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gleich zwei so überlange Beiträge innerhalb einer Woche - an der Grenze zu Geschwafel, Geschwurbel, Schwulst. Ein Zumutung!

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(durch User zurückgezogen)
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Niemand zwingt Sie, lange Texte zu lesen. Und zu Ihrer Kenntnisnahme: Es gibt genügend Leute, die fundiert recherchierte und reflektierte Beiträge zu schätzen wissen - bei der Republik wahrscheinlich zahlreicher als anderswo. Möglicherweise ist dies nicht das geeignete Medium für Sie.

Die eigene geistige Trägheit als schwatzhafte Selbstgefälligkeit des Verfassers umzudeuten, ist im doppelten Wortsinn faul. Schöne Ostern.

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Theologe & Religionspädagoge
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Lange Texte darf man auch quer lesen, um sie danach vielleicht doch noch in vollem Umfang mit aller erforderlichen Zeit zu verdauen. Das obliegt Ihrer eigenen Verantwortung.
Ich lese gerne.

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... oder sind Sie überfordert?

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Warum auf diesen Essay mit Aggression und Geringschätzung reagieren? Gerade diese Art verknüpften Denkens und differenzierter Analyse, ist in einer Zeit, wo oft nur noch mit Wortschablonen wie Eigenverantwortung und Topois argumentiert wird, äußerst wertvoll.

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... oder sind Sie überfordert?

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Überfordert? Mag sein. Aber nicht wegen des Themas, sondern wegen der Länge, der unsäglich weitschweifigen Herleitung "der Pointe". Binswangers Beiträge lese ich alle, fast immer mit Genuss. Heute war's eine Qual. Mensch, Binswanger - Sie können's besser!

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Es lebe das provokative Blödeln. Kein Downvoting, aber ignorieren.

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Geschäftsführerin
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Danke für diesen hervorragenden Essay.

Es wäre höchste Zeit, mal auszurechnen, was uns die ganze Sozialarbeitsüberwachungsindustrie kostet. Hätten wir das bedingungslose Grundeinkommen, könnte man AHV, ALV, IV, Asylfürsorge, Überwachungsaktivitäten, etc abschaffen. Allenfalls noch EL für besondere Bedürfnisse bzw. Härtefälle.

Dazu Krankenkassenbeiträge in Lohnprozenten (in Luxemburg 0.7%), dafür die Prämienumverteilungsmaschinerie abschaffen. Die Altersvorsorge so gestalten, dass man nicht noch ‚eigenverantwortlich‘ mit Aktien handeln muss, damit es im Alter reicht…

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und danke dafür, anonym 4!

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Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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„Die Eigenverantwortung ist letztlich ein erdrückendes Ethos der Gnadenlosigkeit.“ Das scheint mir konsequent zu Ende gedacht. Danke, dass Sie damit die Grundsatzfrage wieder aufnehmen: Wie wollen wir als Gesellschaft leben? Wie zollen wir einander Respekt mit der Tatsache, dass wir als Mensch alle gleich viel wert sind, obwohl wir körperlich, psychisch und bezüglich unserer geistigen Fähigkeiten so unterschiedlich sind und daher immer nur unterschiedlich viel zu unserer Gesellschaft beitragen können? Es beschäftigt mich der Gedanke, dass der Ansatz für uns dazu die echte Kombination von Selbst- und Nächstenliebe wäre.

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Wenn doch die Eigenverantwortung so hochgehalten wird, wieso wird sie nicht auch bei den Unternehmen umgesetzt? Wenn ein Mitarbeiter beispielsweise an Burnout erkrankt, sollte das Unternehmen demzufolge nachweisen, dass sie alles getan hat, um die Gesundheit ihres Mitarbeiters zu schützen. Falls der Nachweis nicht überzeugt, muss das Unternehmen für alle Kosten, die dadurch für den Staat und den Mitarbeiter entstehen, aufkommen. Generell müssten Unternehmen viel stärker für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter verantwortlich gemacht werden können.

Es gibt Stellen, wo fast jeder, der diese Stelle antrat, nach 6-12 Monaten ein Burnout bekam. Wenn die Mitarbeiter nicht mehr arbeiten können, werden sie ersetzt. Der Schaden wird auf den Mitarbeiter umgewälzt und die entstehenden Kosten tragen wir dann solidarisch. Es gibt keinen Anreiz für diese Unternehmen, irgendwas zu ändern.

Das ist für mich ein Punkt, der viel zu wenig diskutiert wird.

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Tja. Die Arbeitgeber sind unantastbar, bzw. drohen mit dem Abbau oder Verlust von Arbeitsstellen wenn sie nur minim mehr Geld für Sozialkosten aufbringen müssten. Die Stimmenden lassen sich auch leicht mit diesem Argument einschüchtern, also mit der Androhung vom Arbeitsplatzverlust. Solange das so bleibt, wird sich nichts ändern.

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Einen ganz herzlichen Dank an Daniel Binswanger für diese fundierte und überzeugende Auslegeordnung eines inflationär gewordenen Begriffes. Sie hilft, dieses Unwort besser in die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge einordnen zu können und die ideologischen Abgründe dahinter klarer zu sehen.
Der Schluss des Artikels fasst die Gedanken grossartig zusammen:
„Die Eigen­verantwortung ist letztlich ein erdrückendes Ethos der Gnaden­losigkeit. Und wird erfolgreich verkauft als die letzte Utopie. Wir hätten Besseres verdient.“
Gedanken zu Ostern der speziellen Art!

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Exzellenter Text zur Umdefinition des Begriffs "Verantwortung" über die letzten Jahrzehnte und dessen Auswirkungen auf linke und rechte Politik, sowie auf jeden einzelnen!
Wunderbar klare Analyse, die nachdenklich stimmt.

Danke für diesen Text, eine solche Kritik war schon längst überfällig.

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Theologin/Pfarreiseelsorgerin
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Unsere säkularisierte Welt, so scheint es, hat für Gnade jedoch keine Verwendung mehr. Das theologische Erlösungs­versprechen macht einem hartem Realismus Platz. Und deshalb wird nun alles vom Kopf auf die Füsse gestellt. Es gibt keine göttliche Allmacht und keinen grossen Plan mehr. Für uns Erdenbürgerinnen heisst das dann aber auch: Alles kann möglich sein – aber nichts wird verziehen. Die Eigen­verantwortung ist letztlich ein erdrückendes Ethos der Gnaden­losigkeit. Und wird erfolgreich verkauft als die letzte Utopie. Wir hätten Besseres verdient.

Ein Grund, warum ich mich einerseits je länger je fremder im gesellschaftlichen/politischen Heute fühle und andererseits dankbar bin, dass ich gläubig bin.

Danke Daniel Binswanger für den Text, den ich wohl noch ein oder zweimal lesen muss, um allen Gedankengängen zu folgen.

Er ist besonders zum Etappenfest Ostern passend, ist dieses doch die Zusage, dass die Angst um uns selber keine Macht mehr über uns haben muss. Wer aus Angst um sich handelt, aus der Angst, zu kurz zu kommen oder für alles bestraft und zur Rechenschaft gezogen zu werden, was misslingt, ist möglicherweise weniger bereit und in der Lage, solidarisch mit Anderen zu sein, Gnade walten zu lassen.

Wem das zu viel Predigt ist: ich bitte um Entschuldigung. Allen frohe und gesegnete Ostern oder einfach wunderschöne Feiertage.

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Theologe & Religionspädagoge
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Das ist eine Ultrakurzpredigt ;-) Schliesse mich an.
Amen & frohe Ostern!

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Theologin/Pfarreiseelsorgerin
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:D - merci und gleichfalls!

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Es freut mich, dass dieser Begriff, welcher seit einiger Zeit meinen Widerspruch regt, mal so treffend und tiefgründig analysiert wurde. Irgendwie erinnert er mich das Ganze auch ein wenig an das Konzept der Selbstregulierung der Industrie. Wie bei der Eigenverantwortung bei den Managern geht es dort doch auch nur darum, ungestört bzw. unreguliert freie Hand zu haben. Den Begriff Eigenverantwortung könnte man kurz auch also "moralisches Feigenblatt des Neoliberalismus zur Entsolidarisierung der Gesellschaft" definieren. Nehmen wir das Feigenblatt weg, sehen wir dahinter nur eines, den nackten Egoismus.

