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Danke für diesen differenzierten Beitrag. Als Kulturschaffenden beelendet mich die Übergriffigkeit von Menschen, die an Kultur ansonsten kaum echtes Interesse haben, oder für Kultur höchstens über den Intellekt erreichbar sind und Kultur bloss konsumieren, sich aber herablassend über Singen, Tanzen, Malen etc äussern, unsere Kulturetats zusammenstreichen und glauben, echte Emotionen zeichneten sich in erster Linie durch lautes Gebrüll aus und fänden nur an Sportanlässen statt.
Ich kann Sie nur ermutigen, entdecken Sie ihre eigene UND fremde Kultur, indem Sie zb Lieder aus Ihrer Schulzeit singen, und dann auch Lieder aus anderen Ländern. Wenn ich ein Land bereiste, wollte ich immer auch seine Lieder kennen lernen. Darin habe ich so viel mehr über die Menschen erfahren, als Worte es vermögen und die Erzählungen, in denen doch nur immer gesagt wird, was der Verstand in seiner Beschränktheit zu erfassen vermag - oder was jemand sagen will, was man heute zutreffend "Narrativ" nennt.
Kultur ist das, was sie ist. Lasst die Finger davon, ihr Beckmesser (selbsternannte intellektuelle Regelhüter, die der Kunst jegliche Strahlkraft nehmen wollen).
Es fehlte noch, dass Shakespeare, Schiller, Mozart Verdi etc umgeschrieben oder Aufführungen abgebrochen werden müssten, weil der vorkommemde Mohr Unbehagen auslöst. Es ist in Ordnung, wenn Kultur Unbehagen auslöst, ebenso wie wenn sie Behagen auslöst. Kultur kann und bewirkt beides, und noch viel mehr.
Einen solch nüchtern-sachlichen Artikel zu diesem schwierigen Thema zu lesen, das geht zum Morgenkaffee runter wie Honig, danke! Einzig, dass den weissen «gekrönten» (wer tut das wie?) Musikern nicht der schwarze Musik-«Adel» gegenübergestellt wurde (z.B. BB King als Blueskönig), erstaunt etwas.
Eine persönliche Anmerkung: Der Konzertabbruch hat mich verstört, weil ein Konzertabbruch ein gewaltsamer Akt sein kann. In diesem Fall war er es. Ein Eingriff in die Kunstfreiheit wegen Menschen, die sich zu Opfern stilisieren. Dieses im Kern totalitäre Gehabe macht mir Sorgen. Auch, wie von linker Seite das Ganze verharmlost wurde. Als sei ein Konzertabbruch per se nichts Schlimmes. Aber man kann auch Bücher verbrennen oder Bücher verbrennen. Es gilt, totalitärem Gedankengut von jeglicher Seite von Anfang an den Riegel zu schieben.
Man kann jetzt sagen, Karl May, Elvis und Bob Marley sind schon so lange tot, ist es denn wirklich noch relevant? Doch kulturelle Aneignung passiert auch heute noch. Ein aktuelles Beispiel sind Tanzvideos auf Tik Tok. Viele Schwarze Jugendliche kreieren Dance Moves zu neuen Songs, die dann 1:1 von weissen Jugendlichen kopiert werden. Das ging soweit, dass Schwarze Tik Tok-Creators streikten und einfach keine Dance Moves zu aktuellen Songs kreierten.
Das Problem: Der Tik Tok-Algorithmus pusht vor allem die weissen Jugendlichen. Die Anerkennung, die Werbeverträge erhalten dann ebenfalls die weissen Jugendlichen. Es geht halt nicht nur darum, dass Künstlerinnen und Künstler Kunst machen und sich gegenseitig inspirieren. Es geht auch um Geld und darum, dass einige die Arbeit machen und andere kassieren. Ein Artikel der BBC dazu: https://www.bbc.com/news/world-us-canada-57841055
"In March, talk show host Jimmy Fallon invited TikTok influencer Addison Rae, who is white, to his show. She performed numerous viral dances created by black dancers who were not mentioned or featured on air. (...) Rae made nearly $5m from TikTok in 2020 alone, getting views from videos she made recreating dances from black choreographers. Although her exact earnings are unknown, according to one estimate Jalaiah made about $38,000 the same year from the app."
Ein weiteres Beispiel aus einer ganz anderen Ecke. In den USA verlangen viele Arbeitgeber von Schwarzen Angestellten europäische Frisuren, also gestreckte Haare. Typische Frisuren, die an die Haarstruktur Schwarzer Menschen angepasst sind, wie Braids, Dreadlocks, Afros gelten als unprofessionell und können durchaus zu einer Entlassung führen. Letztes Jahr musste New York eigens ein Diskriminierungsverbot deswegen erlassen. Auf der anderen Seite kopieren weisse Prominente ungeniert Kleider-, Haar- und Make-up-Stile und werden als Stilikonen gefeiert.
Danke für the big picture. Genau auf dieser Ebene müsste diskutiert werden. Es geht um die gesellschaftlich-politischen Machtverhältnisse. Um nichts anderes. Wer nun die Kritik durch Einzelfälle ins Lächerliche zieht, der verfestigt, ob gewollt oder nicht, eben diese Machtverhältnisse.
Wer etwa sagt, "Dann dürften wir auch keine Spaghetti mehr essen" und "Durchmischung war und ist normal", als wäre alles Friede, Freude, Eierkuchen, der verdeckt die lange problematische Geschichte der Diskriminierung von Menschen aus Italien in der Schweiz – durch zum Teil genau dieselbe Seite, die nun plötzlich "Durchmischung" als normal und unproblematisch darstellt.
Die Frage, die ich mir jedoch stellte… wären die Musiker alle in Bern heimische, Berndütsch rappende nicht-weisse Rastafarians aus Jamaica gewesen, hätten sie auch an dem Open Air auftreten dürfen?
Das Tragische: die Band selbst sieht sich als alternativ und wird jetzt viele rechtsnationale im Publikum haben…
Finde ich es negativ, wenn Nicht-Inder Yoga machen? Nein, ist ok, solange ich nicht mitmachen muss… 😅
Yoga ist mittlerweile ein Milliarden-Business. Indien selbst hat reichlich wenig davon, entspricht das westliche Sportyoga (inkl. Yogapants, Yogamats, etc.) doch kaum dem ursprünglichen spirituellen Yoga, das in Indien praktiziert wird. Aber es ist eine gute Sache, die viele Leute glücklich macht.
Es ist aber auch ein dankbares Gebiet für allerlei indische und westliche Scharlatane und Möchtegern Gurus, die den Westlern dafür die Kohle aus der Tasche ziehen. Wer’s glaubt, wird selig. Spiritualität verkauft sich besser als Sex.
Yoga ist mittlerweile ein eigenes “Ding”, wo man einen Buddha als Deko in der Ecke platziert, eine Prise Senföl als Ayurvedische Eingabe nimmt, Turnübungen mit spirituellem Dekor macht und Andreas Vollenweider Worldmusic in den Player wirft (ist World Music Cultural Appropriation?). Die SPAs dieser Welt leben davon! Fernöstlich steht für Entspannung. Das hat nichts mehr mit klösterlicher ayurvedischer oder buddhistischer Selbstkasteiung zu tun. Ist halt das gleiche wie die Japanerin in der Appenzellertracht. Eine Romantisierung der Exotik. Human nature. Es menschelt halt.
Während die aktuelle indische Musik eher der Metalband “Bloodywood” entspricht (shoutout zu Metalyoga \m/ die haben den Spirit begriffen), orientiert man sich an einem stilisierten Ideal des Reinen, Guten, Erhabenen - und ist dann entsetzt, wenn man im lärmigen, chaotischen Indien ist.
Handkehrum reagieren auch so manche Schweizer:innen ja düpiert, wenn Eingebürgerte oder Ausländer ein Sennenhemd tragen, genau die Gleichen übrigens die jetzt am lautesten gegen die Debatte wettern…
Danke für diesen klärenden Beitrag, der die Vielschichtigkeit aufzeigt! Für etwas ältere Semester, die ab Ende 60er musikbegeistert waren, war diese Thematik stets präsent. Die Musikindustrie war bald vor allem als "Industrie" entlarvt, aber genauso ermöglichte sie halt auch die Entwicklung und Verbreitung von "einfach guter Musik", innovativ und stilverbindend. Wir waren sehr wohl sensibilisiert, wenn zB schwarze Musiker etwas als Aneignung kritisierten und reagierten entsprechend. Doch es gab auch manchmal den Entscheid, eine "etwas problematische Superplatte" trotzdem zu hören, weil eben grosse Kultur darin steckte. Die kam genauso von "Weissen" wie von allen anderen. Das ist die individuelle Kreativität. Sie steckt in allen Menschenkulturen gleichermassen.
