Die Republik ist nur so stark wie ihre Community. Werden Sie ein Teil davon und lassen Sie uns miteinander reden. Kommen Sie jetzt an Bord!
Tolles Interview. Nassehi ist erstaunt, dass die Politik in der Covid-Bewältigung nicht strengere Massnahmen verfügt, obwohl eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung dafür ist? - Dieses Erstaunen erstaunt. Nassehi beschäftigt sich ja mit der (funktionalen) Differenzierung der Gesellschaft in unterschiedliche Tielsysteme. Damit ist - wie er an vielen Beispielen (z. B. Wissenschaft - Politik) erörtert - auch die Frage verbunden, wie die Teilsysteme aufeinander reagieren und wie sie trotz ihrer Trennung miteinander verbunden (gekoppelt) sind. Aus meiner Sicht ist es offensichtlich, dass die Kopplung von Politik und Wirtschaft viel enger ist, als die Kopplung von Politik und Wissenschaft. In der Wirtschaft, im Kapitalismus geht es um Profit. Entsprechend haben alle Wirtschaftsbereiche, deren Profit (und teilweise ihr Überleben) durch die härteren Massnahmen gefährdet war (in der Schweiz z. B. der Tourismus), ihren Einfluss auf die Politik geltend gemacht. Das ist auch bei Klimafragen nicht anders. - Die entscheidende Frage wird sein, wie dieser Einfluss reduziert werden kann, um zielführende (d. h. an Wissenschaft orientierte) politische Entscheidungen wahrscheinlicher zu machen.
kreativer, spannender und ästhetischer wäre doch, zu fragen wie alternative Einflüsse gesteigert werden können. Das reduzieren kommt dann von alleine, oder?
Ich denke, es braucht beides. Die Rahmenbedingungen sind für die Entfaltung von Kreativität halt schon wichtig. Solange die Politik z. B. fossile Brennstoffe stärker subventioniert als erneuerbare Energien kann das kreative und durchaus auch ökonomische Potenzial der letzteren nicht annähernd ausgeschöpft werden.
Ist es denkbar, dass die Sprache der Wirtschaft den Politikern in mancher Hinsicht näher liegt als die Sprache der Wissenschaft? Die Wissenschaft sucht die Wahrheit, die Politik die Mehrheit. Erkenntnisse der Wissenschaft stehen in der politischen Meinungsbildung meistens nicht im Vordergrund. Einige Abstimmungen im zu Ende gehenden Jahr lassen diese Vermutung zu. In unserer Spielart von Demokratie müssen wir damit leben können. Es ist nicht automatisch so, dass nach einer Abstimmung die Mehrheit immer die besseren Argumente gehabt hat. Wir haben immerhin die Möglichkeit, Fehlentscheide zu korrigieren. Es aber etwas mühsam und zeitraubend.
Immer wieder das gleiche: Da spricht oder schreibt ein sehr gebildeter, hoch intelligenter Mensch. Spricht von Komplexität usw. und doch sind es dann einfach "Spinner" und eine "linken Demo" wäre platt gemacht worden. Sorry, da bin ich raus... Wünsche einen guten Start ins Neue Jahr!
Sehen Sie, Herr A., und genau das ist es, was mich dran hält. Dass da ein gebildeter, hoch intelligenter Mensch schreibt, was Sache ist.
Sehr geehrter Herr A., tatsächlich war die Demo in München, von der Herr Nassehi spricht, kein unproblematischer, friedlicher Demonstrationsmarsch, sondern eine chaotische Veranstaltung, von der die Polizei überfordert war und auf der es zu tätlichen Angriffen und Holocaustverharmlosungen kam. Falls Sie ein bisschen Nachlese betreiben möchten, einige Links. Ebenfalls guten Start ins Neue Jahr!
Diese Gesellschaft lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Das missverstehen die Leute immer als: Die Menschen würden sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Die lassen sich natürlich aus der Ruhe bringen
Wunderbar, wie er in den drei Sätzen das Dilemma des 'ich bin gleichzeitig Individuum und Teil des Systems' formuliert. Danke für dieses Jahresendinterview mit spannenden Denkanstössen und dem Hinweis auf ein Buch, dass lohnenswert klingt.
Wobei ja Armin Nassehi, als an Luhmann geschulter «anti-humanistischer» Systemtheoretiker, damit meint, dass die Gesellschaft nicht aus Menschen besteht, sondern aus Kommunikation. Menschen, also psychische Systeme, sind in dieser Hinsicht blosse «Umwelten» des Systems und seiner Subsysteme. So sagt Luhmann in «Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?», dass die Umwelt nicht mit der Gesellschaft kommunizieren kann, Naturkatastrophen oder Viren diese also nicht unmittelbar «irritieren», so dass sich ökologische Probleme in der Umwelt nur als Rauschen bemerkbar machen. So zynisch dies klingt, so tragisch wahr erscheint diese Aussage in Anbetracht der gegenwärtigen Erfahrung.
Ich habe auf Deinen Kommentar hin, Deinen Link geklickt und auch den Wiki Artikel zu Luhmanns Systemtheorie gelesen. Sehr interessant, weil mal ganz anders gedacht. Gleichzeitig überzeugt mich das auf's erste Lesen nicht. Kann aber (noch) nicht sagen, woran es liegt.
Geniale Soziologie!
Wie und wo beeinflussen die Teilsysteme der Gesellschaft einander noch?
Und, im Anschluss daran: Kann eine Gesellschaft, deren Teilsysteme wenig aufeinander einwirken, das Überleben ihrer Mitglieder noch sichern?
Die Sorge um diese Frage ist in den Interviewfragen deutlich spürbar. Sie wird uns in den kommenden Jahrzehnten noch mehr umtreiben.
Denn die Zeit in der wir sorglos weltweit reisen und weltweit zusammenarbeiten und weltweit konsumieren konnten, ist vorbei - unabhängig von der Pandemie. Damit endet auch die Zeit, in der wir uns darauf verlassen konnten, dass unsere Probleme irgendwo auf der Welt schon gelöst werden würden.