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Daniel Binswanger
Feuilleton Co-Leiter
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Lieber Anonym, dass "Selbstregulierung" häufig nur ein Vorwand ist, mit dem man echte Regulierung verhindern will, trifft natürlich zu. Bei Eigenverantwortung liegt die Sache insofern etwas anders, als sie ja zur Grundlage wurde, in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen - also zum Beispiel bei IV- oder Sozialhilfe-Empfängern - die reale Überwachung sehr stark auszubauen, das heisst wie "Eigenverantwortung" angewendet wird, ist je nach Zielgruppe dann eben sehr, sehr unterschiedlich. Herzlich, DB

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Sehr geehrter Herr Binswanger, absolut bei Ihnen. Ihre Ausführungen zur Eigenverantwortung weckte bei mir einfach unbewusst eine Assoziation zum Thema Selbstregulierung. Beim tieferen Hinterfragen vielleicht, weil diejenigen welche den Begriff Eigenverantwortung besonders gerne hochhalten, sich doch oft nur einen Freibrief geben wollen, warum sie keine Solidarität leisten müssen. Du bist selbst schuld an deiner Lage, also hast du auch keinen Anspruch auf meine Hilfe. Die Eigenverantwortung ist also nur ein Deckmantel und das ist die Selbstregulierung ja häufig auch. Auf jeden Fall vielen Dank, dass Sie den Begriff der Eigenverantortung hinterfragt haben, er spielt aktuell in unserer Gesellschaft eine grosse Rolle und wird viel zu wenig kritisch hinterfragt. Gerade in der Pandemie war er fast schon diabolisch, den es ging eben genau nicht um Eigenverantwortung, sondern um Verantwortung gegenüber den Mitmenschen und genauso ist es doch auch bei der IV oder Sozialhilfe. Heute haben wir Mitmenschen, die haben ihr ganzes Arbeitsleben in die ALV und IV bezahlt und wenn sie dann Hilfe brauchen, sind sie für die ALV zu krank um unterstützt zu werden und für die IV zu gesund, das ist doch "krank". Herzliche Grüsse und schöne Ostern.
Edit:
Noch ein ergänzender Gedanke. Auch beim Klima wird das Argument Eigenverantortung gerne verwendet. Der Einzelne soll mit seiner Verhaltensänderung das Klima retten. So wertvoll jede individuelle Verhaltensänderung ist, wissen wir doch, dass nur strukturelle Veränderungen, dass Klima retten können. Also ist der Ruf nach Eigenverantwortung auch hier oft nur der Deckmantel, um das Nichtstun bei den Strukturen zu rechtfertigen.

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Molekularbiologe PhD, Unternehmer
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Pikant an der IV in diesem Zusammenhang ist, dass es sich zwar um eine Versicherung handelt, und man deshalb erwarten würde, dass sie für einen Invaliditätsschaden des Versicherten aufkommen würde, dass jedoch auch hier das Prinzip der Meritokratie verfolgt wird:
Die IV ist primär dazu da, den geschädigten Menschen "zu Eigenverantwortung zu verhelfen" und sie in die Erwerbstätigkeit einzugliedern, was an und für sich nicht schlecht ist, jedoch in der Praxis zur Konsequenz hat, dass Hilfsmittel wie Prothesen, Rollstühle etc., wenn sie nicht der beruflichen Eingliederung, sondern "bloss" der möglichst guten Schadenskompensation und Lebensqualitätsverbesserung dienen, nicht oder nur zu einem kleinen Teil vergütet werden. Spätestens ab dem Pensionsalter gibt es dieser meritokratischen Logik nach keine Vergütung mehr für solche, oft sehr teuren Hilfsmittel, sondern allenfalls noch einen vernachlässigbaren AHV Kostenbeitrag: Wer nicht mehr im gesetzlichen Erwerbsalter ist, braucht aus meritokratischer Sicht ja weder Rollstuhl noch Prothese.
Die Versicherungsleistung orientiert sich also nicht primär an dem Invaliditäts-Schaden des Individuums, welches diese obligatorische Versicherung abschliessen musste, sondern am wirtschaftlichen Nutzen der Versicherungsleistung für die Gesellschaft.

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Gnade ist gut. Ich denke an all die Menschen, die zwar schon irgendwie klar kommen, aber eigentlich eine Auszeit brauchen könnten vom Druck, dem sie im Alltag begegnen. Aber nur wenn sie ohne ihr eigenes Verschulden depressiv werden oder ein Burnout haben, wird ihnen diese Zeit widerwillig gewährt. Dabei könnte doch die Struktur wie unser Lern- und Arbeitsleben aufgebaut ist, angepasst werden, so dass sie gnädiger zu uns ist.

Danke für den Artikel. Hat wiedergehallt.

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Burn-out-erfahren
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Aber nur wenn sie ohne ihr eigenes Verschulden depressiv werden oder ein Burnout haben, wird ihnen diese Zeit widerwillig gewährt.

Genauso habe ich es erlebt. Krankschreibung jeweils nur für zwei Wochen, danach „Neu-Evaluation“ der Situation. Wie soll man da die Ruhe finden, die zersplitterten Teile von sich selbst wieder zusammenzusetzen, wenn der möglichst baldige Wiedereinstieg wie ein Damoklesschwert ständig über einem hängt? Resultat: nach einem verpatzten Wiedereinstieg und einem noch tieferen Fall habe ich die Stelle gekündigt, weil mir klar wurde, dass ich nur ohne diesen äusseren Druck eine Chance habe, mich wieder zusammenzusetzen und in meinem Tempo langsam aus dem Loch zu kriechen.

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Geschäftsführerin
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Leider eine Tatsache. 1995 hatte ich einen Temporärjob bei einer der grössten Krankenkassen. Musste auf ärztlich begründete Anträge für Kuraufenthalte antworten, die es laut Leistungskatalog damals gab und immer noch gibt (mit lächerlich kleinen Beiträgen). Burnout, Erschöpfungsdepression, Überlastung infolge Carearbeit: Alles wurde abgelehnt, mit der Aufforderung „Ändern Sie Ihren Lebensstil“. Auch ich bin schon zweimal an einem Burnout vorbeigeschrappt, hatte zum Glück einen guten Hausarzt, der mich zum Reduzieren der Arbeitslast quasi genötigt hat.

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Ich bin mit ihnen absolut einverstanden aber von Gnade halte ich gar nichts. Recht muss sein was sie verlangen. Gnade ist nur herablassendes Wohlwollen der Obrigkeit und wird einem bei der nächsten Gelegenheit wieder vorgeworfen.

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Ja, in einem Machtgefälle ist Gnade nicht wirklich gut. Ich glaube, mir geht es mir um die Gnade, die wir als Gesellschaft für einander haben sollen, wenn (kleinere) Dinge schief laufen, selbstverschuldet oder nicht. Dass nicht immer das Schlimmste von anderen angenommen wird oder gewisse Dinge stehen gelassen werden können, auch wenn jemand nicht optimal gehandelt hat. Aber vielleicht ist Gnade da nicht der treffendste Begriff.

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Märchentante*onkel
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Eine hübsche Analyse des Begriffs Eigenverantwortung und insbesondere seine wunderliche Popularität im schweizerischen Politikbetrieb. Mit ein Grund für dieses helvetische Modewort ist die Schwäche des Bundesrates, der mit dem Appell an die Eigenverantwortung seine eigene Verantwortung elegant zu delegieren weiss. Er schien uns achselzuckend mitteilen zu wollen, dass er sich nicht für die Volksgesundheit zuständig fühlte, sondern das Volk selbst mit seinem Handeln die Pandemie bewältigen würde, er "demokratisierte" sozusagen die Pandemie. Den Haken an diesem Fehlgedanken in Corona-Zeiten hat Binswanger zur Genüge dargestellt. Eine schwache, bisweilen handlungsunfähige Zentralregierung ist natürlich auch der Traum eines jeden Unternehmens, das sich um Regelungen foutiert und den eigenen Vorteil als einzige Richtschnur des Handelns kennt. Ein Bundesrat, der sich zum Beispiel nur in Kopie der EU zu Sanktionen gegenüber Oligarchen durchringen kann, ist allerdings eine Parodie auf das Prinzip verantwortungsvoller Führung. In Zeiten zunehmender Ungleichheit, die unsere Demokratie an ihre Grenzen bringt, sollten wir es vermeiden, Leute in die Regierung zu entsenden, deren Ziel und Zweck es scheint, möglichst gar nichts zu tun, damit die Unternehmen freie Bahn beim Geschäften haben und die Reichsten und Mächtigsten möglichst unbehelligt bleiben in ihren Verpflichtungen der Allgemeinheit gegenüber. Der fröhliche Appell an die Eigenverantwortung geht einher mit dem Eingeständnis eigener Unfähigkeit.

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Vielen Dank A. C.. So klar und wahr.

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Clinton, Blair und Schröder seien links, hm. Wohl deshalb: Wie alle Linken wollten sie nur das Beste. Aber im Unterschied zu ihnen haben sie's auch bekommen. Unter dem Applaus fast der kompletten Medienlandschaft, war ja très chique damals, New Labour. Mal den Faulpelzen Druck machen, damit sie nicht immer nur vor der Glotze abhängen und "Frauentausch" gucken. In der Zeit hätten sie doch schon im Minijob die Flyer der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft verteilen können. War Tony nicht sogar mit einem Spice Girl verheiratet, ach nee, das ist ja Beckham.