Die Geschichte des Reggae kannte ein Fan damals und all dessen Einflüsse und Fusionen. Eignete sich aber ein Eric Clapton 1:1 einen Song von Bob Marley an, "I Shot The Sheriff" der im Text von Ausbeutung , Rassismus, Polizeigewalt singt, war uns schon damals "unwohl". Auch weil er musikalisch ziemlich glattgespült war . Doch er war gleichzeitig auch ein guter Popsong. So wurde er halt akzeptiert. Clapton selber äusserte sich im Laufe seines Lebens immer mal wieder problematisch negativ über andere Kulturen, was völlig unverständlich ist, denn er lebt musikalisch und karrieremässig davon. Jüngst auch als Impfgegner gegen Corona. Er ist als Person wohl eher ein "Depp". Deshalb gehe ich sicher nicht an ein Konzert von ihm.
Kultur ist in höchsten Masse ambivalent und wir müssen eben viel darüber wissen, so wie es der Text aufzeigt und auch liefert. So können wir einen einigermassen vertretbaren Weg durch die Grauzonen finden.
Doch die jungen Generationen kennen fast nur noch "Entweder-Oder"-Zonen, weil Social Media und 7/24-Medien vor allem jene Kreise aufplustern helfen, die gefährliche Vereinfacher sind.
völlig einverstanden, und die Jugend ist schon seit Jahrtausenden daran immer schlimer zu werden, das sagten schon die alten Griechen (Männer).
Genau! "die jungen Generationen kennen fast nur noch "Entweder-Oder"-Zonen, weil Social Media und 7/24-Medien vor allem jene Kreise aufplustern helfen, die gefährliche Vereinfacher sind."
Ok, Boomer. Stimmt ja, früher war ja alles besser und kannte man keine ""Entweder-Oder"-Zonen"… ähm, Kalter Krieg (oder alles zuvor btw), anyone?
Danke Jens Balzer für die ruhige Auslegeordnung zum Thema kulturelle Aneignung.
Aneignung um Profit daraus zu schlagen: Auf dem Gebiet der Kultur sind Menschen verunsichert, möchten sich anständig verhalten. Wie steht es aber auf anderen Gebieten? Wie steht es mit dem Patentieren von Saatgut?
97% aller Saatgut-Patente befinden sich in den Händen von Unternehmen aus Industrieländern, obwohl 90% der biologischen Ressourcen aus dem Süden stammen.<
(https://www.weltagrarbericht.de/the…leben.html)
Sollte nicht auch ein Protestgebrüll durch die Welt gehen, weil es möglich ist, dass Multis wie Monsanto Patente bekommen auf Pflanzen, die über Jahrhunderte weg in ihren Ursprungsländern von den dortigen Bäuerinnen auf bestimmte Eigenschaften hin entwickelt wurden?
Das Problem sind weniger die Patente (auf eine Variante von vorhandenen Saatgütern), sondern das von diesem Patentinhabern daraus abgeleitete Recht, dass die Bauern der Natur nicht ihren Lauf lassen dürfen und die Ernte auch als neues Saatgut nutzen dürfen - also quasi eine illegale Kopie des patentierten Saatguts anfertigen.
Leider ists noch schlimmer: Das meiste Saatgut keimt gar nicht mehr, da steril gezüchtet. Tolle Idee, solche Pflanzen auf die eh schon schwindende Artenvielfalt loszulassen.
Das war richtig gute Aufklärung. Eine solch differenzierte Betrachtung vermisse ich zum Krieg in der Ukraine. Arbeitstitel: „Was Sie wissen sollten, bevor sie sich über den Krieg zwischen zwei traumatisierten Vielvölkerstaaten aufregen“.
Erstens berichtet die Republik differenziert über den Ukraine-Krieg. Und zweitens würde ich den Krieg nicht als Krieg "zwischen zwei traumatisierten Vielvölkerstaaten" bezeichnen. Das ist ein Euphemismus. Denn das impliziert, die Ukraine hätte den Krieg "mit"begonnen/gewollt und die Ukraine wäre ebenso mächtig wie Russland. Stattdessen handelt es sich um einen Angriffskrieg eines dominanten auf einen scheinbar unterlegenen Staat. Dies ist die einzige Parallele zwischen diesem Krieg und dem Thema "Kulturelle Aneignung". Der*Die Mächtigere meint das Recht zu haben, sich den*die Schwächere "aneignen" und ausbeuten zu können.
„Kulturellen Aneignung“ und „Putins Angriffskrieg“ setzte ich nicht gleich, sondern ich wünschte mir von der Republik zu beiden Themen die gleiche Qualität der journalistischen Aufarbeitung.
Den Krieg will ich auf keinen Fall verharmlosen. Und die Gefahr ist gross, dass es noch um einiges schlimmer kommen wird, wenn nicht endlich Verhandlungen beginnen.
Kulturelle "Aneignung" findet auch in der Gegenrichtung statt.
Die Theorien über Winnetou sind sicher interessant, aber ich vermisse den Bogen zur Situation in Bern. Es wäre spannend gewesen, einen Text aus der oder zumindest über die Schweizer BIPOC-Community zu diesem Thema zu lesen. Ging es in der Diskussion in der Brasserie nicht hauptsächlich um Dreadlocks und westafrikanische Kleidung und nicht so sehr um die Musik?
Dazu vielleicht der Beitrag aus der woz:
«Entscheidend ist, dass die Kritik an kultureller Aneignung nur als Kapitalismuskritik Sinn ergibt», sagt die Historikerin Jovita dos Santos Pinto, die zu postkolonialen Öffentlichkeiten forscht, im Gespräch mit der WOZ. Ausgehend vom marxistischen Begriff der Ware beschreibt das Konzept, wie kulturelle Ausdrucksformen in Produkte verwandelt und kommerzialisiert werden. Als besonders gewinnträchtig hat sich dabei die Kultur von Minderheiten mit ihrem Flair des «Exotischen» erwiesen. Vom kolonialen Kunstraub bis zur heutigen Konsumkultur zeigt sich dabei die enge Verbindung zwischen Kapitalismus und Rassismus.
Es geht also nicht darum, die Binsenweisheit infrage zu stellen, dass Kultur immer in einem Austausch entstehe, sondern darum, die Machtverhältnisse in diesem Austausch zu kritisieren. Besonders gut lässt sich dies an einem Beispiel aus der Schweiz beschreiben, das in der aktuellen Diskussion die Runde macht: Alle erzählen jetzt, dass die Schweizer Volksmusik von den Jenischen stammt. Dahinter verschwindet aber eine Geschichte der Verfolgung: Die Jenischen befanden sich im 20. Jahrhundert auf der Flucht, weil ihnen die Pro Juventute rassistisch begründet die Kinder raubte (siehe WOZ Nr. 17/21). Mit ihrem Auftritt als Schweizer Volksmusikant:innen konnten sich die Jenischen ein Stück weit schützen – angesichts ihrer prekären Situation konnte ihre Musik aber auch leicht von der Mehrheitsgesellschaft angeeignet werden.
Ich finde weiterhin, die Schweizer Volksmusik ist ein brauchbares Beispiel für kulturelle Aneignung. Quelle ist ja nicht nur die Musik der Jenischen und anderer fahrender Kulturen. Jiddisches lässt sich raushören, Slowenisches und generell Musik aus Osteuropa. Und mit dem "Schottisch" haben auch die Kelten ihren Platz in "unserer" Musik gefunden. Dass die "Schweizer" Volksmusik - ebenso wie Reggae oder auch der Tango - eine multikulturelle Verschmelzung darstellt, dagegen ist nichts einzuwenden. Musik lebt ja genau von diesen Inspirationen, entwickelt sie weiter und macht sie spannend. Wenn man jedoch den Ländler (!) als eigenes, ursprüngliches, den Volksgeist definierendes Kulturgut definiert, ist dies aneignend im diskutierten Sinn: kolonialistisch, rassistisch, geschichtsfälschend. Namentlich auch deshalb, weil sich die Ländlerfreunde weder gestern noch heute als besonders warmherzige Freunde dieser oft verfolgten Kulturen (Jenische, Juden) hervorgetan hatten. Pro Juventute ist ein treffendes Beispiel, ebenso die unzähligen Überfremdungsinitiativen, das Minarettverbot oder die EU-Abschottung. Mit dieser Haltung wird sich der Ländler aber sicher nicht mehr weiterentwickeln, sondern in seinem Historizismus erstarren.