Als ich las, dass ein Soziologieprofessor interviewt wird, wurde ich skeptisch: Ich habe schon so viel Schwachsinn von Professoren aller Art gelesen, dass ich einfach sehr vorsichtig werde, wenn einer sich Prof. Dr. etc. nennt.
Wenn ich nun alle Aussagen dieses - trotz Professorentitel ! - sehr klugen, selbstständig denkenden, sorgfältig formulierenden Menschen überdenke, so gipfelt für mich das Ganze - anstelle einer Schlussfolgerung - in einem riesengrossen Neujahrswunsch: Hoffentlich gibt es noch Hunderte, nein Tausende solche eigenwilligen Denker wie Armin Nassehi! Unsere Zukunft wird / würde deswegen nicht einfacher, aber geprägt von lebensbejahendem Optimismus und Hoffnung. Ganz, ganz herzlichen Dank, sehr geehrter Herr Professor: ich ziehe vor Ihnen den Hut, und wünsche Ihnen ein sehr langes, erfülltes Leben! Solche menschlich denkenden, grossen Persönlichkeiten braucht nicht nur Deutschland, sondern die ganze Welt.
P.S. Mein nächster Buchkauf steht bereits fest.
Lieber Herr Goldinger, vielen Dank. Es freut mich, dass Sie mit dem Interview und den Gedanken von Armin Nassehi etwas anfangen können. Was ich hingegen nicht verstehe: warum Sie glauben, das Lob für Herrn Nassehi mit einer Invektive gegen Wissenschaftlerinnen einleiten zu müssen. Da klingt für mich – möglicherweise auch gegen Ihre Absicht – ein ordentlicher Schuss Antiintellektualismus und Wissenschaftsfeindlichkeit durch, was ganz grundsätzlich, besonders aber auch in der gegenwärtigen politischen Grosswetterlage problematisch ist (abgesehen davon, dass jegliche Pauschalisierungen gegenüber bestimmten Menschengruppen problematisch sind). Um vielleicht eine Selbstverständlichkeit zu erwähnen, weil der polemische Teil Ihres Kommentars diese unterschlägt: Universitäts-Professor:innen «nennen» sich nicht einfach «Prof.», sondern sie werden nach einem langen und harten Auswahlverfahren und auf Basis einer Vielzahl an Qualifikationsnachweisen dazu ernannt. Das bedeutet ganz sicher keine Unfehlbarkeit im Urteil, verdient aber auch nicht unbedingt das Bild, das Sie zeichnen.
Was mich an Ihrem Kommentar neben dem eingangs Gesagten ebenfalls freut: dass Sie sich Nassehis Buch besorgen wollen. Die Lektüre kann ich empfehlen, denn es ist ein Buch, von dessen Lektüre man auch dann profitiert, wenn man mit einzelnen von Nassehis Positionen (oder gar der Grundhaltung des Buches) nicht einverstanden ist. Um aber einer möglichen Enttäuschung vorzubeugen, nochmals als Vorwarnung: Wie in unserer Interview-Einleitung geschrieben, handelt es sich bei «Unbehagen» trotz des eher populärwissenschaftlichen Titels tatsächlich um soziologische Theorie, d.h. das Buch ist kein schwungvoll geschriebenes Thesen-Buch, sondern eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Fach – eine Vielzahl von Professoren und Professorinnen eingeschlossen. Jedenfalls möchte ich Ihnen nochmals danken für die intensive Beschäftigung mit dem Interview und wünsche Ihnen für das Buch eine ertragreiche Lektüre.
Sehr geehrter Herr Graf, um es kurz zu machen, ich habe das geschrieben aufgrund von sehr fragwürdigen Texten von Pseudofachleuten in der Republik. Ich anerkenne jeden, der wirklich etwas zu sagen hat, und nicht einfach andere fertigzumachen versucht.
Da kann ich nur zustimmen! Es hat Spass gemacht das Interview zu lesen
Genau darum bin ich gegen Wahlen:
Das Schlimmste, was in einer Demokratie für Entscheidungsträger passieren kann, ist, dass man abgewählt wird. Diese Art von Risikobereitschaft würde aber bedeuten, zumindest eine Idee davon zu haben, dass die jetzige Entscheidung nicht vollständig kontrollieren kann, was passiert.
Mit der Angst vor Abwahl kommt einfach nichts Mutiges aus der Politik. Nassehi sagt ja auch
Das Parlament also ist so ein Ort, aber wir brauchen auch andere. Initiativen, um Leute zusammenzubringen, die dann den einen riskanten Gedanken tatsächlich mal hinkriegen könnten.
Diese Orte sehe ich in Bürgerkammern, die zumindest teilweise auf dem Losverfahren basieren. Ohne Angst vor Abwahl können viel freier mutige Schritte genommen werden. In Bürgerkammern wäre im Gegensatz zu einer Diktatur auch die Legitimation gegeben. Das mit dem Losverfahren klingt erst mal sonderbar, aber David Van Reybrouk's Buch dazu hat mir echt zu denken gegeben, wieso wir uns so auf die elektoral-repräsentative Demokratie versteifen. Demokratie ist nicht gleich Wahlen.
Wie Harald Welzer glaube ich, dass es keinen Masterplan gibt. Nur ein Experiment nach dem Motto: Ihr müsst risikoreich euer Leben ändern, wenn ihr die Gesellschaft ändern wollt. Wir wissen ja eben heute noch nicht, wie denn eine nachhaltige, moderne Welt aussieht, die frei, demokratisch, sicher, gerecht auf der Basis eines Ressourcenbedarfs ist, der gegenüber heute um den Faktor fünf bis zehn verringert ist. Also entwirft man den nächsten und allenfalls den übernächsten Schritt auf Probe und prüft, wie das Ergebnis jeweils ausfällt.