Eigenverantwortung ist schon deshalb klasse, weil niemand schuld ist. Außer man selbst. Guter Deal. Yes, we can. Und wenn du nicht kannst, hast du dich halt nicht genügend angestrengt. Oder nicht die Entspannungsübungen gemacht, für die wir doch extra eine Übungssession im Firmennetz angeboten haben. Byung-Chul Han hat darüber seine "Müdigkeitsgesellschaft" geschrieben: lauter individualisierte Arbeitnehmer oder (Schein-)Selbständige, die dem versprochenen Glück hinterherhecheln, ohne es je einzuholen, dabei aber ein fröhliches Gesicht zu ziehen haben, weil sie einer permanenten Bewertung unterliegen. Like!

Apropos: Frohe Ostern!

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Daniel Binswanger
Feuilleton Co-Leiter
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Lieber Herr K., schöne polemische Zusammenfassung. Und auch Ihnen frohe Ostern! Herzlich, DB

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"Die Rechte bekennt sich mit der Eigen­verantwortung zu einem universellen Ethos der Haftbarkeit – hat aber die Tendenz, ausgerechnet die Eliten, die doch beispiel­gebend sein sollten, davon auszunehmen."
Dieser Satz fasst die Situation in der Schweiz und anderswo perfekt zusammen. Die unten sollen permanent im Hamsterrad der Eigen­verantwortung Rennen, während die oben sich einen Deut um ihre gesellschaftliche Verantwortung scheren. Und das obwohl letztere genau aus diesem Grund von besagter Gesellschaft Macht zugesprochen bekommen. Macht ohne daran geknüpfte Haftbarkeit führt im besten Fall zum beobachtbaren, helvetischen Nihilismus à la Bundesrat und im schlimmsten Fall zu Autoritarismus mit von Ja-Sagern und opportunistischen Oligarchen umgebenen Soziopathen.

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Die Eigenverantwortung während der Pandemie war der Ausgang aus der Überforderung der Regierungen. Der nächste Schritt war vor einem Monat: Die Pandemie wurde privatisiert. Passt perfekt zum Pandemieexperten Bigler des Gewerbeverbandes. Wer jetzt ein Beratungsgespräch wegen Long-Covid in einem Kantonsspital braucht, muss 4 Wochen warten.

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https://youtu.be/1J9LOqiXdpE

Ich möchte ein Video zu dem Thema teilen eines Comedian Klimaforschers. Wenn von Eigenverantwortung gesprochen wird, wird die Schuld bewusst von einem grossen System auf den einzelnen Individuellen abgeschoben; es ist insbesondere ein Trick in allen gesellschaftlichen Fragen (wie der Klimafrage), dass es heisst, dass man etwa persönlich die Cocacolaflaschen nicht dem Hauskehricht zuzuführen hat und die Ladekabel bei Nichtgebrauch auszustecken hat und dass es damit getan sei. Nein, natürlich nicht. Nur eine Änderung im Grossen wird etwas bewirken, alles andere ist Ablenkung. Ob der Einzelne Fleisch isst oder nicht, ist egal. Wenn die öffentlichen Kantinen kein Fleisch führen, macht es einen Unterschied. Das Fliegen oder Nichtfliegen im Verkehrsflugzeug macht keinen Unterschied. Wenn Braunkohlekraftwerke abgeschaltet werden, macht es einen Unterschied.

Der „ökologische Fussabdruck“ ist eine Erfindung von BP. „We care, just like you“, ist die aktuelle Tramwerbung von Glencore.

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Leserin
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Viel Worte für die Beschreibung eines Ausbeutungssystems. Die einen profitieren davon, die anderen müssen sich rechtfertigen dafür, dass sie nicht profitieren können. Wir alle stehen auf der einen oder anderen Seite. Wir brauchen kühle Analyse der Unrechts-, der Ausbeutungsmechanismen. Und im Sinne eines vielleicht doch von den meisten gewünschten friedlichen Zusammenlebens ernsthaftere Bestrebungen, dass grosse, wirklich die Allgemeinheit bedrohende Diebstähle (in Banken, mittels Steuervermeidungskonstrukten etc.) mit gleichem Aufwand verfolgt und geahndet werden wie die kleinen. Warum wird die trickle-down Theorie nicht endlich, weil weltumspannend schädlich, ausgemustert?Wie oft kommen die grossen Diebe davon, weil die Gerichte mit dem Ausmass der Verschleierung überfordert sind? Gibt es Daten darüber, welche Schäden von den Kleinen, von den Grossen angerichtet werden? Gibt es Daten über volkswirtschaftlichen Aufwand und Ertrag von gerichtlichen Bemühungen? Für mich ist die Corona-Pandemie so etwas wie ein Zeichen an der Wand oder ein Wetterleuchten: die gut Ausgebildeten müssen sich entscheiden, wo sie ihr Wissen und Können einsetzen, auf welcher Seite unseres weltumspannenden Systems.

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Mathematiker in IT, Bildung und Beratung
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Zwei karsamtagliche Gedankensplitter:

Für Morgen: Daniel Binswanger und allen ‚Frohe Ostern!‘

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Eigenverantwortung ist schon ein sehr geschicktes Schlagwort:

Wenn es die eigene Verantwortung ist, geht andere nicht an, wie ich diese Verantwortung wahrnehme, und ich kann für mich eine völlige Handlungsfreiheit reklamieren. Tue ich dies in Bereichen, in denen eigene Haftung nicht oder nur teilweise umsetzbar ist kann ich "Verantwortung übernehmen", machen was ich will, und die Konsequenzen trotzdem andere tragen lassen.

Dass Eigenverantwortung wesentliche Probleme unserer Zeit nicht zu lösen vermag zeigt sich zum Beispiel bei der Klimaerwärmung. Haftet Herr Meier, der mit dem Flugzeug in die Ferien fliegt, für die Wirkung der wegen ihm ausgestossenen CO2-Moleküle? Natürlich nicht, denn diese Moleküle sind buchstäblich vom Winde verweht, und keiner kann nachweisen, dass es diese Moleküle waren, die zu einem bestimmten Schadenfall beigetragen haben. Und selbst wenn würde es sich nicht lohnen, nach einer Überschwemmung den Urheber jedes Wassertropfens separat einzuklagen. Und weil Herr Meier das weiss fliegt er unbeschwert in die Ferien. Und irgendwo geht ein Wassertropfen nieder, für den niemand die Verantwortung trägt.

Eigenverantwortung ist nicht nur gnadenlos, sie ist oft auch dysfunktional.

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Daniel Binswanger
Feuilleton Co-Leiter
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Lieber Herr M., vielen Dank für Ihren Beitrag. Sie sprechen ein wichtiges Problem an: Dass bei Problemen, die kollektiv verursacht werden - wie etwa die Klimaerwärmung -, es häufig schwierig ist, Verantwortlichkeiten zuzuschreiben. Vollkommen unmöglich ist es natürlich nicht ein "Verursacherprinzip" geltend zu machen, dass dem Gedanken der Eigenverantwortung nahe kommt: Also, ich muss eine hohe Flugticket-Abgabe bezahlen, wenn ich in die Ferien fliege. Aber letztlich funktionieren solche Ansätze ja mehr über die Lenkung - Fliegen wird teurer, deshalb lieben die Leute weniger -, als darüber, dass jeder für die von ihm verursachten Schäden aufkommt. Kollektive Probleme können nur kollektiv gelöst werden - weshalb wir uns dazu durchringen müssen, gemeinsam das richtige zu tun. Noch krasser ist dieser Sachverhalt ja bei der Pandemie-Bekämpfung, die ich im Text als Beispiel genommen habe. Da hat mein Verhalten andere Leute potenziell ganz direkt geschädigt - zum Beispiel, wenn ich keine Maske tragen wollte - aber man hätte niemals einen Schaden unmittelbar auf mich zurückführen und mich dafür haftbar machen können. Dennoch wurde von Eigenverantwortung geredet. Herzlich, DB

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In der vorneoliberalen Zeit gab es noch einfache und überzeugende Ziele, hervoerragend zuasmmengefasst in den Worten von Nazim Hikmet:

Leben wie ein Baum, einzeln und frei
doch brüderlich wie ein Wald,
das ist unsere Sehnsucht

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Michel Rebosura
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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Schön, auch wenn ich weder die vorneoliberale Zeit noch den Wald romantisieren würde.

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Leser
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Noch das Christentum…

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Michel Rebosura
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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Gerade nach den letzten Absätzen: Vielen Dank, Daniel, für das Wort zum (Oster-)Sonntag! Und für die kleine Begriffsgeschichte der «Eigenverantwortung». Der ja beileibe nicht erst heute Konjunktur hat, sondern die zentrale Tugend des (Neo-)Liberalismus, Kapitalismus und Individualismus darstellt – und damit unserer Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft.

Ich hoffe auch, dass die Korpus-Analyse auch den Bedeutungshof von «Eigenverantwortung» miteinbezog, also Ausdrücke wie die im Deutschen gängigere «Selbstverantwortung», «Eigenständigkeit» bzw. «Selbstständigkeit», «self reliance, «indépendence», «Unabhängigkeit» etc. pp.