Und zum Thema "Dreadlocks":
Eine lesenswerte Einführung zum Thema hat 2021 der deutsche Sozialwissenschaftler Lars Distelhorst unter dem Titel «Kulturelle Aneignung» veröffentlicht. Er geht neben der erwähnten Begriffsgeschichte auch auf den oft von Linken geäusserten Vorwurf ein, das Konzept essenzialisiere die Kultur: Es konstruiere Kulturen als feste, abgeschlossene Einheiten und sei damit anschlussfähig an nationalistische Konzepte. Distelhorst verweist darauf, dass in Kämpfen um Emanzipation zur Beschreibung eines Problems ständig Kategorien verwendet werden müssen, die gleichzeitig überwunden werden wollen.
Damit ein statisches Kulturverständnis trotzdem vermieden werden kann, schlägt er eine Definition der Cultural Appropriation vor, in deren Zentrum die Kämpfe um politische Hegemonie stehen. Beim Vorgang der kulturellen Aneignung machten sich demnach Mitglieder der Dominanzkultur die Symbole der um Emanzipation kämpfenden Gruppen zu eigen, um diese in Konsumartikel zu verwandeln. Dadurch werden sie für die politische Repräsentation unbrauchbar gemacht. Das klingt abstrakt – wird aber konkret, wenn es um die viel diskutierten Dreadlocks geht. Schliesslich sind die Haare in der Geschichte des Rassismus alles andere als eine Nebensache.
Den versklavten Menschen wurde die Haarpflege verboten oder ihnen wurden die Haare abgeschnitten. Ihr krauses Haar galt als schmutzig und unhygienisch und wurde so zu einem Symbol für ihre angebliche Unzivilisiertheit. Um den weissen Schönheitsidealen zu entsprechen, glätteten sich Schwarze im 20. Jahrhundert in schmerzhaften Prozeduren das Haar. Im Zug der Black-Power-Bewegung der Sechziger begannen manche, Rastas und Dreadlocks selbstbewusst als Zeichen des Widerstands zu tragen. Ob man sich dieses Symbol nun als weisse Person aneignet oder nicht, bleibt eine individuelle Entscheidung – doch passiert sie eben vor einer weit grösseren Geschichte.
zum Thema Dreadlocks: Kris McDread zur Frage "can white people wear dreadlocks" https://www.youtube.com/watch?v=lHYls9e4mVM
Wenn ich hier die Debatte so verfolge, dünkt mich: Grundvoraussetzung für eine sachliche Auseinandersetzung mit kultureller Aneignung ist, sich die Vormachtsstellung mit den daraus resultierenden Privilegien, die man als weisser Mensch, allein aufgrund seiner Hautfarbe genießt, einzugestehen.
Danke. Stimmige Flughöhe, deskriptive Draufsicht, sinnvolles Fazit. Ein Artikel, der mehr das Bier als den Schaum thematisiert - daher m. E. sehr lesenswert!
Danke für den unaufgeregt-informativen Beitrag. Was mich an der ganzen Enteignungsdebatte beunruhigt, ist die Grundierung durch so etwas wie ein "Reinheitsgebot" - hatten wir das nicht schon einmal mit verheerenden Wirkungen. Kultur ist nie "rein", sondern immer "schmutzig", gemischt, kreolisch (Éduard Glissant), schillernd.
Brilliant, danke! Der Artikel drückt von zuvorderst bis zuhinterst mein Unwohlsein bei dieser Debatte aus.
Und dieser Satz hier lässt sich auf so viele Themen der heutigen Zeit anwenden, dass einer fast sturm wird: "Diskussionen über komplexe Realitäten brauchen das Genaue, Spezifische und eben Komplexe – nicht die billigen Parolen."
Also, es ist legitim, dass ich mich über den amerikanischen "Swiss Cheese" etwas ärgere, aber gleichzeitig sollte ich auch loslassen, denn eigentlich "gehört" mir die Schweizer Käsekultur ja nicht? Finde ich total nachvollziehbar. Mit der neo-marxistischen Elfenbeinturm-Debatte über Machtverhältnisse kann ich hingegen nicht viel anfangen...
Bravo. "Elfenbeinturm" und "marxistisch" - zwei Schlagwörter, um die Diskussion über Rassismus (denn darum geht es hier letztlich) zu desavouieren, ohne sich mit den Argumenten auseinanderzusetzen. Die Machtverhältnisse, von denen die Rede ist (und von denen die hier diskutierten Manifestationen im Kulturbereich nur ein Aspekt sind), haben nichts von einem Elfenbeinturm. Die damit verbundenen Verletzungen - Marginalisierung, Ausbeutung, Unterdrückung bis hin zu Tötungen (Black lives matter!) - sind im Gegenteil sehr real. Im Elfenbeinturm der Privilegien lebt, wer es sich leisten kann, Strukturen der Ungerechtigkeit schlicht zu ignorieren.
Punkto Machtverhältnisse und so haben Sie recht, Frau J. Aber dieses Scharmützel ist so weit weg vom Schlachtfeld, dass der Zusammenhang jedesmal mühsam rekonstruiert werden muss - wenn man es denn überhaupt hinkriegt. Und der Ausgang dieses Scharmützels ist irrelevant für die wichtige Schlacht. Konkret: Wenn die Band der Lorraine ihre Haare schneidet und kämmt und nur noch Hudigääggeler spielt, spürt kein Schwarzer in den USA eine Verbesserung seines Lebens. Weder direkt noch indirekt in hundert Jahren.
Vielleicht kommt die Häme, die rechte Kreise wegen dem Vorfall in der Lorraine ausgiessen, daher, dass Woke-Linke keine Beschränkung und Verhältnismässigkeit kennen? Die gleiche Schlacht überall schlagen wollen, auch abseits der Betroffenen? Sich dem Verdacht aussetzen, dass das moralische Handeln zum Selbstzweck geworden ist?
Vielen Dank für einen super Beitrag! Sehr differenziert und mit viel Hintergrund, was weiteres Verstehen und Recherchieren ermöglicht! 💯
Und wenn das Problem ein sprachliches wäre? Und im Begriff "Aneignung" läge? Weil, Aneignung liegt nahe bei Enteignung und impliziert Wegnehmen. Doch Kultur
ist eben kein materielles Ding. Materielle Dinger werden weniger, wenn man sie nutzt. Kulturelle Dinger werden mehr und wertvoller, je mehr sie genutzt und geteilt werden. Und einem Kulturschaffenden schadet man nicht mit dem häufigen Genuss seiner Werke, sondern mit dem Boykott. Was in der Lorraine - unabsichtlich - geschah.
Jens Balzer präzisiert zudem richtig: Aneignung geschieht erst dann, wenn man die Urheber verleugnet und das Werk sich selber zuschreibt. Das geschah in der Lorraine nicht, Reggae und Rasta leisten Jamaika schon selber Referenz.
Also: was kulturelle Aneignung genannt wird, ist meist keine Aneignung. Aber Kultur.
"Doch Kultur ist eben kein materielles Ding." – falsch. Schlagen Sie dazu den Begriff "Material Culture" nach. Was gehört nebst "geistigen Kulturgütern" noch zur Kultur? Werkzeuge, Waffen, Utensilien, Maschinen, Ornamente, Kunst, Gebäude, Denkmäler, schriftliche Aufzeichnungen, religiöse Bilder, Kleidung und alle anderen von Menschen hergestellte oder verwendete Gegenstände.
Und auch "Kulturelle Dinger werden mehr und wertvoller, je mehr sie genutzt und geteilt werden" ist falsch, etwa im Falle von materiellen Symbolen von Protest - wie Haartrachten wie Afro-Frisuren oder Kleidungsstücke wie Arafat-Tüchern -, die nicht nur durch den inflationären Gebrauch, sondern auch durch die kulturelle Appropriation und Kommerzialisation durch den kapitalistischen Markt an Bedeutung und Wert verlieren.
Mit der falschen Prämisse ist auch ihre Folgerung falsch.
Dass es keinen Unterschied gebe zwischen der Aktivität von Kultuschaffenden und Herstellern von Hundefutter oder Aktienderivaten, in dem Glauben belasse ich Sie gerne, ohne ihn zu teilen.
Ich gebe Ihnen aber recht: Kommerzialisierung kann vermutlich schon auf Aneignung hinauslaufen. Kann man aber in unserem Fall der Band weder bezüglich ihrer Musik noch ihrer Frisur unterstellen.