Das Losverfahren für viele (nicht alle) Ämter wurde ja bereits im Antiken Griechenland, also dem Ursprungsland der Demokratie, praktiziert. Das Problem dabei könnte aber die Kontinuität sein:
Bei einer Los-Wahl könnte nach jeder Wahl, sagen wir 4 Jahren, ein neuer Kurs gewählt werden.
Bei einer repräsentativen Wahl, bei Wiederwahl, nach 8 oder mehr Jahren.
Bei einer faktisch absolutistischen Nicht-Wahl oder Pseudo-Wahl bis zum Lebensende.
Einzig in einer Diktatur – vornehmlich in einem «aufgeklärten Absolutismus» – hat man keine Angst vor einer Abwahl und hat man die garantierte Möglichkeit länger als eine Legislatur «mutige Schritte» gehen zu können, ohne dass durch eine Nachfolge wieder zwei Schritte zurück gegangen werden müssten (es sei denn durch Tod und/oder Revolution).
Eine andere – technokratische – Institution der Kontinuität, wie Nassehi es nennt, wäre die Verwaltung. Die Bürokratie also mit ihren Fachexperten (oder -idioten), welche die Regeln prozessiert und kontrolliert.
Bei beiden ist aber in historischer Hinsicht ein Trend zur Trägheit, zum Konservativismus zu beobachten, sei es aus Machterhalt oder aus Stabilitätssicherung. Ginge es – bei Letzterem vor allem – auch anders?
Ein berechtiger Einwand auf den es eine praktikable Lösung gibt: Gestaffelte statt kollektive Amtswechsel.
Van Reybrouk geht darauf im Kontext zweier Vorschläge von Wissenschaftlern in diesem Gebiet ein:
Zum Modell eines Representative House von Ernest Callenback und Michael Phillips aus dem Jahr 1985 (!) schreibt er: «Um Kontinuität zu garantieren, sollte nicht die ganze Kammer am selben Tag ausscheiden, sondern schrittweise, jedes Jahr ein Drittel.»
Dann in der ausführlich behandelten Blaupause von Terrill Bouricious für ein überarbeitetes Kammernsystem basierend auf dem Losverfahren: «Die Rotation geschieht nicht kollektiv, sondern gestaffelt, fünfzig Sitze pro Arbeitsjahr.»
Wie die Trägheit der Verwaltung angegangen werden könnte, bin ich mir nicht sicher. Meine Idee wäre bei den Arbeitsmethoden anzusetzen, zum Beispiel kürzere Feedbackloops und mehr Zusammenarbeit über Grenzen hinweg («Kantönligeist»). Jörg Mäder von der GLP hat mal gemeint, bei Softwareprojekten der öffentlichen Hand laufe tatsächlich vieles falsch, das habe aber zu einem gewissen Mass auch gute Gründe: Kontinuität hat zu recht ein höheres Gewicht als beispielsweise bei einem Jungunternehmen. Die potentiellen Bruchstellen sind weiter verzweigt, die Anforderungen an Zugänglichkeit sind höher und das Ganze geschieht unter den Argusaugen der Öffentlichkeit. Mein persönlicher Eindruck ist, dass es um private Firmen mit einem gewissen Alter auch nicht zwingend viel besser bestellt ist. Können Sie auf etwas konkretes verweisen bezüglich dieses Trends zur Trägheit, der spezifisch für die Verwaltung ist?
Übersetzung und Plausibilität
Was macht die Gesellschaft und das Individuum fit (oder sollten sie fit machen) für die Übersetzungsleistung und die Fähigkeit, Plausibilität zu erkennen und Plausibilität darzustellen?
Sich bemühen um und Erziehung zu: Aufklärung, breite Bildung, Neugier, Empathie.
Toll, frühmorgens so ins mitdenken verführt zu werden. Und eigentlich sehr beruhigend. Dank.
Vielen Dank für dieses Interview mit einem Soziologen, der innerhalb seiner eigenen Zunft keinen so leichten Stand hat, da er dieser gegenüber recht kritisch ist. Auch in einzelnen Reaktionen von Leser:innen zeigt sich, dass bei Nassehi die Gefahr besteht, ihn als «zu leicht» zu befinden. Ich glaube, man muss seine Bücher sorgfältig lesen wollen, um den tiefen Sinn seiner so leicht scheinenden Antworten wirklich fassen zu können. Die Schwierigkeiten bei der Interpretation seiner Aussagen haben wohl auch damit zu tun, dass er entgegen unseres Selbstverständnisses als aufgeklärte, selbst denkende Wesen aus seiner Forschung heraus zum Ergebnis gekommen ist, dass das Individuum zwar frei zu handeln vermeint, dies aber immer in einem Kontext und einer Struktur tut, die er nicht frei wählen konnte. Als Individuum sind wir nicht existential frei, sondern immer schon unhintergehbar in «unsere» Welt eingebunden, d.h. auch an sie «angebunden». Die Gesellschaft als eine Realität existiert wirklich als in unseren Körper eingeprägte Struktur und ist nicht nur eine Ansammlung von Individuen. Das macht die Anpassung unseres Handelns so schwierig. Wir sind nicht nur Vernunftwesen, sondern immer auch durch die Gesellschaft konstituiert. Wir sind uns selber nie ganz durchsichtig. Nassehi zieht dazu in seinem neuen Buch die Analogie zu unserem Gehirn: Auch das Bewusstsein kann nur durch das Unbewusstsein existieren. Das Bewusstsein - die Vernunft - ist lediglich die Spitze des Eisbergs! Genau so sind unsere bewussten Handlungen nur die «Spitze» unseres Tuns, das für uns verborgen durch unsere Gesellschaft und ihren Strukturen, Institutionen usw. geprägt ist. Eine Hilfestellung für das Verständnis von Nassehi bieten auch Überlegungen des französischen Soziologen Pierre Bourdieu - zugegebenermassen keine leichte Kost!