Eigenständigkeit und Unabhängigkeit – und damit auch die Eigenverantwortung – waren bereits Ideale der antiken Philosophie und attischen Demokratie. Und zwar unter den – auch heute noch verständlichen – Namen «Autarkie» und «Autonomie».

Träger und Realisierer dieser war das «starke» und «souveräne Individuum». So gerade auch in der Stoa, etwa beim römischen Kaiser Markus Aurelius. Das englische Wort virtue für «Tugend» stammt übrigens etymologisch vom Lateinischen virtus ab (und meinte ursprünglich nur «Tapferkeit»). Dieses wiederum stammt von «Vir» für «Mann» ab, der uns noch in der «Virilität» begegnet.

Tugenden des starken Individuums sind also Tugenden der Männlichkeit, wozu nicht nur die Unabhängigkeit gehört, sondern auch die Wehrhaftigkeit, womit wir wieder beim Krieg wären. Auch beim Russland-Ukraine-Krieg, in der trotz allem auf der einen, wie auf der anderen Seite Männlichkeits-Ideale oben auf schwingen.

Auch in der Schweiz war ja die Wehrhaftigkeit – und damit das Tragen einer Waffe – die Voraussetzung für den Bürger-Status und ein Hauptargument gegen die Einführung des Frauenstimm- und wahlrechts. «Keine Waffe, keine Stimme» sozusagen.

Dies ging dann ein in die (vom Protestantismus vorgeprägte) Vorstellung vom «bürgerlichen Individuum» des Liberalismus und Kapitalismus. Der Entrepreneur, der Unternehmer, der self made man. Robinson Crusoe (But «No Man Is an Island»), der ohne, ja gegen den Staat und Gesellschaft sein (Kolonial-)Reich erbaut.

Der «Bourgeois» (gegenüber dem «engagierten Citoyen») steht mit dem Spiess bewehrt an der Grenze seines Gartenzaunes («My Home Is My Castle»). Der «Spiessbürger».

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Michel Rebosura
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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Doch der Individualismus – und mit ihm die individuelle Freiheit – ist nicht nur ein Ideal des bürgerlichen Liberalismus und Rechts-Libertarismus (Anarchokapitalismus oder Minarchismus/Minimal-Staat), sondern auch des Sozialliberalismus und Links-Libertarismus. Also nicht nur konservative Kritik der Bourgeoisie, sondern auch die Künstlerkritik der Bohème.

Letztere mit ihrer Forderung nach mehr Selbstverwirklichung wurde, wie Luc Boltanski und Ève Chiapello in «Der neue Geist des Kapitalismus» (1999) überzeugend aufzeigen, durch den Kapitalismus vereinnahmt und trägt nun den Namen «Selbstoptimierung».

Als Lone Wolfs ist der Mensch aber des Menschen Wolf. Die Folge ist ein sozialdarwinistischer Krieg aller gegen alle. Und da der Wolf eigentlich ja ein Rudeltier ist (Stichwort «Familienwerte») folgt ein Krieg der Rudel/Stämme/Familien/Nationen gegen Rudel/Stämme/Familien/Nationen.

Der alte Liberalismus hatte noch einen Sinn für Verantwortung, die – abgeleitet von der Caritas, der Nächstenliebe – in Form der individuellen und damit willkürlichen charity ausgeübt worden ist. Ein Tropfen auf dem heissen Stein wie die Virulenz der «Sozialen Frage» zeigte. Entsprechend forderte die Arbeiter:innen-Bewegung und damit auch die sozial-demokratische, sozialistische und kommunistische Bewegung eine soziale, d. h. staatliche Lösung.

Der gemeinsame Nenner nach 30 Jahren «Dritter Weg» ist nicht nur die Kapitulation vor dem Kapitalismus und Neoliberalismus («There's No Such Thing as Society»), sondern auch vor der Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft. Sie heisst nun Meritokratie und Chancengleichheit. Hilfe zur Selbst-Hilfe (Neudeutsch «Empowerment»).

Die Sozialwerke sind Versicherungswerke und damit Vertragswerke mit Vollkasko-Mentalität. Und wo es um Steuern und Umverteilung geht, ist die Austerität (und Autarkie) nicht weit. Dies auch weil nicht nur der Verantwortungsbegriff einseitig reduziert worden ist, sondern auch der Freiheitsbegriff.

Die «negative Freiheit (von)» ist nämlich jene ohne, ja gegen Einschränkungen und Eingriffe von Aussen, Anderen, der Gesellschaft, dem Staat. Diese «beschädigen» meine Freiheit. Diese «Schäden» kann ich einklagen. Alles, was meine Freiheit irgendwie einschränkt, ist schlecht, ein Schaden, den ich – vertraglich versichert – einklagen kann.

Um ebenfalls theologisch-österlich zu enden. Neben der Gnade gibt es einen anderen philosophisch und theologisch vorgeprägten Begriff – einer, der sogar in die Bundesverfassung, ja in die Menschenrechte einging: die Würde.

Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
[D]ie Stärke des Vol­kes misst [sich] am Wohl der Schwachen.

Ist es richtig, wenn sozial Schwächere für Ihr Wohl und ihre Würde kämpfen müssen? Wenn sie sich für ihr Recht auf Solidarität und Hilfe, sprich Arbeitslosen-, IV- oder Sozialhilfe noch und nöcher rechtfertigen müssen? Oder sollten um der universalen und bedingungslosen Würde willen nicht alle ein universales und bedingungsloses Grundeinkommen erhalten?

Schöne Ostern allerseits!

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Beobachter
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Ja, das Grundeinkommen für alle würde praktisch alle Probleme auf einen Schlag lösen. Das ist vielleicht der Grund, weshalb es niemals realisiert wird.

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Märchentante*onkel
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No man is an Iland, intire of itselfe; every man
is a peece of the Continent, a part of the maine;
if a Clod bee washed away by the Sea, Europe
is the lesse, as well as if a Promontorie were, as
well as if a Manor of thy friends or of thine
owne were; any mans death diminishes me,
because I am involved in Mankinde;
And therefore never send to know for whom
the bell tolls; It tolls for thee.

MEDITATION XVII
Devotions upon Emergent Occasions
John Donne

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Eigenverantwortung ist heute tatsächlich nur ein euphemistischer Begriff für das Schönreden von Egoismus.

Rawls Ideen mit dem Schleier des Unwissens schienen mir als solche eigentlich immer sehr sinnvoll, sollten sich von mir aus aber nicht im Ansatz zur Rechtfertigung einer solchen Ausgestaltung der Gesellschaft verwenden lassen, denn wenn man eine Gesellschaft auf der Grundlage einer solchen gnadenlosen Haftbarkeit aufbaut, vergisst man meiner Meinung nach eines;

Auch wen es manche als nicht gerecht ansehen, wenn jemand Sozialhilfe bezieht, der es aus ihrer Sicht nicht verdient, ist das Angewiesensein auf eine solche Hilfe doch genau wie auch die Erlangung von grossem Reichtum und Erfolg, letztlich grossmehrheitlich von durch unseren Willen sehr begrenzt beeinflussbaren Gegebenheiten, wie Intelligenz, Leistungsfähigkeit, Fleiss, Konzentrationsfähigkeit, Ehrgeiz, finanzielle Ressourcen, Erziehung, Gesundheit und nicht zuletzt dem Zufall abhängig. Gerade die Schwachen, die in jedem auch nur ansatzweise gerechten System besonderen Schutzes bedürften, sollen nun also aber als einzige beweisen, dass sie keine Schuld an ihren Problemen tragen, wozu jedes Mittel recht zu sein scheint, während diejenigen die Erfolg haben, diesen Beweis für ihren Erfolg und dessen Rechtmässigkeit aber nicht schuldig sein sollen?

Wie könnte ein durch einen Schleier des Unwissens gesehenes System als gut betrachtet werden, dass dem nicht Rechnung trägt, sondern einzig den Erfolglosen alle Schuld für ihren Zustand zuzuweisen gesucht und den Erfolgreichen ihren Erfolg ohne Beweis komplett als Eigenleistung zugesteht?

Kann ich es durch den Schleier des Nichtwissens als gerecht ansehen, dass ich ebensogut, gar mit grösserer Wahrscheinlichkeit, arm, intellektuell mässig begabt, gesundheitlich angeschlagen und in einem gewalttätigen Elternhaus zur Welt gekommen sein könnte, und ich mich für meine subsequente Erfolglosigkeit immer rechtfertigen muss, kaum Hilfe erhalte, und schliesslich vielleicht sogar auf die schiefe Bahn gerate und mir dann dafür auch noch allein die Schuld zugewiesen wird?
Es zeugt für mich von grandioser Überschätzung der eigenen Selbstwirksamkeit, diese Frage mit Ja zu beantworten.