Zu unterscheiden wäre zwischen Aneignung (Urheberrechtsverletzung) und Anmassung (mangelnde kulturelle Sensibilität).
Vielen Dank für diesen klugen Kommentar.
Ja, der Begriff der Aneignung sollte sich auf Beispiele beschränken, wo eine Kultur oder einzelne Menschen nachweislich bestohlen werden (Urheberrechtsverletzungen). Ich empfehle den Film "Unerhört jenisch".
Für die Thematik von Würde und Respekt braucht es andere Begriffe. Diskutieren wir also weiter.
Danke für das Erklären der Hintergründe dieser Aufreger.
Was ich klarer lesen möchte: Kultur ist das eine, Vermarktung etwas anderes. Lebendige Kultur ist Mischung und Entwicklung, gutgemeinte Forderungen nach kultureller Apartheid sind, was sie sind. Rassistische Vermarktung und Verbreitung durch Einheitsbrei in Radio oder anderen Kanälen soll angeprangert und bekämpft werden.
Vielen Dank für diese fundierte Einordnung der Debatte und die interessanten kulturhistorischen Ausführungen. Ich habe mich über den erwähnten Artikel in der NZZ sehr aufgeregt (und das von einem Menschen, der eine Professur innehat!) und bin froh um diesen differenzierten Beitrag. Nachdem ich mich über den Kommentar von Alfred Bodenheimer ("unterwegs zu einem völkischen Kulturverständnis") so enerviert habe, ist die Parallele zu Paul Gilroy natürlich sehr interessant. Sie zeigt auf, dass in der Debatte darüber, wie "kulturelle Emanzipation und Befreiung" erreicht werden kann, mit guten Argumenten unterschiedliche Positionen vertreten werden können. Der von Alfred Bodenheimer gezogene Vergleich zwischen der aktuellen Debatte um cultural appropriation und der Entfernung jüdischer Künstler*innen von deutschen Orchester- und Theaterbühnen während des Nazi-Regimes zeugt allerdings m.E. von einem tiefen Unverständnis dessen, worum es bei der Kritik der cultural appropriation eigentlich geht. Die Problematik liegt nicht einfach darin, dass sich jemand "fremder" kultureller Ausdrucksformen bedient, sondern darin, dass diese "Aneignung" innerhalb einer spezifischen gesellschaftlichen Hierarchie erfolgt. Auch im kulturellen Bereich wurden (und werden) Schwarze in den USA von "weissen" Institutionen weitestgehend ausgeschlossen bzw. auf bestimmte Rollen reduziert, während sich Weisse an der afroamerikanischen Kultur wie in einem Selbstbedienungsladen bedienen und dafür Anerkennung und kommerziellen Erfolg ernten. Die Debatte über kulturelle Aneignung kann nicht einfach unter Ausblendung der gesellschaftlichen Verhältnisse von Macht und Dominanz geführt werden. Insofern stehen der Ausschluss jüdischer Künstler*innen in Nazi-Deutschland und die heutige Kritik an weissen Hip-Hop oder Reggae-Musiker*innen gerade unter umgekehrten Vorzeichen. Die "Aneignung" durch die dominante Klasse stösst verständlicherweise dort besonders sauer auf, wo es um musikalische Ausdrucksformen geht, die im Kontext von (und auch als Form des Widerstands gegen) Ausbeutung, Ausgrenzung und Verfolgung entstanden sind. Was würde Alfred Bodenheimer wohl zu einer Klezmer-Band sagen, die jiddische Texte interpretiert und nur aus nicht-jüdischen Deutschen besteht? (gibt es solche Bands? ich kenne mich in der Klezmer-Szene nicht aus...)
liebe frau J.
Zu ihrer frage von klezmer-bands. ich kenne viele kleine ensembles in deutschland und in der schweiz, die klezmer spielen, ohne dass alle einzelnen musiker einen jüdischen hintergrund haben. das ist m.e. ein vollkommen ungeeignetes beispiel für die diskussion um kulturelle approbation. ich selber bin laien musiker, spiele seit vielen jahren u.a. klezmer und tango in unterschiedlichen formationen. das tut man ja nur, weil man ein sehr persönliches, emotionales verhältnis zu einem musikstil hat. wo genau sollte hier ein problem liegen? ich bin von israelischen musikern darin unterrichtet worden. hätten diese ihrer meinung nach nur schüler:innen mit jüdischer herkunft in klezmer unterrichten sollen? ich habe jüdische freunde, die mit mir beethoven spielen (ich weiss, sie werden einwenden, das sei wiederum eine andere ebene). diese freunde sind glücklich, wenn wir neben beethoven auch gershwin oder klezmer spielen, darunter stücke auch von nicht jüdischen komponisten ( deutscher herkunft….).
die frage nach den beispielen, die man im rahmen dieser diskussion hinzu zieht, zeigt, wie komplex die ganze frage ist. es gäbe hierzu unzählige weitere beispiele, wie in der musik stile aus aller welt aufgenommen und übernommen werden, häufig auch ohne komerziellen hintergrund.
klezmer - aufgrund seiner herkunft in osteuropa und später über die auswanderer:innen in die usa, wo die ersten grossen klezmer bands mit klingenden namen entstanden sind, taugt eher für eine positiv gesehene, wenn auch erst viel später entstandene übernahme eines stils durch die musikwelt. klezmer wird heute nicht nur an jüdischen hochzeiten intoniert. die tatsache, dass diese musik überall auf der welt bekannt geworden ist und gespielt wird, wird von meinen jüdischen freunden mit begeisterung aufgenommen. mit freundlichem gruss kh
Also hat Michael Jackson Ihrer Definition nach keine "kulturelle Aneignung" betrieben? Bei ihm war ja die Aneignung nach "oben" gerichtet, und nicht nach "unten".
Michael Jackson ist in meiner Wahrnehmung und nach meinem beschränkten Wissen eine extrem schillernde und ambivalente Figur, und ich kenne sein Leben, sein künstlerisches Werk und dessen Einordnung in die Pop-Geschichte schlicht zu wenig, als dass ich dazu etwas sagen möchte (oder spielten Sie etwa auf die Hautfarbe an?). Aber vielleicht ein anderes Beispiel: Es ist nach meinem Verständnis (anders als in der Definition von Susan Scafidi?) nicht "kulturelle Aneignung", wenn eine Schwarze Frau Ballett tanzt. Der Unterschied: Die Möglichkeit, als Schwarze Ballett zu tanzen, musste (und muss) gegen viele Widerstände erkämpft werden. Demgegenüber nutzen Weisse, die Formen des kulturellen Ausdrucks von Schwarzen und people of colour kopieren, bewusst oder unbewusst ihre privilegierte Stellung (die mitunter gerade darin besteht, frei wählen zu können, ob man lieber zu klassischer Musik tanzt oder Blues spielt), und erlangen oftmals Erfolge und Sichtbarkeit, die Schwarzen Künstler*innen verwehrt bleibt. Entsprechend handelt es sich meinem Verständnis nach bei der Debatte um cultural appropriation weniger um eine Diskussion darüber, wem welche Form des kulturellen Ausdrucks "gehört", sondern um eine Kritik an gesellschaftlichen Bedingungen der Ungleichheit. In einer utopischen Gesellschaft, in der alle die gleiche Anerkennung geniessen, würde sich die Diskussion erübrigen, und es ginge wirklich um ein Teilen, Austauschen und Fortentwickeln auf Augenhöhe - und eben nicht um "Aneignung".
Was vermutlich im Artikel keinen Platz mehr hatte, aber ebenfalls unter dem Titel "kulturelle Aneigung" läuft, ist der (kulturelle) Überlebenskampf der nordamerikanischen Ureinwohner bzw. deren Versuch, ihre eigenen kulturellen, sprachlichen und historischen Wurzeln wiederzufinden. Denn wir mögen "Indiänerlen" als romantisch ansehen - für diese Menschen und Ethnien geht es teilweise auch heute noch ums nackte kulturelle und wirtschaftliche Überleben. Wer sich mit dem Thema befassen mag, dem kann ich die Cherokee-Autorin Andy Smith ans Herz legen oder Websites wie "The people's paths" (http://www.thepeoplespaths.net/ )
Ich hoffe, dass wir uns jetzt und in der Zukunft Minderheiten gegenüber so verhalten werden, dass wir später nicht solche Debatten führen müssen. Ich war nicht an dem Konzert, aber dass man sich ob einer Band von weissen Männern mit Dreadtlocks so ereifern kann, finde ich schon befremdend.