Ich finde es geistig anregend, dass die «Republik» auch diesen Blick auf unsere Gesellschaft, der etwas gegen unser Selbstverständnis schaut, ermöglicht hat.
Unsere Systeme produzieren doch das Falsche, weil wir noch auf das Falsche schauen und noch nicht in geeigneter Weise vom Neuen sprechen. Vieles geschieht unter Leistungsdruck, in der Politik messbar gemacht in Wählerstimmen, in der Wirtschaft in finanziellen Bilanzen, im Bildungswesen mit irgendwelchen Ratings, und überall mit Angst vor hohen Kosten. Vielleicht kommen wir einen Schritt weiter, wenn wir Menschen fördern, die sich anders orientieren und Druck eher minimieren, dass auch für andere spielerisch eigene Entscheidungen möglich werden. Trial und Error für alle!
Passend zum Thema: Das heutige TA-Interview mit mit der ETH-Klimaexpertin Sonia Seneviratne «Es geht nicht um Verzicht – Es muss cool sein, fossilfrei zu leben».
Fast noch lieber als seine Bücher hör und seh ich Nassehi gerne zu, denn nur dadurch wird sein trockener Humor gewürzt mit feiner (Selbst-)Ironie wirklich wahrnehmbar (Stichwort «Ästhetik» und «Inzenierung»). Durch die Verschriftlichung des Interviews wird einerseits der Humor nicht immer so sichtbar, andererseits verlieren die Antworten auch etwas an Prägnanz, für die seine Bücher so bekannt sind. Trotz allem vielen Dank an Euch, Daniel und Theresa, für das Interview zum Jahresende!
Vor den inhaltlichen Bemerkungen aber, gut systemtheoretisch, noch einige Beobachtungen: Spannend ist, wie die Interviewenden den Interviewten ständig um Lösungen für grosse Probleme bitten, dieser aber erstmal lapidar verweigert:
[I]ch säe in dem Buch nirgendwo auch nur den Verdacht einer Erwartung, dass ich die Antwort wüsste.
Im weiteren Verlauf weicht er Fragen nach persönlichen Rezepten aus, ganz im Sinne von: Nicht er hat die Problemlösungskompetenz, sondern «das System» (oder dessen Institutionen). Bei den Antworten verweist der Interviewte meist auf «die Gesellschaft», «die Moderne», also «das System». Dabei schillert er stets zwischen der (inter-)personalen Moral und der systemischen Problemlösungskompetenz. So lehnt er, systemtheoretisch adäquat, die polemogene «Moral» als Problemlösungskompetenz ab und verweist auf die «Ausdifferenzierung» der Gesellschaft.
Dieses Changieren zwischen Moral/Individuum und Funktion/System wird auch deutlich, wenn er einerseits von systemischen «Reaktionsmöglichkeiten» und «Problemlösungskompetenzen» spricht, andererseits aber auch von «Risikobereitschaft» und «Mutlosigkeit» – denn Letztere sind klassisch Begriffe der Tugendethik und bezeichnen individuelle Charaktereigenschaften.
Und auch bei der «authentischen» Antwort auf die Frage nach der Erhaltung der persönlichen Resilienz weicht er eher aus, auch hier geht es ihm um den Sound der «Sachorientierung», doch am Ende geht es merkwürdig genug dennoch um die «Frage, was gelungenes Leben eigentlich ist». Was ja die Frage der Moral oder besser der Ethik schlechthin ist.
Obwohl er sagt, nirgendwo säe er auch nur den Verdacht einer Erwartung, dass er die Antwort wüsste, lassen sich einzelne zerstreute Punkte im Interview versammeln und aus diesen ein Lösungsentwurf skizzieren, der letztlich so neu nicht ist, da er das Neue wie zu erwarten nicht weiss.
Die Ausdifferenzierung des Systems ermöglichte auf systemischer wie individueller Ebene viel Autonomie, vergrösserte dadurch die Reaktionsmöglichkeiten und Problemlösungskompetenzen, verstärkte aber auch das Problem der Koordination.
Die Lösung dafür sei aber nicht durch eine neuerliche Hierarchisierung des Systems unter einen Primat (der Religion, Politik oder Wirtschaft) zu erreichen, sondern durch eine Steigerung der Koordinationsfähigkeit. Die Verkopplungen der Subsysteme Wissenschaft und Politik etwa geschieht über Politikberater:innen (die von Wirtschaft und Politik über Lobbyist:innen) und die von Politik und Öffentlichkeit über Politiker:innen.
Die Übersetzungsleistung der Kuppler:innen besteht dabei in der Plausibilisierung von Lösungen (kontingenten Optionen), die nicht allein der sachorientierten Wahrheit verpflichtet ist, sondern der systemspezifischen Zumutbarkeit, wobei die Ästhetik eine grosse Rolle spielt.
Es darf gewissermassen nicht der «soziale Abstieg» sein, […] sondern es muss Prestige besitzen. Der Verzicht muss wie ein Gewinn aussehen.
Man personalisiert Politik, man macht Wahlkämpfe ohne eine inhaltliche Aussage, aber mit einer starken Ästhetik.
Also nicht wahr/falsch ist die primäre Differenz, sondern zumutbare/unzumutbare bzw. schöne/hässliche Wahrheit. Und die Macht und Prestige steigert. Denn radikalisiert kann dies auch – und hier wäre die sachorientierte normative Kritik anzufügen – das Bullshitting eines Trump mit alternativen Fakten und Fake News bedeuten. Denn der BS ist wahr, weil er erträglich ist – und mutig erscheint. Denn aufgrund des Machtkreislaufs «Politik – Öffentlichkeit/Medien – Politik» und den verfassungsmässig festgelegten Wahlzyklen entsteht das Problem der Risikobereitschaft bzw. der Mutlosigkeit. Der Mainstream erscheint immer mutlos.