Zu glauben, man sei in der selben Situation in der Lage es besser zu machen, ist leicht und mag einem ein Gefühl von Stärke und Sicherheit geben, es zu tun wäre eine ganz andere Sache.

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Ihr ester Satz bringt es auf den Punkt. (Die darauf folgende Abhandlung bringt den Beweis, daher danke dafür).

Unter dem Deckmantel der Eigenverantwortung kann man sich, als ungefähr wohlsituirte (?) der Verantwortung entziehen, an den systemischen Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft etwas ändern zu müssen, ohne sich schüldig zu fühlen.

Passivität, wirklich.

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Danke für diesen hervorragenden Essay. Er entlarvt in bestechender Form, was es mit der Eigenverantwortung auf sich hat. Eigenverantwortung ist ein für das Individuum geltender Herrschaftsbegriff, der mit einem demokratischen Verständnis eigentlich nicht viel zu tun hat. Denn im Staatsgefüge sind längst nicht alle Individuen gleichgestellt. Bei Gutbetuchten, Managern, Politikern - zumindest in der Schweiz - gilt für deren Handeln Eigenverantwortung nur bedingt als erstrebenswert oder gar verpflichtend, weil sie eine eigene Fehlbarkeit impliziert, derer in den obersten Etagen niemand anheimfallen möchte. Der staatliche Kontrollapparat, inkl. Strafverfolgungsbehörden, hält sich in vielerlei Belangen (Verfehlungen?!) zurück. Ganz anders bei Arbeitslosen, Invaliden und Sozialhilfeempfängern. Ihnen wird die ganze staatliche Macht der Kontrollorgane entgegengebracht. Hier wird Eigenverantwortung grossgeschrieben. Ohne Eigenverantwortung wird nicht einmal zum ganz kleinen Fressen eingeladen und sie geht einher mit Entmündigung und Disziplinierung - ganz im Sinne der Mächtigen, die sich sicher sein können, für ihre Eigenverantwortung Decharge erteilt zu bekommen. Wieso hat ein garantiertes Mindesteinkommen, mit welchem ein Individuum ein wenig Würde in seiner Lebensführung zurückerhalten würde, in der Politik und auch beim Souverän keine Chance? Auch linke Parteien sind nicht für ein garantiertes Mindesteinkommen, weil sie an staatlicher Macht, sprich Einsitz in Gremien und Mitbestimmung in den Kontrollorganen, einbüssen würden. Eigenverantwortung ist heuchlerisch und verlogen. Sie ist untauglich, eine Pandemie zu bewältigen und schon gar kein Heilmittel, die Klimakatastrophe und die Zerstörung der Welt aufzuhalten. Dies heisst aber nicht, dass im Mikrokosmos der Einzelne nichts tun könnte. Er kann Verantwortung übernehmen für die Umwelt, ihre Vielfalt und nicht zuletzt für sich selbst, wenn er dereinst beim Heimgehen vielleicht rechenschaftspflichtig wird.

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Michel Rebosura
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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In der Tat, manch Propagierer:in der «Eigenverantwortung» sollte mal wieder den Anfang der Bundesverfassung lesen – aber langsam:

Präambel
Im Namen Gottes des Allmächtigen!
Das Schweizervolk und die Kantone,
in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,
im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,
im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Ein­heit zu leben,
im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegen­über den künftigen Generationen,
gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Vol­kes sich misst am Wohl der Schwachen,
geben sich folgende Verfassung1:
1 Angenommen in der Volksabstimmung vom 18. April 1999 (BB vom 18. Dez. 1998, BRB vom 11. Aug. 1999 – AS 1999 2556; BBl 1997 I 1, 1999 162 5986).

  1. Titel: Allgemeine Bestimmungen
    […]
    Art. 2 Zweck
    1 Die Schweizerische Eidgenossenschaft schützt die Freiheit und die Rechte des Volkes und wahrt die Unabhängigkeit und die Sicherheit des Landes.
    2 Sie fördert die gemeinsame Wohlfahrt, die nachhaltige Entwicklung, den inneren Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt des Landes.
    3 Sie sorgt für eine möglichst grosse Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern.
    4 Sie setzt sich ein für die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung.

Nicht einig bin ich jedoch mit ihrer Ansicht, dass «Eigenverantwortung» für die Elite «nur bedingt als erstrebenswert oder gar verpflichtend [gilt]», denn sie kommt zusammen mit der «Selbstständigkeit» und «Unabhängigkeit». Begriffe, die ihre Wurzeln in der antiken Philosophie und attischen Demokratie haben («Autarkie» und «Autonomie») und im «bürgerliche Individuum» des «klassischen Liberalismus» und Kapitalismus (Entrepreneur, Unternehmer).

Dass aber, wer mehr Geld und Macht hat, die längeren Hebel (bzw. mehr Anwälte) hat und daher vor Gericht de facto nicht alle gleich sind, ist wiederum ein tatsächlich schwerwiegender Missstand. Dies liegt aber nicht daran, dass die Elite die Eigenverantwortung ablehnen würden, sondern im Gegenteil derart ausweiten, dass sie im Grunde sagen: «Selbst das Recht ist in meiner eigenen Verantwortung».

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Danke, lieber Daniel, für diesen anregenden Denkbogen. Besonders schön ist die Schlusspointe mit der Analogie zum Gegensatz Willensfreiheit/Gottesgnade. Auch zum Verständnis des Shifts von linker Emanzipation zum Rechtspopulimus trägt der Essay viel bei. Was mich – hier wie bei Michael Sandel – aber etwas irritiert, ist die Bereitschaft, der Behauptung der sogenannten Eliten, ihr finanzieller Erfolg sei auf Leistung zurückzuführen, einfach so zuzustimmen. Bei der Begutachtung der Leistung dieser Eliten (ob nun politisch, ökonomisch, intellektuell usw.) wünschte ich mir schon ein bisschen mehr Gnadenlosigkeit. Geld und Macht sind oft genug eben gerade nicht die Frucht von Wissen, Können, Kreativität und Anstrengung, sondern von geglückter Einpassung in bestehende Beziehungsnetze und Belohnungssysteme.
Dafür braucht es auch nicht gleich einen Überwachungsstaat mit Punktesystem à la Black Mirror oder China, sondern einfach eine kritische Gesprächs- und Konsumkultur. Sicher, wir haben keinen absoluten Leistungsmassstab, der das Geld ersetzen kann, aber wir könnten ja dynamisch daran arbeiten. Wir müssten nicht jeden als «Leistungsträger» bejubeln, der mit Billigfleisch, geschmacklosen Tomaten, leeren Denkhülsen, lieblosen (z. B. automatisierten) Dienstleistungen, SUV-Panzern etc.pp. Kohle macht. Mit anderen Worten: Muss die meritokratische Idee wirklich ein für allemal zum Teufel gejagt, könnte sie nicht neu gedacht werden? Das ist vielleicht etwas ressentimental und auch nicht besonders originell, denn es führt zurück zu (kultur-)kritischer Theorie à la Horkheimer/Adorno. Wäre das so schlimm?

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Daniel Binswanger
Feuilleton Co-Leiter
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Lieber Michael, vielen Dank. Ich würde Dir schon recht geben. Eine wohlverstandene Meritokratie wäre sicherlich an sich begrüssenswert. Allerdings würde ich daran festhalten, dass das Prinzip per se sehr kritisch betrachtet werden muss. Zunächst im Bildungsbereich: Ist es überhaupt mit einem vernünftigen Bildungsbegriff vereinbar, Elite-Universitäten zu vollkommen sinnentleerten Selektionsapparaten zu machen, die zu guter letzt nicht über ein Bildungsethos sondern über die höhe des Einstiegsjahresgehaltes entscheiden. Sandel sagt ja, die Harvard-Bewerber seien allesamt so ehrgeizig, hochgezüchtet und motiviert aus den 10000 Bewerbern die 2000 Besten auszuwählen, sei eine reine Fiktion. Zweitens: Was wäre die kritische Theorie der objektiven Meriten? Vermutlich hätte es viel zu tun mit nicht messbaren Skills, mit nicht konkret messbaren Fähigkeiten. Vielleicht bräuchten wir wieder etwas mehr Menschen, die einen Text wirklich verstehen können, statt eine Exel-Tabelle ausfüllen. Natürlich kann man auch solche Dinge kultivieren, fördern, prüfen. Aber meine Vermutung wäre: Die Beurteilung bleibt diffuser, muss diffuser bleiben. Das hiesse: Auch die Objektivierbarkeit von Meriten nimmt ab.
Mein zweiter grosser Einwand wäre: Ja natürlich, wir möchten eine "gerechte, sinnvolle Meritokratie". Wo Menschen, die wirklich etwas können und wirklich das richtige wollen, die Anerkennung bekommen, die sie verdienen. Allerdings: Wie steil soll das meritokratische Gefälle sein. Gute Gesellschaften sind Mittelklassegesellschaften. Der postindustrielle Hyper-Kapitalismus erzeugt ökonomisches Gefälle - eine Bourgeoisie, die mit Bürgerlichkeit nichts mehr am Hut hat, eine Elite, die in einer eigenen Stratosphäre lebt -, das nicht mehr im gesellschaftlichen Interesse liegt. Das ist das Hauptproblem. Und dieses Problem würde man nicht lösen, indem man die Kriterien für Selektion verbessert und dann plötzlich die richtige Auswahl an der Spitze hat. Liebe Grüsse, Daniel