Der Mensch ist doch der Imitations- und Adaptationkünstler schlechthin. Wenn wir etwas wirklich gut können, dann das. Solange wir uns kulturelle Elemente mit Respekt aneignen, sollte das doch in Ordnung sein.
Jede politische Gemeinschaft kann nur eine begrenzte Zahl von Problemen lösen.
Denn Zeit und Aufmerksamkeit sind endlich.
Die Schweiz hätte eine ganze Menge von wichtigen Problemen zu lösen.
Da besorgt es mich zutiefst, wenn politische Parteien und Medien sich ausführlich empören über folgendes wichtige Problem der Schweiz:
Eine lokale Band hat auf Druck aus dem Publikum ein kleines Konzert nicht fertig gespielt.
Denkt da noch jemand an die Minarettinitiative?
Ich bedanke mich für diesen gehaltvollen Artikel. Er zeigt, dass die Aufregung über die Dreadlocks im Grunde viel Ähnlichkeit hat mit der Haltung der Kritiker, die das Thema "kulturelle Aneignung" ganz abtun. Nämlich machen beide Lager klare kulturelle Zuordnungen und ziehen klare Grenzen, was wohin, zu wem, etc. gehört. Leider (weil es alles komplizierter macht) aber eigentlich zum Glück (für uns) gibt es diese klaren Grenzen zwischen Kulturen nicht. Menschen wandern, tauschen sich aus, inspirieren sich - Gesellschaften verändern sich, passen sich an neue Bedingungen an... und die Suche nach dem Ursprung resp. der Besitzhoheit eines Kulturgutes führt zu keiner Klärung im Hier und Jetzt. Wir sollten über die Machtverhältnisse sprechen, die über kulturelle, gesellschaftliche Aktivitäten ausgedrückt werden, diese kritisch betrachten und daraus Schlüsse ziehen. Nur ist das nicht so einfach, wie sich über Dreadlocks aufregen resp. sich über die Aufregung aufzuregen.
Im Titel des Buches «Who Owns Culture? Appropriation und Authenticity in American Law» ist bereits eine kulturelle Aneignung vorhanden; indem "USA" mit Amerika und somit ein Land mit einem ganzen (Doppel-)Kontinent gleichgesetzt wird. Susan Scafidi weist darauf sogar in einer Fussnote selbst hin (9). Sie verzichtet allerdings aufgrund des "gängigen rechtlichen Sprachgebrauchs" darauf, konsequent von "US-American" oder "USA" zu sprechen. Dies ist doch einigermassen verwunderlich; man würde meinen, dass gerade "selbstverständliche" Begriffe in so einem Werk kritisch hinterfragt werden sollte. Nur schon deswegen, weil sich viele Lateinamerikanerinnen und -amerikaner selbstverständlich als "Amerikaner" verstehen und sich am monopolisierenden Sprachgebrauch der USA stören.
Danke. Ich habe mich von vor 6(?) Jahren darüber gewundert, wie Donald Trump immer von "Make America Great Again" sprach, obowhl er ja explizit gegen Mexikaner gewettert hat und die Mauer-Fantasien hat(te).
Mir kommt dieses Thema vor, wie eine Initiative für die reine Kapitalismus-Ideologie: wollt ihr den totalen Kapitalismus? Alles und jedes soll Eigentum von einer Person, Gruppe oder gar einem „Volk“ sein, welches dann das „Recht“ habe, dies zu vermarkten und Gewinn daraus zu erzielen. Da ist mir die Open-Source Bewegung doch viel sympathischer, diese erfreut sich am Teilen und ermöglicht anderen, das „Produkt“ weiterzuentwickeln. Alles „wirklich Menschliche“ baut auf Empfangen, Teilen und Schenken auf, angefangen bei der Geburt, beim Stillen, Pflegen und Liebkosen.
Ich bin zwar entschieden gegen ein Reinheitsgebot in der Kultur, aber dieses Verständnis von 'cultural appropriation' scheint mir dann doch sehr reduktiv zu sein. Es gibt nun mal auch in der Kultur Machtverhältnisse, die einen wertfreien 'Open-Source'-Ansatz zumindest sehr kompliziert machen. Und auch wenn mir ein anti-kapitalistischer Ansatz sympathisch ist: in der Praxis ist es dennoch so, dass aus kultureller Aneignung vielerlei Arten von Profit geschlagen werden, oft eben auf Kosten der Kulturen, die nicht dominant sind.
Vielen Dank, liebe Republik, für diesen Artikel, der dazu anregt, über diese doch recht komplexe Angelegenheit nachzudenken und sich zu informieren, um das Ganze einordnen zu können und seine eigenen Denkmuster und Verhaltensweisen zu überdenken und hinterfragen, gänzlich ohne sich dabei empören zu müssen.
Btw musste ich eben grad grinsen, über die tragikomische Situation, die sich für Lauwarm nun ergeben hat. Die Band wurde auf einen Schlag schweizweit bekannt, allerdings nicht durch das Spielen ihrer Musik, sondern durch das Aufhören damit und hat nun eine Fangemeinschaft, die vorher undenkbar gewesen wäre: (Junge) SVP'ler und Füdlibürger.
Ich bin Musiker im Orchester von Granada. Ich will nichts zur politischen Diskussion beitragen, da bin ich mehr Zuhörer.
Ich habe viele Male gelesen, dass dieses "Aneignungsproblem" eher in USA und GB vorhanden ist. Wir haben in Spanien den Flamenco. (Natürlich gibt es in Europa mehr Beispiele, Kletzmer etc.)Er ist im Mix von arab., jüd. und "gitano" Kulturen entstanden. Drei NICHT herrschende Kulturen.
Mein Punkt: die gegenseitige positive Beeinflussung verschiedener musikalischer Kulturen, ohne Wertung. (Fusion?)
Der Flamencomusiker, mit dem wir am meisten zusammengearbeitet haben, war Enrique Morente, selbst payo, also nicht gitano.
Von hier gehen viele Verzweigungen ab.
Die "Großmutter " des "schweizer " Flamencos war Susana, die dann ihrerseits Nina Corti inspiriert hat.
Der Mann Susanas hieß mit Künstlernamen Antonio Robledo, ein Hannover, war der Komponist der in "Allegro soleá" ein klassisches Orchester (wir!) mit Flamencomusikern, Enrique Morente, Pepe Habichuela etc.zusammengebracht hat, 1990.
Derselbe Enrique Morente veröffentlichte in 1996 Omega, eine Zusammenarbeit mit der "granadinischen" Rockband Lagartija Nick.
Andere Verzweigung: im Jahre 1922 fand der erste "Concurso de Cante Jondo" in Granada statt. Organisiert u.a. von zwei payos, Federico García Lorca und Manuel de Falla.
(Grund, warum wir drei Konzerte mit der Thematik Flamenco spielen werden, unter anderem Alegro soleá, mit dem Sohn des verstorbenen Enrique, Kiki Morente. )
Warum diese ganze Liste?
Wie schon bei der erwähnten Freundschaft zwischen B.B.King und Eric Clapton, wo es sicher nicht um Machtspiele ging, eher um freundschaftliche Duelle (I can better than you…), habe ich erlebt und erzählt bekommen, was wichtig war und ist, bei kulturellen Zusammenarbeiten:
DER DIALOG UND DARAUS ENTSTEHENDE FREUNDSCHAFTEN.
Übrigens, es ist mir noch eine Verzweigung eingefallen. Wer kann sich noch an den iranischen (!!!) Alphornbläser der Pepe Lienhard Band in "Swiss Lady" erinnern?
Er heißt Mostafa Kafai Azimi.
Hat sich damals glaube ich niemand aufgeregt.
Das ist eine Nicht-Debatte, die künstlich aufgeheizt wird. Auch dieser Text, der hier dutzendfach gelobt wird, hat keine Substanz. Ich sehe mich als eine anti-woke Stimme von links.
Die Musikhintergründe sind vereinfacht und falsch und die Indianderhintergründe sind noch falscher.
Man soll und kann nicht die amerikanische Empörungskultur auf Europa abbilden.
Im Grunde kann man enttäuscht sein, dass übernommene Kulturelemente aus dem Kontext gerissen sind oder es kann einem nicht gefallen, aber das Problem ist, wenn man Menschen, die Kulturelemente übernehmen, es nicht gönnt. Man kann sich das Original ansehen und man wird nicht gezwungen, sich den Remix anzusehen.