Wie in Pascals Ausspruch «Handle so, als wurdest du glauben, bete, knie nieder und der Glaube kommt von allein», den bereits Althusser in seiner strukturalistischen Gesellschaftstheorie beherzigte, liegt auch Nassehis Primat nicht in der Einsicht einer Wahrheit und der Aufklärung, sondern in der Einübung von Handlungsformen und der Bewährung dieser.
Wie dieses, gut kybernetisch, «gesteuert» werden soll, erscheint jedoch relativ klassisch liberal zu sein: Allmählicher Strukturwandel durch (symbolische) Anreizsysteme und veränderte Rahmenbedingungen. «Klare Regeln für alle», «Strukturen in Anspruch nehmen, die da sind», «Fördern», «wenn der Markt es notwendig macht», «Das Neue gibt es erst, wenn die alten verbraucht sind». Dies klingt erstmal nicht sehr risikobereit.
Was das Neue sein soll – neue Konzepte, neue Reflexionspunkte, neue Handlungsformen, neue Institutionen – weiss er letztlich aber auch nicht. Aber wie er bereits sagte, diese Erwartung an ihn dürften wir auch nicht haben. Die Einsicht kommt – wie Hegels Eule der Minerva – danach.
Kann mir jemand sagen, was das Wort Aesthetik im Interview bedeutet? Denn laut Herrn Nassehi:"Das Ästhetische ist auch politisch ganz entscheidend." Und weiter unten sagt er in etwa: der ÖV muss so ästhetisch sein, dass eine Fahrt damit nicht nach sozialem Abstieg aussieht. Ist Aesthetik nur "oben" zu finden? Die ästhetische Verpackung von Inhalten, die von der Bevölkerung gewollt werden sollen, ist es das? So wie das Leni Riefenstahl konnte? Gibt es in der Schweiz so eine Aesthetik, die eine Mehrheit der Wähler und Wählerinnen ansprechen würde? Was schön, was begehrenswert ist, ist das überall dasselbe? In der Stadt, auf dem Land, bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen?
«Mutig! Stark! Gewinner! Geil!» – So muss die Botschaft lauten! Und nicht: «Kompromiss. Nachgiebig. Verzicht. Langweilig.»
Plausibilität muss dargestellt werden. Ein Politiker muss darstellen. Ein Unternehmen muss seine Produkte darstellen. Wenn ich mich verliebe, muss ich mich dem Gegenüber darstellen. Diese Plausibilitäten muss man gewissermassen erzeugen.
Klingt ziemlich nach good ol‘ Rhetorik, Performance, PR/Werbung und Verführung. «Konsumlogik», wie Nassehi sagt, oder eben Marketinglogik. Nicht wahr/falsch (Logik), gut/schlecht (Ethik), sondern schön/hässlich (Ästhetik), welche etwas zumutbar/unzumutbar «macht» oder erscheinen lässt (Pragmatik).
Als Herr Nassehi sagt, er habe auch keine Antworten auf die Fragestellungen, habe ich fast aufgehängt, mich dann aber trotzdem bis ans Ende durchgebissen. Leider hat er nicht nur keine Antworten, sondern bei mir hat sich auch kein Erkenntnisgewinn als Nebeneffekt eingestellt. Um es höflich auszudrücken: Viele kluge Formulierungen, aber leider nichts Neues. Wieso ich das so empfinde, andere Kommentatorinnen aber nicht, weiss ich nicht. Es verbleibt als Endergebnis der eine oder andere Lacher ob eines Bonmots, und die Genugtuung, dass dem Interviewten zwischendurch mal auch mit der einen oder anderen giftigen Frage auf die Zehen gestanden wird. Tja.
Lieber Herr N. Mit meiner untenstehenden Frage nach der Bedeutung vom Wort Ästhetik im Interview habe ich etwas herausgepickt, was mir hinreichend klar schien um mein ungutes Gefühl zu illustrieren. Mein Eindruck ist, dass Herr Nassehi in seinem ganzen Auftreten so beeindruckend ist, dass ein hingebungsvolles Lauschen und Verstummen anbricht. Ich kenne keinen Menschen dem das angemessen wäre.
Das eigentlich Amüsante an diesem Soziologen, abgesehen von seinen Scherzchen, ist doch, dass er seine Aussagen immer so gestaltet, dass er seinem Landesfürsten nicht auf die Zehen trampt, dazu wäre ihm seine Münchner Pfründe dann doch zu schade.
Und so kann er sich natürlich zu keiner einzigen Aussage durchringen, aber dafür viele bunte Marketingempfehlungen abgeben.
So ein ausführliches Interview und eigentlich nur Marketing-Schlagworte aneinandergereiht.
Die alles entscheidende Frage wurde nicht mal angeschnitten.
Warum, um alles in der Welt, glauben die Menschen komplexe Probleme mit simplen Lösungen aus der Welt zu schaffen?
Ein extrem ansteckendes Virus verbreitet sich auf der Welt und mutiert alle paar Monate? Da brauchen wir doch nur eine Impfung gegen und alles wird gut.
Das Klima verändert sich, weil wir zu viele klimaverändernde Gase produzieren? Da brauchen wir doch nur ein paar neue Technologien und alles wird gut...
Der Mensch neigt zum Wunschdenken, gut zu beobachten, bei jedem Projekt in der IT. Jeder geht vom optimalsten Fall aus, obwohl wirklich jeder bereits dutzendfach erlebt hat, dass sich dieser niemals einstellen wird. Daraus ergeben sich Verzögerungen, welche sich anfangs noch beherrschbar anfühlen, aber in der Summe immer zu einer Katastrophe führen, welche sich nur mit dem letzten Einsatz aller Beteiligten, unzähligen Überstunden und Abstrichen der Auftraggeber knapp abwenden lässt.