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Lebewesen
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"Das Übereinkommen von Paris ist ein rechtlich verbindliches Instrument unter dem Rahmenüberein­kommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (Klimakonvention, UNFCCC). Es enthält Elemente zur sukzessiven Reduktion der globalen Treibhausgasemissionen und basiert erstmals auf gemeinsamen Grundsätzen für alle Staaten." (ich hebe hervor: gemeinsam - alle)
"Les droits de l’homme ne sont pas le plus petit dénominateur commun de toutes les nations, mais au contraire, ce que je voudrais appeler l’irréductible humain, la quintessence des valeurs par les quelles nous affirmons, ensemble, que nous sommes une seule communauté humaine. » (Boutros Boutros Ghali, Zitat in "Lesbos, la honte de l'Europe", Jean Ziegler, Seite 122.) (idem: une seule communauté humaine)
Das Prinzip "Eigenverantwortung" ist das Rückgrat des bürgerlichen und demokratischen Gegenentwurfs zum universellen Menschenrecht. Der Begriff "Eigen" beinhaltet, dass das "Universelle", das "Allgemeine", das "Gemeinsame" für die anderen gelten mag, aber nicht für uns, weil wir etwas "Eigenes" sind, und darum etwas "Eigenes" vollbringen müssen, und dafür das Konzept der "Eigenverantwortung" dem Menschenrecht entegegensetzen.
Die verherigen 50 und mehr Beiträge brachten genug Beispiele, die diesen Sonderweg als Rosinenpicken und Heuchelei, letztlich als Feigenblatt erkenntlich machen, um Gold- und Geldinteressen zu verstecken.
Der am 53.-Kriegstag noch immer florierende Rohstoffhandel usw. mit dem Imperium, das mit jedem Kriegstag erneut das erste Menschenrecht, nämlich das Grundrecht auf Leben und Gesundheit, verletzt und von uns dafür bezahlt wird, zeigt auf, was mit der Eigenverantwortung der Mächtigen dieses Landes gemeint ist: das Eigeninteresse und die Ablehnung des Menschenrechts.

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Daniel Binswanger
Feuilleton Co-Leiter
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Lieber Herr N., vielen Dank für diesen Beitrag, Sie weisen auf einen ganz zentralen Punkt hin, nämlich dass die bürgerliche Welt gewissermassen auf zwei Grundprinzipien ruht: einerseits den Menschenrechten, von denen man argumentieren könnte, dass sie jetzt erweitert worden sind "Klima-Rechte", und andererseits eben die Autonomie des bürgerlichen Subjekts, das man auf Eigenverantwortung zurückführen kann. Und ja: Es gab hier immer eine Spannung, in gewissem Mass einen Gegensatz. Allerdings dürfte Ihnen auch bewusst sein, wie dieser Gegensatz traditionellerweise versöhnt wird: Menschenrechte sollen sehr niederschwellig garantiert sein. Will sagen: Man lässt die Leute nicht verhungern, zeigt sich bei der Sozialhilfe aber knausrig. In der Regel wird Eigenverantwortung ja als Prinzip ins Feld geführt in Politikbereichen, die durch die "blossen" Menschenrechte nicht mehr gedeckt sind, wo also Formen der Solidarität gefordert wären, die über die menschenrechtlich zu garantierenden Minima hinausgehen. Richtig finde ich den Hinweis, dass die Klimaproblematik, die Situation fundamental verändert. Eine nachhaltige Klimapolitik ist sicherlich ein "Meschenrecht", weil sie einen massiven Einfluss auf die weiteren Lebensverhältnisse der menschlichen Spezies hat. Und hier ist natürlich ein sehr hohes Mass der Solidarität und Koordination von Nöten - an dem die Weltgemeinschaft bisher scheitert. Ob die Klimapolitik zur Schule der kollektiven Verantwortung wird? Herzlich, DB

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Ich habe Ihren Artikel (wie andere auch) mit Freuden bzw. viel Inspiration gelesen.

Ich hätte mich zusätzlich gefreut, wenn folgender Ansatz im Artikel noch Platz gefunden hätte:

Eigenverantwortung sollte in Gemeinschaftsverantwortung (GV) eingebettet sein bzw. als integraler Teil von GV definiert/verstanden werden.

Die Linke könnte dies aufgreifen. Wie sonst können wir künftig globale, gemeinschaftverantwortliche Probleme wie Klimakatastrophe oder auch Pandemien meistern?

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Lebewesen
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Als Lebewesen komme ich nicht um elementarste materielle Gegebenheiten herum. Ich erlaube mir, hier das einfachste, aber m.E. in der allgemeinen Debatte am meisten vernachlässigte Element zu vertreten: das Gas Luft, das die Klimadiskussion seltsamerweise auf CO2 reduziert. Ohne O2 aus dem Gas sind atmende Lebewesen in kürzester Zeit tot. Jeder weiss: Rauchen ist tödlich: Lunge, Herz, etc. Wir kämpften für saubere Luft: i.A. nehmen Rauchverbot-Zonen zum Schutz der Gesundheit der Nicht-Raucher zu.
Das Menschenrecht auf Gesundheit betrifft das Gas Luft in dem Mass, als anthropogen verschmutzte Luft von der wissenschaftlichen Medizin als Pandemie mit Millionen von vorzeitigen, vermeidbaren Todesfällen diagnostiziert wird.
Und daher mein Bedenken gegenüber der EIGEN-Verantwortung: kein Wesen, vom Säugling mit den zartesten Lungenzellen bis zum Todgeweihten kann sich seine Luft aussuchen, eben eigenverantwortlich handeln. Wer würde den Zynismus wagen, den weltweit 600'000 an Dreckluft sterbenden Kindern Mangel an Eigenverantwortung vorzuwerfen? Verfassungsmässig ist die Situation klar: Art. 10, körperliche Unversehrtheit. Menschenrecht Art. 3: "Leben und Sicherheit" kann hier nur heissen: Schutz vor letztlich todbringender Luft, was "GEMEINSAME" Aufgabe von "ALLEN" sein muss, Aufgabe der "COMMUNAUTE HUMAINE", weil nur diese Luftverschmutzung als ihr "Recht" definiert und vermarktet, verantwortet. "Was alle angeht, können nur alle lösen" (Dürrenmatt) Das elementarste zelluläre Bedürfnis der landbewohnenden Lebewesen zwingt uns, die Physik des Gases Luft und dessen anthropogene Verschmutzung als etwas zu begreifen, das sich physisch der Eigenverantwortung entzieht.
(PS: "Gnade" erwächst uns durch den Gasaustausch mit unseren Mit-Lebewesen, den Pflanzen, deren Zuckerproduktion O2 freisetzt, dies seit Urzeiten, was die Erscheinung des Sapiens erst ermöglichte)

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Mitverantwortlicher Bürger
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Vielen Dank, Daniel Binswanger! Mein Hirn war schon ganz Sturm und durcheinander, ob all diesen Vernetzungen. Unmöglich eine "faire" Gesellschaft auf gesetzlichen Grundlagen zu schaffen.
Ermächtigung und Gnade, das sind für mich Die zwei Stichwörter, was Hoffnung gibt.

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… das fällt mir noch ein zum Thema Eigenverantwortung: Wenn ich einatmen will, muss ich zuerst ausgeatmet haben, also ist meine Verantwortung für mich immer verbunden mit der Verantwortung für andere. Eigenverantwortung kann also kaum nur egozentrisch sein, sondern ist immer auch allozentrisch, für andere.
Black Elk sagte es, soviel ich weiss, etwa so: 'Der erste Friede, der wichtigste, ist der, welcher in die Seelen der Menschen einzieht, wenn sie ihre Verwandtschaft, ihre Harmonie mit dem Universum einsehen und wissen, dass im Mittelpunkt der Welt das große Geheimnis wohnt und dass diese Mitte tatsächlich überall ist. Sie ist in jedem von uns. Dies ist der wirkliche Friede, alle anderen sind lediglich Spiegelungen davon. Der zweite Friede ist der, welcher zwischen einzelnen geschlossen wird. Und der dritte ist der zwischen den Völkern. Doch vor allem sollt ihr sehen, dass es nie Frieden zwischen den Völkern geben kann, wenn nicht der erste Friede vorhanden ist, welcher, wie ich schon oft sagte, innerhalb der Menschenseele wohnt.'
Tönt einfach. Ist einfach. Braucht Geduld und Austausch. Kann nicht gekauft werden.