Das passt auf alle übernommenen Kulturelemente, Riten, Essen, etc. Die Empörungsdebatte ist nicht in sich schlüssig und nicht konsequent. Es ist eher ein Kampf um Aufmerksamkeit.
Sie trinken Kaffee? Übernommen aus Arabien und dem osmanischen Reich. Sie bereichern sich durch Kaffeeverkauf? Empörung pur.
Ich habe den Text eher als "anti-empörend" gelesen. (Also nachdenken statt poltern.) Er geht darauf ein, dass es eben etwas komplizierter ist als es die Sommerlochvereinfachungen vermuten lassen. Aber es ist auch schwierig in einem solch "kurzen" Text alle Aspekte angemessen und mit nötiger Präzision zu würdigen, das kann schon sein.
"Kulturelle Aneignung pauschal und per se zu geisseln, fällt weit hinter die Komplexität der Sache und den längst erreichten Reflexionsstand der Debatte zurück. Das gilt jedoch mindestens ebenso sehr für das Anti-Wokeness-Ressentiment von rechts, wo man glaubt, sich der Diskussion mit einem ebenso apodiktischen wie simplifizierenden «Kultur ist eben nun mal Aneignung» entledigen zu können."
Dass das "Anti-Wokeness-Ressentiment von rechts" auf diesen Fall aufgesprungen sind, überraschte nicht. Die Ironie ist, dass gerade jene, welche sonst auf die Reinheit der eigenen Kultur und Gesellschaft beharren nun auf Durchmischung pochen. Auf die "gutbürgerliche" notabene. Entlarvend, geht es ihnen doch nur darum, die Privilegien der Besitzenden und Eigentümer zu verteidigen. Appropriation in Reinkultur sozusagen.
Eher überraschte und enttäuschte das "Anti-Wokeness-Ressentiment von LINKS" (oder von wo auch immer), das mit derselben Argumentationsweise in die exakt selbe Bresche schlägt und das Anliegen um den kritischen Begriff der "kulturellen Aneignung" ins Lächerliche zieht und damit diskreditieren will. Etwa wenn ein Jürg H. schrieb: https://twitter.com/halterjuerg/sta…_2U-PeEO6A
"Kultur ist Aneignung. Lasst uns die Kultur verbieten! Evolution ist Aneignung. Lasst uns die Evolution stoppen! Lasst uns alle Bücher, Platten, Bilder, Theater, Clubs, Festivals, Flugzeuge, Züge, Schiffe, Universitäten und das Internet anzünden, damit wir uns endlich wohlfühlen!"
Gerade von jemandem wie ihm hätte man einen ähnlich differenzierten und der Komplexität würdigen Beitrag erwartet (wie den von Balzer hier). Stattdessen nur billige Polemik, die der Rechten in nichts nachsteht. Aber er schreibt ja mittlerweile auch in der NZZ, wo er sogar als "Dissident" hochstilisiert wird. Auch er ist leider offenbar nur ein "Alter Weisser Mann" geworden. Schade.
https://www.nzz.ch/meinung/cancel-c…ld.1626646
https://www.nzz.ch/schweiz/der-diss…ld.1598385
Vielen Dank für den Artikel und die unempörten Gedanken. In den letzten Wochen suchte ich öfters in der republik-App nach Texten zur kulturellen Aneignung, da ich die Hysterie der Ereignisse in der „Brass“ trotzt sehr linkem Gedankengut schwer nachvollziehen konnte und mir in anderen Medien die Tiefe fehlte.
Das Bewusstsein über die teils koloniale Vergangenheit und die Forderung nach einer Aneignungsethik leuchtet mir total ein. Mich würde es interessieren, ob jemand eine Meinung hat, wie dies in Zukunft geschehen soll? Wie kann es möglich sein, dass eine Band wie Lauwarm einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Thema an den Tag legt und gleichwohl in Zukunft Reggae-Konzerte veranstaltetn kann? Geht es nicht auch darum, wie und in welcher Absicht eine Kultur übernommen wird?
Das würde mich auch interessieren: Wie würde denn eine gute Praxis aussehen, zum Beispiel in der Musik? Und was ist da überhaupt die "eigene" Kultur? Ich bin Schweizerin mit teilweise italienischen Wurzeln und spiele Jazz und Blues, was ja - wenn man dieser Debatte folgt - hochproblematisch ist. Ich frage mich aber schon: Was wäre denn überhaupt meine "eigene" Kultur? Ich bin nicht in einem bäuerlichen Milieu mit Ländler und Jodel aufgewachsen, sondern hörte als Kind John Coltrane und Miriam Makeba, wenn mein Vater Platten hörte oder Mozart, wenn meine Mutter auflegte oder Benny Goodman und Louis Armstrong bei den Nachbarn. Was mir in dieser ganzen Debatte sehr fehlt, sind konkrete Vorschläge, wie es gemacht werden soll und nicht nur Aufrufe, das Problem zu sehen (ist zwar wichtig, aber einfach noch nicht die ganze Miete).
Das wichtigste ist RESPEKT!
Wir leben seit längerem in einer Welt des schnellen und über Medien (+Internet) extrem einfachen Kulturaustausches. Zum Glück haben die meisten Menschen unterdessen auch kapiert, dass Kulturgut wertvoll ist, dass Kulturaustausch Grossartiges erschaffen kann.
Es geht darum, die Quellen zu nennen, zu respektieren und - warum auch nicht - gebührend zu ehren.
Guter Text. Lang - und dennoch berührt er gewisse zentrale Fragen des Themas nicht: Wenn etwas von "einer Kultur" wäre, dann müsste definiert sein von WANN (zeitlich) man von dieser einen Kultur spricht. Denn diese hat sich im Laufe der Jahrhunderte völlig verändert.
Dahinter steckt bereits das gefährliche Denken der "Reinheit".
Dann - es geht bei Uebernahmen von kulturellen Ausformungen beileibe nicht um weiss und schwarz, sondern die Uebernahmen kultureller Ausformungen fanden und finden seit Anbeginn der Menschwerdung global statt. Manchmal mit Machtgefälle, manchmal nicht.
Drittens - geht man vom Gespräch über Dread locks (sic...) aus- dann sind diese klar kein weisses kulturelles Zeichen. Wenn der Reggae-Musiker seinerseits Jeans trägt, appropriert er ein kulturelles Zeichen der ihn "unterdrückenden" Kultur. Das soll dann erlaubt sein und als Zeichen von "Widerstand" stehen, oder darf in diesem Fall ein bisschen unsauber gedacht, bzw. sich angekleidet, werden? Müsste ein Reggaeaner nicht in was-weiss-ich-für- native-Kleider seine Musik spielen?
Die Uebernahme kultureller Ausformungen anderer Menschen/Kulturen ist a) ein ewig Dagewesenes etwas, vollkommen sinnlos es jetzt eingrenzen zu wollen und b) zeugt von der unendlichen Flexibilität der Menschen, die c) das Uebernommene überarbeiten, anpassen müssen, bevor das Element in die eigene Kultur integriert werden kann. Es ist also keinesfalls "das gleiche", wie vor der Umformung.
Anstatt dass Menschen sich darüber freuen, dass gewisse Anteile ihres Alltags woanders, modifiziert, auftauchen, versucht man sich nun in der "Reinheits-Diskussion".
Welche Schlagwörter und Ideologien hinter dieser Diskussion stecken, wissen wir zur genüge.
"Drittens - geht man vom Gespräch über Dread locks (sic...) aus- dann sind diese klar kein weisses kulturelles Zeichen. Wenn der Reggae-Musiker seinerseits Jeans trägt, appropriert er ein kulturelles Zeichen der ihn "unterdrückenden" Kultur. Das soll dann erlaubt sein und als Zeichen von "Widerstand" stehen, oder darf in diesem Fall ein bisschen unsauber gedacht, bzw. sich angekleidet, werden? Müsste ein Reggaeaner nicht in was-weiss-ich-für- native-Kleider seine Musik spielen?"
Die grundsätzliche Idee hier ist nicht, dass Kulturen 'rein' bleiben müssen (wobei es leider wohl auch diese Ausprägung gibt), sondern dass das Zwischenspiel der Kulturen meistens in einem Machtgefälle stattfindet. Als Beispiel: wenn Elvis der 'African American culture' Musikstyle und -traditionen abschaut, damit erfolgreich wird und viel Geld macht, weil zu der Zeit und in der Kultur weissen Musikern mehr Optionen offenstehen, dann ist dies nicht das gleiche, wie wenn ein Musiker aus der 'African American community' bei weissen Bands 'abschaut', weil es da schon strukturell Riesenunterschiede darin gibt, welche Möglichkeiten dieser Musiker hat. Für mich ist es diese Diskussion, und die Frage, wie man damit umgeht, die weitaus ergiebiger ist als diejenige nach Authentizität.