Genau an diesem Punkt stehen wir als Gesellschaft. Es gab eine Menge Leute, welche bereits vor zwei Jahren darauf hinwiesen, dass die Corona-Viren nicht mehr verschwinden werden. Diese Leute wurden niedergeschrien, in der esoterischen Schmuddelecke entsorgt und es wurde den Leuten geglaubt, die zuerst verbreiteten, man könne mit Contact Tracing und Testen das Virus so lange kontrollieren, bis eine Impfung für die Erlösung sorge. Nach nunmehr zwei Jahren der Enttäuschung und gehässigen Schuldzuweisungen ist es auch im Mainstream angekommen, dass Corona nicht mehr einfach verschwinden wird.
Genau so wird sich die Erkenntnis, dass der Klimawandel nicht nur ein paar arme Schwarze in Afrika betrifft, sondern Hinz und Kunz in der Schweiz, erst durchsetzen, wenn ein Grossteil der Schweizer mindestens einmal selbst durch ein Klimaereignis zu Schaden gekommen ist.
Hier müssten Medien und Politik korrigierend eingreifen, und nicht einfach Wunschdenken verbreiten, um Stimmen und Leser zu erhalten bzw. sogar zu gewinnen, sondern pessimistischen Realismus ausstrahlen und auf die unzähligen Beispiele der Vergangenheit hinweisen, wo übertriebener Optimismus zu brutalen Katastrophen führte.
Als abschreckende Beispiele mögen die Weltkriege dienen, welche zu 100% auf diesen Mechanismen entstanden sind.
Komplexität aus Wunschdenken zu unterschätzen mag in der IT schon zum einen oder anderen Projektabbruch beigetragen haben, aber Covid und Klimawandel primär darauf zurückzuführen scheint mir doch arg verkürzt:
Sars-Cov-2 besteht aus gerade mal 30 000 Basen; in Informatikeinheiten sind das magere 8 KB Information. Allein die deswegen vom Bundesrat erlassene Covid-Verordnung ist über 100 KB lang. Die von ihnen als Problem identifizierte Komplexität ist also keineswegs inhärent, sondern menschengemacht; ihre Ursache liegt nicht im Virus, sondern in Menschen. Warum machen wir das so kompliziert? Wenn Komplixität tatsächlich das Problem ist, warum erzeugen wir sie?
Und dann identifizieren sie Wunschdenken als Hauptursache? Müsste man da nicht etwas differenzieren, wessen Wünsche dieses Denken inspiriert haben? Ist es wirklich Optimismus, der Menschen schärfere Massnahmen fordern lässt?
Und von wegen Esotherikecke: Christian Drosten sagte bereits am 28. Februar 2020, also noch vor der ersten Welle:
So ein Virus verschwindet nicht
Meines Wissens hat ihn deshalb niemand in die Esotherikecke gestellt?
Und vielleicht möchten sie auch etwas ausführen, inwiefern die Weltkriege "zu 100%" durch Optimismus verursacht wurden ...
(Egoismus hätte ich verstanden, und da könnte ich auch durchaus Parallelen zur Pandemie und Klimakrise ziehen, aber Optimismus ...?)
Natürlich besteht die Komplexität der jetzigen Situation nicht im Aufbau des Virus, wer so etwas annimmt, hat ganz grundsätzlich etwas falsch verstanden. Auch eine Pistolenkugel ist etwas Simples. Was allerdings geschieht, wenn dieses simple Geschoss mit einer Geschwindigkeit von mehreren hundert Metern pro Sekunde auf den menschlichen Körper trifft, ist hochkomplex.
Genau so verhält es sich mit dem Corona-Virus. Wenn es sich im menschlichen Körper ausbreitet wird es sehr, sehr kompliziert. Die Bandbreite der Auswirkungen kann sich von überhaupt nichts, bis zum Tod durch ersticken erstrecken. Wie das Virus sich von Mensch zu Mensch verbreitet, haben wir bis heute nicht wirklich verstanden. Der aus diesem Halbwissen abgeleitete Massnahmenkatalog ist entsprechend verwirrend, von völlig übertrieben (Maskenpflicht für 1. Klässler) bis völlig unzureichend (Flugreisen waren für Geimpfte/Genesene bis vor kurzem ohne jede Vorsichtsmassnahme möglich).
In dieser Situation klammert sich ein recht grosser Teil der Menschen an den simplen Wunsch, mit der Impfung den Zustand von 2019 wieder herstellen zu können.
Entsprechend gross war die Enttäuschung, als offensichtlich wurde, dass das nicht funktionieren würde. Es wurden Schuldige gesucht und in den Ungeimpften gefunden. Wenn sich nur diese Uneinsichtigen auch impfen lassen würden, dann würde man die unbequemen Massnahmen endlich los, so die Mehrheitsmeinung diesen Herbst. Mit Omikron ist auch diese Gewissheit verdampft, welche Vereinfachung als Nächstes die Runde macht, vermag ich noch nicht zu erkennen, aber irgendwas wenig Hilfreiches wird es sein, soviel ist sicher.
Christian Drosten ist bestimmt ein kluger Mann. Aber seine Message war immer, mit Testen halten wir das Virus im Schach bis wir die Impfung haben, dann ist das Problem weitgehend gelöst. Dass er mit seinem Kenntnisstand eher sehr vorsichtige Prognosen abgab, erachte ich als selbstverständlich.
Die Weltkriege wurden nur angefangen, weil ein genügend grosser Teil der deutschen Bevölkerung jeweils zu 100% überzeugt war, diesen Waffengang rasch und schmerzlos für sich entscheiden zu können. Kritiker und Warner wurden einfach als Volksverräter abgestempelt.
Die militärischen Angriffe der wirtschaftlich eher schwachen deutschen Volkswirtschaft auf den Rest der Welt waren stets von Überoptimismus geprägt und im Nachhinein von den Historikern als völlig aussichtslos klassifiziert worden.
Genau gleich verhält es sich im Übrigen mit Japan, welches nie den Hauch einer Chance hatte, die damals mit Abstand grösste Volkswirtschaft der Erde, die USA, in die Knie zu zwingen, Heldenmut hin oder her.
