kalten Krieges stehen sich Eurovision (Westen) und Intervision (Osten) gegenüber. Mit dem Austausch von Programminhalten der öffentlichen Rundfunkanstalten in Europa kommt die Angst vor «sowjetrussischem Einfluss» auf.
1956: Die «Glarner Nachrichten» fürchten, es werde «dem Kommunismus möglich gemacht, seine Propaganda direkt in unsere Häuser zu tragen».
1956: Der liberale Nationalrat Kurt Bucher reicht im Parlament unter dem Titel «Kommunistische Infiltration» einen Vorstoss ein: Insbesondere beim «Télé-Journal» (die «Tagesschau» von damals) würde «die Auswahl der Bilder als auch die Art des gesprochenen Kommentars offensichtlich gezielte Propaganda für den Kommunismus machen». Der Vorstoss wird in der Öffentlichkeit teils scharf angegriffen. Er sei in der Presse als «helvetischer McCarthy» und «Hexenjagdpolitiker» bezeichnet worden, sagt Bucher später.
1957: Der Rundspruchartikel für eine Radio- und Fernsehkonzession und Bundessubventionen für das Fernsehen wird an der Urne abgelehnt.
Der Plan des Bundesrats ist gescheitert.
Das Fernsehen muss jetzt ohne Radiogebühren aufgebaut werden. Noch im selben Jahr unterbreitet der Bundesrat dem Parlament eine Botschaft, die dem Schweizer Fernsehen ein Darlehen über zwei Millionen Franken und eine Konzession gewähren will. Die Verleger verlangen die Beibehaltung des TV-Werbeverbots. Das Parlament stimmt dem Darlehen zu.
1958: Sendebeginn des regulären Betriebs. Erste dreisprachige «Tagesschau» mit Ausstrahlung in alle Landesteile. 30’000 TV-Haushalte.
Ganz am Ende dieses aufregenden ersten Fernsehjahrzehnts haben fast alle gewonnen. Das Fernsehen weitere 100’000 Konzessionäre. Bundesrat, PTT und SRG ihren Kanal. Die Politik hat die Kontrolle, das Radio die Gebühren, die Verleger das Sagen.
Und die Kirchen? Das noch blutjunge Schweizer Fernsehen verlegt kirchliche Sendungen in die Randstunden des Programms, weil sich Restaurants und Cafés mit TV-Geräten beschwerten, kirchliche Sendungen brächten ihnen nichts als ausbleibende Kundschaft.
Der gesellschaftliche Wandel kommt jetzt so richtig in Schuss.
Lesen Sie jetzt Episode 2: «Die 1960er: Fernsehen wird kritisch – und die Politik wird es auch»
Quelle der Videos: SRF/Telepool, YouTube