Das "Reinheits"konzept ist immanent bei solchen Diskussionen, finde ich. Zu Ende gedacht landen wir genau dort.
Die vermeintlichen "Machtgefälle" m.M. nach oft herbeigeredet, denn die Uebernahme gewisser punktueller Ausprägungen einer "Kultur", bzw. viel eher "Sub-Kultur", hat oft nichts mit Macht, sondern mit Ideen, Wünschen, etc zu tun.
Zudem ich bin der dezidierten Meinung, dass, wenn kritisiert wird, dass a von b nimmt, und dies "falsch" ist, man ebenso kritisieren muss, dass b von c oder d genommen hat.
Die Umdrehung der Appropriation wie Sie es definieren, scheint mir doch sehr eigenartig und vollkommen nicht zu verstehen, ausser vom ideologischen Standpunkt aus. Wenn also ein schwarzer Musiker, sagen wir, die elektrische Guitarre von einer "weissen" Band übernimmt, soll das i.O. sein? Umgekehrt wäre dies "Gewalt"?
Und wenn eine -hauptsächlich schwarze- Kultur ein Musikinstrument einer anderen Kultur (zB der chinesischen) "appropriiert", ist das denn was? Ok, nicht ok, halbwegs ok, wenn. ...?
Das ist doch hanebüchen, wenn jemand mich fragen würde ... man missachtet das Leben, besonders im Kulturellen. Genau dort, in der Kultur, sind die Grenzen fliessend, gottseidank, und offen, ebenfalls gottseidank, und die Menschen zu Vermischungen fähig, die sie an anderen Orten nicht sind.
Die Diskussion um diese "Appropriation" , diese seichte Sichtweise des Lebens, führt in die Reinheitsdiskussion, ohne wenn und aber. Ein mit einer dünnen Maske verkleideter Faschismus lauert dahinter.
Ich möchte hier widersprechen, denn aus Sicht des Musikers ist es exakt dasselbe: es ist sich bei anderen Künstlern inspirieren lassen. Wenn eine Gesellschaft den einen Künstler dem anderen wegen seiner Hautfarbe bevorzugt (und nicht wegen der Qualität des Werkes), dann ist das ein Zeichen für den Rassismus dieser Gesellschaft.
Es gibt nur noch Zuordnungen; wer was darf wer nicht. Die Annäherung, die Neugier, das Interesse für etwas nicht Bekanntes wird jetzt schubladisiert. Brave new world, hat Aldous Huxley beschrieben. Wir lieben alles, was wir kennen, let‘s get exited. Mamma mia, wir reisen, wir sind auf dieser unendlichen Welt? Wir stehen vor nicht einflussbaren Entscheidungen; who’s going to win the game? Und beschäftigen uns mit was? Ja, wir hier, können uns dies noch leisten. In diesem Sinne wünsche ich euch weiteres Hin und Her. Ich bin eine Bürgerin der Welt, mit allen Konsequenzen. Und weiss nicht was das heisst für mich. Hier.
Ich habe in vielen Ländern gearbeitet und gelebt. Nach allen gelesenen Voten? Zum Thema? Ich bin ratlos.
Danke für diesen differenzierten und klugen Artikel. Zentral in der Aneignungsdebatte ist für mich das Thema "Identität" in seiner politisch/ psychologisch/ kulturellen Dimension. Empfehlung: Amartya Sen: Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit (Hanser- Verlag).
Ich kann mich voll mit dem Beitrag identifizieren. Wo Kulturen neben/miteinander existieren verschmelzen sie, schon seit Jahrtausenden. Selbst Jesus dürfte nach römischer Mode unterwegs gewesen sein (z.B.) ... Reibereien vorprogrammiert und vermutlich passt das jetzt auch nicht unbedingt ins Weltbild so mancher gläubiger Christen.
Beelendend finde ich aber tatsächlich, wenn sich jetzt Rechte als Hüter der Dreadlocks aufspielen, während die Massen mitgrölen als wär man aufm Ballermann.
Vielen Dank für diesen erhellenden Beitrag. Mit solchen Handlungen bleibt es stets einfach, die Linke ins Lächerliche zu ziehen. Ich wünschte mir in solchen Situationen, dass sich rechts-konservative Aktivist:innen in ähnlicher Weise gegenseitig ins Knie schiessen würden und so auch ihre Seite vor der breiten Öffentlichkeit gleichsam der Lächerlichkeit preis gäben.
Es ist immer einfach, den Gegner ins Lächerliche zu ziehen, wenn man es darauf anlegt. Inwiefern ist "die Linke" überhaupt in dieses Ereignis involviert? An einem Konzert empören sich einige Leute, die Veranstalter reagieren aus Sicht Vieler überzogen. Wo ist hier die Linke involviert? Die Zuschreibung geschieht erst im Kommentar dazu aus der rechtsextremen Ecke.
Ich meinte damit, dass Themen wie soziale Gerechtigkeit, Woke-ism, kulturelle Aneignung oder Cancel culture linke Themen sind und diese durch überbordernde Anwendung (aus Elementen der Linken) in der Öffentlichkeit nicht mehr ernst genommen werden.
Mit rechtsextrem hat das nichts zu tun. Wenn ich mich heute 2022 in meinem, doch ziemlich linken Umfeld für die oben genannten Themen ausspreche, dann werde ich mittlerweile sehr kritisch empfangen (und diese Kritik hat auch ihre Berechtigung).
ich verstehe das Ganze nicht! Wenn man schon kulturelle Aneignung anprangert, was ist dann mit den nicht farbigen Musikern, welche klassische, europäische Musik sich "aneignen"? Sollte man sich nicht besser freuen, wenn andere auch die eigene Kultur mögen?
Auf wen beziehen Sie sich, wenn Sie sagen "man prangert an"? Weil: Der Artikel geht ja eben genau darauf ein, dass nicht alles so einfach ist und weder ein Aneignungsverbot noch eine Aneignungsfreiheit das Thema richtig würdigt. Es kommt sehr auf den Kontext an. Wenn wir uns auf ein Beispiel konzentrieren (Ihres?) und zu einem Konsens kämen, könnten wir das nicht automatisch auf alle anderen Situationen übertragen. DAS gilt es zu verstehen. (Oder verstehe ich Sie falsch? Dann entschuldige ich mich:)
In der Debatte um kulturelle Aneignung geht es im Kern eben darum herauszuarbeiten und zu kritisieren, dass es zwischen Weissen und Schwarzen Menschen ein Machtgefälle gibt. Man soll unterscheiden zwischen einer dominanten/herrschenden und dadurch profitierenden Gruppe (weisse Personen) und einer unterdrückten und dadurch systematisch diskriminierten und ökonomisch benachteiligten Gruppe (PoC). Im Kontext der USA sind es zwei Gruppen einer Gesellschaft, global gesehen sind auf einer anderen Ebene dann eher Kulturen bestimmter Länder oder von ethnischen Gruppen.
Es ist deshalb gemäss diesem Konzept eben nicht das selbe "sich aneignen", weil die gesellschaftliche Rolle (Unterdrücker oder Unterdrückte) berücksichtigt werden muss.
Vielen Dank für den sachlich-klugen Beitrag. Wesentlich ist die Unterscheidung zw. den seit Jahrtausenden nachweisbaren Imitationen und dynamischen Veränderungen, die in der mimetischen Veranlagung von Menschen verankert ist (vgl. Robert Cantwell, Ethnomimesis 1993) und der wirtschaftlichen ebenso wie politischen Nutzung. Mit der Illusion von ganzheitlichen, abgeschlossenen Kulturen zu arbeiten ermöglicht nicht nur Profit sondern auch ethnische und nationalistische Abgrenzungen - neben der Xenophilie, die in der Aneignung mitschwingt, gibt es die Xenophobie.
Scafidis Ansinnen wird schon seit Jahrzehnten von der World Intellectual Property Organization erheblich sensibler erkundet. In einem ihrer Sub-Kommittes versucht man dort, Möglichkeiten des Schutzes von kulturellem Eigentum, etwa im Ethnopharma-Bereich, zu erreichen. Wie schier unmöglich dies bleibt, lässt sich u.a. in Stefan Groths Negotiating Tradition, 2012, nachlesen (online gratis downloadbar https://www.univerlag.uni-goettinge…6395-100-9). Welchen Beitrag hierzu wiederum das Kulturerbe Regime leistet, zeigt Valdimar Hafstein in seinem Making Intangible Heritage, 2018, und dem für die "appropriation" Debatte sehr hilfreichen Film "The Flight of the Condor" (gratis zu sehen hier: https://flightofthecondorfilm.com).