(Edit: Beitrag, auf den sich diese Antwort mit der Bitte um Änderung bezog, wurde angepasst.)
Simon! Mit N-Wort ist Ihnen ganz unnötig ein unflätiges Wort durchgerutscht. Es verletzt Leserinnen unnötig und gilt als rassistisch diskriminierend. Wären Sie so freundlich und entfernen den Begriff aus Ihrem Beitrag?
Ok.
Es sollte verdeutlichen, dass ein guter Teil der hiesigen Bevölkerung nach wie vor von der kulturellen Überlegenheit unserer Gesellschaft überzeugt ist.
Lieber «Marketing-Schlagworte» als N-Worte:
Genau so wird sich die Erkenntnis, dass der Klimawandel nicht nur ein paar arme Neger in Afrika betrifft, sondern Hinz und Kunz in der Schweiz, erst durchsetzen, wenn ein Grossteil der Schweizer mindestens einmal selbst durch ein Klimaereignis zu Schaden gekommen ist.
Ich hoffe doch schwer, Sie geben Ihr Vokabular nicht Ihren Kindern weiter. Sonst kommen wir ja nie weiter!
Auch wenn es im Wesen der Gesellschaft liegt, das Verhalten erst zu ändern, wenn der Urlauber am Meer regelmässig von einer Sturmflut weggespült wird, dürfte das im Fall der Klimakrise nicht funktionieren. Müsste es dort nicht umgekehrt sein? Die Gesellschaft in Unruhe, die Urlauberin sonnt sich dagegen an einem neu gebildeten Gletschersee? Die Klimakrise hat abgesehen von der globalen Ausdehnung wesentliche Unterschiede zu COVID. Sie hat eine Zeithorizont, der uns in Dilemma bringt. Anders als bei COVID, wo Erfolg und Misserfolg der Massnahmen von der Gesellschaft einigermassen nachvollziehbar beobachtet werden kann, ist die Klimakrise vielschichtigeres “Wicked-Problem”. Sie entzieht sich durch ihre Trägheit bei weitem der Legislaturperioden unserer Regierungen (selbst der Diktaturen) und kann in der Realität nicht über einzelne technische Innovationen wie einer Impfung “gelöst” werden. Wenn wir aber hier schon akzeptieren, dass erst etwas passiert, wenn der hinterletzte seinen K. regelmässig auspumpen muss, oder wir im Supermarkt vor leeren Regalen stehen, wird die Erde vielleicht schon auf einem irreversiblen Weg in einen anderen, für uns wohl ziemlich unerfreulichen Zustand sein. https://www.pnas.org/content/115/33/8252 Die Frage wird sich dann viel mehr darum drehen, wie wir die Erkenntnisse aus der Palliativmedizin auf unsere Zivilisation hochskalieren können. Wenn wir tief hineinschlittern, kommen wir nicht mehr raus. Der Klimawandel kann sicher nicht im Sinne von Corona gemanagt (oder fehlgemanagt) werden. Deshalb ist es unabdingbar die Geschichte nicht abzuwarten und jetzt mit allen Mitteln Druck auf Entscheidungsträger zu erzeugen. Greta übertreibt nicht. Wenn wir die Auswirkungen unseres Handelns unmittelbar spürten, gäbe es diese Diskussion nicht. Eine immer präzisere Voraussage und die anschliessende Zuordnung der Verantwortung für Schäden ist deshalb unabdingbar. Die Wissenschaft kann das leisten, hier sollten die Budgets der Staaten ebenso erhöht werden, wie bei der Entwicklung erneuerbarer Energien. Da es ohnehin keine “Lösung” für das Problem gibt, auf die sich die Nationen und Völker der Welt einigen könnten, bedarf es unterschiedlichster Ansätze die von allen Elementen menschlicher Gesellschaften getragen werden. Widersprüche können ja bereichernd sein. Was mich nach dem Interview interessieren würde, ist wie wir unseren Politikern die Angst vor der Abwahl nehmen könnten. Indem man ihre Nachkommen für mutige Taten belohnt? Ein besseres Milizsystem? Denkmäler à la Mount Rushmore in den Alpen?
Das sehe ich auch so. Beim Klimawandel können wir eigentlich nicht zuwarten, bis wir ihn "erfahren", zumindest nicht mehr lange. Aktuelle Wetterextreme bspw. in Mitteleuropa (wie: lange Dürre in 2018, Extremniederschläge Juni/Juli 2021 ) haben bisher nicht dazu geführt, dass sich unsere Gesellschaften neu ausrichten. Erst muss der auftauende Permafrostboden das Matterhorn so verändern (i.e. verunstalten), dass wir Helvetier unseren heutigen Lebensstil ernsthaft hinterfragen. Wir haben es 2021 nicht mal hingekriegt, eine Mehrheit zu gewinnen für ein (moderates) CO2-Gesetz, das die CH-Klimapolitik für dieses Jahrzehnt vorgegeben hätte. Was jetzt kommt, ist ja noch schwächer/wirkungsloser.
Damit sind wir bei den ersten Kipppunkten: wenn diese erfolgt sind, gibt es kein Zurück zum vormals Normalen. Das scheint mir beim Klimawandel das fiese: unser bisheriges Verhalten funktioniert hier nicht, und das stimmt mich nachdenklich... Immerhin ist die menschliche Spezies sehr adaptionsfähig, aber es scheint mir unwahrscheinlich, dass die Anpassungen ohne Gewalt oder Leid erfolgen werden - nicht überall gleich krass, aber ich sehe wenig Erbauliches für die künftigen Generationen.
Passend dazu: «Palliativgesellschaft» (2020) von Byung-Chul Han.
Zu Ihrer Frage: Losverfahren statt Wahlen wäre eine Möglichkeit.