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„Die Rechte bekennt sich mit der Eigen­verantwortung zu einem universellen Ethos der Haftbarkeit – hat aber die Tendenz, ausgerechnet die Eliten, die doch beispiel­gebend sein sollten, davon auszunehme“ – das ist für die real existierende Rechte kein Problem, weil sie Moral und Gerechtigkeitsempfinden als Schwäche ansieht. Wer stark ist, hat recht – und ist von Haftung ausgeschlossen. Denn wer sollte die wirklich Starken haftbar machen können?

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NL
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· editiert

Das gigantische Essay von Daniel Binswanger wird mich noch lange beschäftigen.Jeder Abschnitt verdient ein gründliches Nachdenken und einen den Text entsprechenden Kommentar.
Um die Tendenz - die sich im Ethos Eigenverantwortung manifestiert - zu kehren,
braucht es eine andere Art Bildung.
Bildung, die den Menschen befähigt als soziales Wesen zu leben, das Wertschätzung erfährt, ungeachtet seiner Position in der Gesellschaft.

L. O. erwähnt weiter unten in der Debatte, die Art und Weise wie Menschen in Schule und Beruf zu funktionieren haben und plädiert für eine Strukturänderung.

Eine Bildung, die den Menschen mehr entspricht als die jetzige meritokratische, könnte viel dazu beitragen.

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Daniel Binswanger
Feuilleton Co-Leiter
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Liebe Frau W.,

Vielen Dank für Ihren Kommentar. Was Sie ganz richtig gesehen haben: Das Thema der Eigenverantwortung ist eng verwandt mit dem Thema der Meritokratie. Vor einiger Zeit habe ich ja schon einen Text über Meritokratie geschrieben, im Anschluss an Michael Sander, über die Tatsache, dass mir die Verabsolutierung dieses Wertes in ihren Konsequenzen absurd und in ihrer Grundhaltung eine grosses Problem für die heutigen Demokratien zu sein scheint. Die Eigenverantwortung ist gewissermassen das gesamtgesellschaftliche Grundprinzip des dem Meritokratie-Ethos zugrunde liegt. Insofern kann ich Ihnen nur zustimmen: Ja, dass Bildungssysteme immer weniger die Orte der Bildung und immer mehr die Orte der Selektion sind, ist in jeder Hinsicht ein Problem. Und führt direkt in den Kern des Problems. Herzlich, DB

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Citoyenne
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Lieber Hr. Binswanger, nachdem ich ihren Text über die Meritokratie und die Diskussion mit ihnen, René Rhinow, Olivia Kühni, und Roger de Weck gehört und ihre Antworten auf die Kommentare gelesen habe, verstehe ich ihre Aussagen im Artikel nochmals besser. Danke ihnen für ihre klärenden Analysen und die immer wieder spannenden Hinweise zum Weiterdenken.

Trotzdem ist es mir ein Anliegen MEIN „ungutes Gefühl“ doch noch selber zu präzisieren:
Als Berufspädagogin in der Schweiz ist mein Erfahrungskontext nicht der von ihnen beschriebene einer Elitebildung. Im Zentrum meiner pädagogischen andragogischen Überlegungen, Haltungen und gelebter Praxis stand die Volksbildung, die Berufsbildung bis zur Fachhochschulbildung - zudem nicht der Wirtschaftssektor, sondern die Berufsfelder des Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesens. In diesem Kontext wird Bildung einfach nicht „meritokratisch“ verstanden und Rawls wird gewürdigt in seinen Überlegungen zu sozialer Gerechtigkeit. Dies äussert sich in Rahmenlehrplänen ebenso wie in den medizin-ethischen Richtlinien der SAMW oder Konzepten zu Altern und Gesundheit (BAG), Programmen zur Prekarisierung (BL) etc. Hier wird schon aus dem Berufsfeld heraus Freiheit und Würde immer zusammengedacht, Autonomie relational verstanden, Anstand, Respekt und Wertschätzung sind wichtige Kompetenzen, die vielfältig eingeübt werden, Verantwortung ist immer auch Verantwortung für das Wohl der Vulnerableren.
Libertäre Freiheitswillkür und neoliberale Ökonomisierung aller Bereiche gesellschaftlichen Zusammenlebens waren aus dieser Perspektive NIE nachvollziehbar ja wurden immer schon als schädlich differenziert diskutiert, kritisiert und „bekämpft“.
Ich bin froh, dass jetzt diese Diskussion wenigstens teilweise auch in der Wirtschaft und der liberalen Politik (wieder) angekommen ist.

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Lieber Herr Binswanger,
Vielen Dank für Ihre Antwort.
Den Text über die Meritokratie habe ich gespeichert, da er m.E. sehr wichtig ist in Bezug auf das Pflegen der Demokratie. Die Tendenz zur meritokratische Denkweise war schon vor fünfzig Jahren spürbar, löschte jedoch die authentische Verantwortung noch nicht aus.
Herzlicher Gruss, JW

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Citoyenne
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Liebe Fr. W., leider verstehe ich erneut nicht wirklich, was sie inhaltlich genau meinen. Ich habe L. O. gegoogelt und bin fündig geworden bei einer Instagrambenutzerin. Deshalb mein Nachfragen:
was sagt L.O. darüber, wie Menschen in Beruf und Bildung zu funktionieren haben?
und
Was ist denn meritokratisch an der jetzigen Bildung?
Frohe Ostern 🙏

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NL
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Liebe Frau B.,
L. O. schreibt weiter unten einen Kommentar in dieser Debatte. Zurecht erwähnt sie, dass es einen Srukturwandel braucht in Lern- und Berufssituationen.
( Anm. von mir: es herrscht zuviel Zeit- und Leistungsdruck. Lerninhalte sind mE wenig sinnvoll.

Bei der jetzigen Bildung liegt der Hauptakzent auf Wissensbildung und auf Vorbereitung eines angesehenen Berufs.
Anerkennung bekommt der Erfolgreiche.
Erfolg wird als persönlicher Verdienst gewertet.
Die Bildung die ich meine habe ich oben beschrieben.
Bildung zur

  • Wertschätzung für sich und anderen.

  • Gemeinschaftsfähigkeit.

  • Authentische Verantwortung.

  • Erkennen von Rechten und Pflichten.

  • Rechtschaffenheit
    und einiges mehr…..

Ebenfalls Schöne Ostern.

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Wunderbar! Indem der Artikel aufzeigt, wie sich der Begriff Eigenverantwortung in den vergangenen Jahrzehnten allmählich in die Politik eingeschlichen hat und seine Wirkung angesichts der gegenwärtigen Krisen vollends ausbreitet, zeigt er gleich auf, dass der Diskurs rund um Eigenverantwortung Bullshit ist. Es wird klar, dass hier ein Diskurs von (verhältnismässig) wenigen (eigenverantwortlichen oder fahrlässigen?) Entscheidungsträger:innen durchgesetzt wird, der aber gravierende Auswirkungen auf Individuen ausserhalb dieser Gruppe haben kann, die weder eigenverantwortlich noch fahrlässig zum Ethos der Eigenverantwortlichkeit beigetragen haben.

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Leser
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Wer hätte gedacht, in Binswanger schlummere ein Christ? Ein Appell an die gute, soziale, empathische Seite der menschlichen Natur hätte völlig gereicht. Wir als Gesellschaft sind oberste Instanz. Gnade muss von uns kommen.

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Daniel Binswanger
Feuilleton Co-Leiter
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Lieber Herr K., vielen Dank für diese Bemerkung. Was da wo schlummert, ist ja immer schwierig zu diagnostizieren. Jedenfalls: Als Christ habe ich mich nie verstanden, für das christliche Sozialethos aber immer den grössten Respekt gehabt. Dass die Gnade von uns Menschen kommen muss - da stimme ich Ihnen zu. Dennoch ist es interessant, wie heutige Diskurse die Nachfolge theologischer Erklärungsmuster antreten. Und wirkungsmächtig. Herzlich, DB

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Viel Stoff zum Nachdenken. Aber auch ich kann den Schwenk zur (christlichen) Gnade am Schluss nicht ganz nachvollziehen. Gerade die Institution Kirche pflegt(e) ja in extenso Schuld und Bussetun. Und die, die es predig(t)en, die Kleriker, «zahlten bis 1800 keine Steuern, wurden nicht Soldaten, waren von Hungersnöten kaum betroffen.» (Kurt Flasch). Aber ja, es gibt auch die Bergpredigt.