Buchempfehlung: Kampfabsage. Kulturen bekämpfen sich nicht - sie fließen zusammen -- Ilija Trojanow, Ranjit Hoskote
Für mich ist jegliche cancel culture protototalitär! Ich vermute mal, hier sind sich die meisten grundsätzlich einig über die Anprangerung von kultureller Unterdrückung, Aneignung, Ausbeutung etc., aber die Ziele des Protest sind meines Erachtens die falschen. Mir kommt der Spruch «gegen oben bücken und gegen unten treten» in den Sinn. Nicht eine Dreadlocks tragende weisse Band sollte das Ziel des Protests sein, sondern diejenigen, die Profit aus Aneignung ziehen. Algorithmus-Verantwortliche bei Tik Tok, nicht Menschen, die dort was auch immer für Videos posten, Colonel Parker, nicht Elvis, MTV, nicht diejenigen, die dort zu sehen sind, Live Nation, nicht, die Künstler:innen, die dort unter Vertrag stehen, etc., etc.
Haben beispielsweise die Stones die afroamerikanische Kultur ausgebeutet oder sie breit bekannt gemacht? Viele ursprüngliche Bluesmusiker habe ich überhaupt erst durch die Beschäftigung mit den «weissen Ausbeutern» kennengelernt, und dann ihre Platten gekauft. Selbst Polo Hofer, der (im Gegensatz zu den Stones) einen etwas «freihändigen» Umgang mit seinen Covern (auch weisser Musiker) pflegte, hat doch unbestritten viel dazu beigetragen, diverseste Musik in die Schweiz zu tragen und bekannt zu machen …
Wenn man nichts gegen unbestritten unerträgliche Verhältnisse ausrichten kann, ist einem wenigstens unwohl?
Ich gehöre zu jenen, die die Episode in Bern (Band Lauwarm) und die Vorgeschichten aus Deutschland (Ausladung einer Musikerin etc.) mit Kopfschütteln zur Kenntnis genommen haben. Mir ist nicht "cancel culture" eingefallen, sondern geistige Verwirrung – immerhin jetzt ein Anlass zu einer historischen Kontextualisierung des Themas, wofür ich Jens Balzer dankbar bin.
Wenn ich den Text richtig verstanden habe, ging es in den Anfängen der Debatte vor allem um die Tatsache, dass kultureller Erfolg Menschen zugute kam, die an der Entstehung dieser Kultur (Swing, Jazz, Rock) nichts oder fast nichts beigetragen hatten.
Würden wir von 'kultureller Aneigung' reden, wenn dieses Phänomen nicht eng mit kommerziellem Erfolg verbunden wäre? Vermutlich nicht, denn dann müssten wir auch über Nahrungsmittel reden, die wir amerikanischen Indigenen abgeguckt und zu Pommes oder pasta al pomodoro gemacht haben – zweifellos ein Milliarden-Geschäft, von welchem die 'Erfinder' der Kartoffel und der Tomate nur bedingt profitieren. Jede, die Pommes isst, müsste sich über ihre Kultur aneignende Ess-Gewohnheiten Rechenschaft ablegen. Das würde dann aber wohl auch den schärfsten Gegnern 'kultureller Aneignung' zu weit gehen. Und das ist wohl auch der Grund, weshalb 'wir' stattdessen internationale Konzerne dafür anprangern, dass sie Jahrhunderte alte Kultursorten patentieren wollen. Es geht also in der Debatte um die Frage, wer das Verwertungsrecht an kulturellen Erungenschaften haben soll bzw. darum, bewusst zu machen, dass zu oft nicht jene von diesen Erungenschaften profitieren, die sie hervorgebracht haben, sondern andere. Beispiele dieses Mechanismus' liessen sich zuhauf finden. Der Artikel zeigt das exemplarisch anhand der Geschichte des Jazz.
Wer also kritisiert, dass Nachkommen von Kolonial-Mächten oder Sklavenhaltern kulturelles Kapital der Unterdrückten zu Geld machen, muss eine Antwort darauf geben, wie das Eine (Kulturtransfer) ohne das Andere (Ökonomisierung) zu haben sein soll. Im Grunde beklagt doch der Begriff der 'kulturellen Aneignung' die Tatsache, dass nicht die POCs die Früchte ihrer Musik-Kultur ernten konnten. Welche POCs eigentlich? Alle? Michael Jackson? Shakira? So weit so unfair. Das ist aber nicht ein Problem der wie auch immer verstandenen 'kulturellen Aneignung', sondern ein Phänomen des wirtschaftlichen Systems, das viel mit Macht zu tun hat. Eine Macht, die darüber entscheidet, wer einen Plattenvertrag kriegt und wer nicht oder wann Urheberrechte Ernst genommen werden und wann nicht (die grössten Hits der griechischen Volksmusik der 60er- und 70er-Jahre sind 1:1 Kopien von Bollywood-Filmen). Kein indischer Komponist hat je eine Rupie dafür erhalten.
Hier zwei Links dazu:
https://www.thebetterindia.com/2772…-refugees/
https://youtube.com/playlist?list=P…LjJkrpcNXb
Der Artikel hat die Ereignisse in der Brasserie Lorraine zum Anlass genommen, über diese Zusammenähnge aufzuklären. Das ist eine interessante und notwendige Auseinandersetzung. So weit so gut. Aber was bedeutet dies nun für den konkreten Fall in Bern (und für weitere Fälle, die wohl folgen werden)? War die Reaktion der Organisatoren angemessen? Dass die Kommunikation post festum missglückt ist, wird erwähnt. Aber ist es zulässig, einen Fall lokaler Bedeutung und von eher bescheidenen um nicht zu sagen inexistenten ökonomischen Ausbeutungsverhältnissen mit Fällen von kultureller Aneigung auf die gleiche Stufe zu stellen, die exorbitante ökonomische Macht- und Missverhältnisse spiegeln? In diesem Sinne schließe ich mich der Meinung von Jovita dos Santos Pinto an, die in der WOZ vom 4.8., S. 17 wie folgt zitiert wird: "Entscheidend ist, dass die Kritik an kultureller Aneignung nur als Kapitalismuskritik Sinn ergibt." Hinzufügen würde ich nur noch, dass es Ausbeutungsverhältnisse bereits vor dem Zeitalters des Kapitalismus gab, und dass es mit Kapitalismuskritik allein nicht getan ist.
Merci Republik und Jens Balzer. Und Merci liebe Mitredaktor*innen - ich bin froh hier in den Kommentaren Meinungen zu lesen die nicht einfach die "Empörungswelle" reiten wie so oft (allzuoft) andern Orts, sondern sich gedanklich der Herausforderund und Diskurs und Vielechichtigkeit um was es eigentlich geht zu stellen.
Passend dazu der neue Film "Der junge Häuptling Winnetou". Teaser der "Welt"-Kritik:
"Pierre Brice war vorgestern, jetzt kommt „Der junge Häuptling Winnetou“ ins Kino, die Vorgeschichte von Karl Mays Blutsbrüder-Saga. Ein Fall von kultureller Aneignung? Na klar! Aber das ist gar nicht das Problem.
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Ein Beitrag mit der nötigen Differenziertheit, den ich sehr schätze. Einer Stelle kann ich aber nicht ganz folgen; wie ist die „Ursprungslosigkeit aller kulturellen Verhältnisse“ genau gemeint?
Wynton Marsalis nennt sich Traditionalist und pflegt die reine Lehre vom Jazz.
Ich hatte grosse Probleme mit seiner Gesprächsnichtbereitschaft, weiterhin hör ich gerne auch Swing, doch die M-Lehre lass ich aus.
Hier noch ein weiteres Beispiel für unerhörte "kulturelle Aneignung". Justin Trudeau, Link bbc. Aber bestimmt hat er viel dazugelernt in den letzten Jahren...
Man spricht von Aneignung, aber geht es hier nicht um Enteignung. Eine Minderheit entwickelt eine kulturelle Errungenschaft wie Reggae-Musik und eine Mehrheit eignet sich diese an. Kann es nicht sein, dass die Aneignung durch eine Mehrheit immer eine Enteignung für die Minderheit ist?
Der Vergleich in der Musik ist problematisch, weil dort die Kommerzialisierung eine grössere Rolle spielt als die kulturelle Errungenschaft.
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