Danke für die beiden Hinweise! Beim Losverfahren kam mir das Konzept der Laienparlamente von Burkhard Wehner in den Sinn, über das bei einem Artikel über den Isländischen Bürgerausschuss zur Verfassungsreform gelesen hatte. In seinem Vorschlag werden geloste Laienparlamente mit Expertenparlamenten kombiniert. Bei einer kurzen Recherche bin ich vorhin auf den Begriff der Demarchie gestossen, der mir bisher unbekannt war: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Demarchie
„…dieses Klimawandel-Thema…“ - das ist ziemlich herablassend ausgedrückt, und auch seine Antworten zuvor zeigen, dass er nicht wirklich besorgt ist, u.a. wahrscheinlich, weil er keine eigenen Kinder hat (nehme ich an, zumindest kann ich es mir nicht vorstellen, wenn er sich so ausdrückt).
„…wahrscheinlich, weil er keine eigenen Kinder hat…“ - das ist ziemlich herablassend ausgedrückt.
Vielleicht ist er einfach realistisch in der Beurteilung, was unsere Gesellschaft in dieser Beziehung hinkriegen kann/wird?
Jede/r kann die Realität prägen, einflussreichere Personen noch etwas mehr und aus dieser Ecke wünschte ich mir, dass mehr kommt. Wenn man ständig sagt, die gemeinen Leute wollen eben mindestens den Lebensstandard halten, ja, dann mag das die eine Realität sein bzw. zur Realität gemacht werden - die damit verbundene Realität ist dann einfach die pot. Klimakrise und Artenschwund (und weitere eher unschöne Realitäten folgen). Es muss nicht zwingend so rauskommen, aber mit Risiko- und Verantwortungsbewusstsein hat diese Haltung sicherlich nichts zu tun.
(Und dann zählt man diese sogenannten Influencer auch noch zur sogenannten Elite).
danke für ihre Antwort Frau B. ,natürlich hatten wir alle gedacht das der Virus uns nicht länger als über 2020 beschäftigt ..und jetzt gehts über 2022 hinaus ;und doch ja der Witz ist lustig.
und noch eine Frage an Herrn A. :glauben Sie an eine Notwendigkeit,Dringlichkeit der Massnahmedemonstrationen?
Können wir wirklich nicht besser? Ist es so einfach? Oder machen wir es uns so halt sehr leicht?
Ich weiss es auch nicht!
Kontext?
Ich weiss, Soziologen beobachten und beschreiben / erklären das Beobachtete.
Mir fehlt ab und zu von solch klugen Köpfen der Wille, eine Lösung oder die Idee einer Lösung anzubieten.
Bzgl Klimawandel liegen die Fakten auf dem Tisch, sie wurden nur zu lange nicht von den Medien korrekt kommuniziert, bis heute wird man der Dringlichkeit der Situation nicht gerecht.
Die Wirtschaft weiss Bescheid, die Politik muss nun handeln (Gesetze, Subventionen…).
Manchmal habe ich den Eindruck, dass sich keiner die Dimension der Katastrophe, in die wir hineinrauschen, vorstellen kann oder will.
Göpel z.B. liefert sehr gute Lösungsansätze. Wieso kommt da weniger Mut von anderen Wissenschaftlern?
Mensch könnte auch schreiben:
Macht wird ausgeübt und wirkt dann in die POLITIK zurück. Dort wird sie verarbeitet und heraus kommen loyale Politikys.
Loyal wem gegenüber?
Risikobereitschaft wem Gegenüber?
One beeing - one vote ist eine Utopie.
-> Inspiration:
''Unter Machtkreislauf versteht man in der Soziologie, dass Macht ausgeübt wird und dann in die Gesellschaft zurückwirkt. Dort wird sie verarbeitet und kommt als eine Art Loyalität wieder zurück. Das unterschätzt die Politik wahrscheinlich. Politik braucht mehr Risikobereitschaft.''
Merci für das spannende Interview. Das Losverfahren wird leider von Gegnern immer "falsch ausgeschmückt" (Beispiel Justizinitiative). Jeder hätte es in der Hand, sich auf anderen Kanälen, fern einer Arena im SF und anderem Mainstream, zu informieren. Schade. Jede Initiative hat einen bis zwei Haken, die die Gegner fleissig bewirtschaften. Noch ein Nachtrag von mir, wegen Kinderlosigkeit von Personen. Mal etwas weiter gedacht, wieso er/sie/es sein könnte? Es gibt unzählige Gründe und ich finde es diskriminierend, einen Interviewten damit in eine Ecke zu drängen. Daselbe gilt für mich für Beträge von Anonymen.
Ich wünsche Euch einen guten, erfolgreichen und gesunden Start ins neue Jahr.
hat die katholische Kirche am besten begriffen, wie die "Bestie Mensch"
in Gemeinschaften funktioniert ?
Wenn es nach dem Soziologieprofessor aus Bayern geht, der sich mit 18 Jahren freiwillig taufen liess, ja, zumindest für die gut 1500 Jahre zwischen 313 (Mailänder Vereinbarung von Konstantin dem Grossen) und 1789 (Französische Revolution) als quasi Pascals Devise galt: «Knie nieder und der Glaube kommt von allein!» – sei es aus freien Stücken oder aus Zwang (Stichwort «Kolonialismus»).
Zum Glück gibts gebildete Akademiker die auch mit ihrer Bildung leichtfüßig denken können. Dankeschön für das Interview!
Wurde gestern im Haus Konstruktiv daran erinnert dass man die Europäischen Kunstpraktiken jeweils mit der Katholischen Kirche im Hintergrund bedenken sollte wenn man mal ohne allzu viel Jahrelang akquirierte oder geerbte Bildung sich fragt was das an den Weißen Wänden denn wieder sein soll. Denn es soll vielleicht etwas sein dass keine Katholische Leinwand im Hintergrund braucht und keine protestantische Kunst sein soll, obwohl es das wahrscheinlich ist….
Es will sein ein neues Schlupfloch um die Welt zu retten.
Republik AG
Sihlhallenstrasse 1
8004 Zürich
Schweiz