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Die Suche nach dem Entwicklungsweg eines Begriffs fast in sein Gegenteil las ich mit Gewinn. Nach dem kalten Krieg, in der langen neoliberalen Phase seit den 80ern, war Wohlstand vor allem durch ungehemmten und fast schrankenlosen Kapitalismus und Konsum als neue "Wahrheit" ganz oben auf die Agenda geraten. "Das Trickle Down"-Prinzip. Wer davon nicht profitierte, wurde damit sseitr damals lange als "irgendwie selber schuld" neu in eine Kategorie zugeordnet. Psychologisch war das als Kleinreden der Schuld entlastend, denn es war immer klar, dass die Startchancen ungleicht verteilt sind und mit dem sozialdarwinistischen Wettberwerb noch ungerechter wurden.
Zudem hat die Erkenntnis, dass man Schwächere wirklich empowern muss und dass dies auch gewissen Forderungen beinhalten kann, diese Tendenz gefördert. Der Slogan "Fördern und Fordern" hat seine Berechtigung und ich wende es in der Schule täglich an. Doch neimand schaute so genau hin, dass nun "Fordern" in den Vordergrund trat und es keinesfalls ausgeglichen war. Natürlich verstärkten rechtspolitische Strömungen dies.
Um die "Gnade" geht es mir nicht - ist das hier eine Reminiszenz an die österliche Publikation?
Meines Erachtens haben wir aber nicht die "Gnade" aus den Augen verloren, sondern grundsätzlich einander.
Die 2. Hauptströmung der Zeit seit dem kalten Krieg ist doch die Super-Individualisierung unserer westlichen demokratischen Gesellschaften!
Diese kann nicht irgendeinem System oder politischen Kräften zugeschoben werden, sondern ist letztlich einfach die logische Konsequenz unserer "hehrsten Ziele und Moral": Die Weiterentwicklung der individuellen Menschenrechte. Aus etwas so Gutem Wichtigen und nie mehr Hintergehbaren kann eben auch unerwünschte Nebenwirkung kommen. Der Individualismus ist soweit vorangetrieben worden, dass er gegenüber dem Gemeinschaftssinn dominant geworden ist. Wer sich das genau 1:1 ansehen will, der/die unterrichte ein Weilchen an einer öffentlichen Schule. Die Hauptaufgabe, bevor Schule heutzutage wirklich in einer "Klasse" starten kann, ist erstmal monatelang - wenn nicht jahrelang - daran zu feilen, überhaupt eine Klassengemeinschaft, die den Namen verdient hat, hinzukriegen! Hier ist das Problem nicht das Fordern/die Rechtfertigung seines/ihres Tuns an die Einzelnen, denen sonst Strafe und genaue Regelung droht. Sondern, dass es aus lauter "Selbsts" keine allgemeine Verantwortung mehr gibt - diese vor allem und fast ausschliesslich stets nur von den "Anderen" gefordert wird. Die eigene Freiheit soll möglichst grenzenlos sein, ein schlechtes Gewissen, dass man zu wenig "performt", hat das über ein für gedeihliches Mass Indivdualiserte eben gerade nicht, weil es dann nur noch Verwöhnung ist!
Man/frau kriegt Verantwortung für Andere aber hin, wenn das Paradigma es anders vorgibt, weil im Grunde gute Freunde, es schön miteinander haben, Erfolge teilen, ...etc. immer noch zentrale Bedürfnisse sind, denen sich Menschen gegenüber ihren "Selbst-Impulsen" zurücknehmen bereit sind. die ihnen sogar mehr Befriedigung und Freude und Sinn verschaffen. Das weiss man aber im Zeitalter der "Selbstverantwortung" fast nicht mehr. Und die Politik traut sich nicht, eifach nur gute alte "Verantwortung (für Andere)" einzufordern.
Es hat es einfach niemand mehr den entscheidenden Unterschied gemerkt, den hier Binswanger ausführlich entlarvt - auch Berset und die breite CH-Politik nicht, weil der Fokus seit langem so extrem auf dem Individuum liegt. Die Pandemie und nun die Rückkehr des offenen Krieges in Europa korrigieren es wieder.

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Gaby Belz
semi-Rentnerin, semi-Berufsfrau
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Der Gegenbegriff zur Selbstverantwortung, der ja ein Menschenbild der radikalen Vereinzelung voraussetzt, ist Care. Hier nicht primär bezogen auf pflegende und betreuende Berufsgruppen, sondern als grundlegendes Narrativ: wir sind alle (also auch die gesamte belebte Welt, in die sich die Menschen als besonders begabte Spezies spätestens seit Bruno Latours „Terrestrischem Manifest“ einreihen bzw. in ihrem Selbstbild viel stärker zurechnen sollten) sorgebedürftig - zu Beginn und gegen Ende des Lebens sowieso, aber auch im Alltag während der ganzen Lebensspanne. Jede unserer Entscheide und Handlungen ist voraussetzungsreich in x Richtungen, was im Zeitalter der Individualisierung und der konzeptionellen Abwertung unserer Natur-gegebenen Bedingtheit dauernd unterschlagen und somit nicht wertgeschätzt wird. Gesellschaftliche Mitverantwortung könnte dann bedeuten dass wir unser Bestreben darauf richten, für uns und anderen permanent Räume für individuelle Entfaltung öffnen und offen halten dort wo unsere eigenen Beiträge einen Unterschied machen, und dass wir strukturelle Einrichtungen (geltendes Recht, staatliche Dienstleistungen, Politik, Forschung, Bildung und Zivilgesellschaft) daraufhin beobachten wie effizient sie dem übergreifenden Ziel der angepassten Entfaltungsräume für Gemeinschaften und Individuen auf Grundlage einer Natur mit denselben Ansprüchen zum Durchbruch verhilft.

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Sehr spannender und treffender Artikel. Einige Widersprüche unserer Ernährungspolitik oder wohl Ernährungs-Eigenverantwortung lassen sich mit dem in diesem Artikel verfolgten Denkansatz erklären. Landwirte sehen sich konfrontiert mit zunehmender Regulierung und Rechenschaftspflicht, wobei Konsumenten und Handel voll und ganz eigenverantwortlich handeln können. Logisch, das dies fürs Klima und die Biodiversität nur marginal was bringt. Etwas mehr Verantwortung übernehmen und den Diskurs pflegen wäre wahrscheinlich hilfreich.
Wunderbar auch als Wort zu Ostern: Die Botschaft der Gnade oder der bedingungslosen Liebe tut heute Not, mehr denn je.

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Daniel Binswanger
Feuilleton Co-Leiter
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Lieber Herr M., vielen Dank für Ihr freundliches Kompliment. In der Tat: Mehr Auswahl bringt häufig mehr Kontrolle und mehr Regulierung, weil dann ja überprüft werden muss, ob die verschiedenen Bio-Standards, zu denen der Konsument greifen kann, erfüllt worden sind oder nicht. Manchmal müsste man wohl das richtige einfach verordnen anstatt es zur Wahl zu stellen - wenn man denn ganz sicher ist, dass es das richtig ist. Und meine Osterbotschaft bringen Sie sehr schön auf den Begriff: Was ist in unserem Leben eigentlich noch bedingungslos? Herzlich, DB

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Michel Rebosura
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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Ich frage mich, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen der Tatsache, dass die Schweizer:innen weltweit am meisten Versicherungen abschliessen und jener, dass der Ausdruck «Eigenverantwortung» in der Schweiz am meisten erwähnt wird.

Und nebenbei: Ich erinnere mich, dass auch hier manche das Solidaritätsprinzip der Krankenversicherung ritzten und forderten, dass Ungeimpfte für ihren Spitalaufenthalt «eigenverantwortlich» aufkommen sollten. Wie sehen jene das nun im Lichte dieses Essays?

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Es wird nun von Bosheit der Reichen geredet, obwohl der Begriff des Besitzes sie selbst darstellt: man verbietet Anderen gewisse Lebensgüter zu nutzen und hemmt ihre Vitalität damit.
Die Schieflage solcher Darstellung offenbart sich im Abschieben aller Besitzkritik in die verachtete Linke, obwohl sie zum zentralen Kern menschlichen Zusammenleben gehört.
Die Demokratie selbst funktioniert selbt nur in sich als von anderen Kreisen abgehoben erlebenden Gesellschaften.
Die Aufteilung von Menschen in „Fähige“ die es geschafft haben und alle Anderen ist willkürlich und unwahr, denn Fähigkeiten sind meist ein Ergebnis einer Lebenslage und keine fixen Voraussetzungen.

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Ich frage mich, wieso der Begriff „Eigenverantwortung“ vor allem in der Schweiz so oft benutzt wird? Wieso sind wir hier weiter als andere Länder oder wird der Begriff in anderen europäischen Ländern gar nie eine solche Bedeutung bekommen? Wieso nicht?

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(durch User zurückgezogen)
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Vielen Dank für diesen Artikel, der zum Weiterdenken und Diskutieren anregt. Es geht um nicht weniger als um unser Wertesystem, als Individuum, als Gruppe, als Gesellschaft. Was wollen wir wie belohnen bzw. sanktionieren? Der Artikel zeigt sehr schön, dass mit dem Grundsatz der (Eigen-)Verantwortung, je nach Situation oder Betrachtungsweise, unterschiedliche, ja gegensätzliche Schlussfolgerungen möglich sind.
Ich persönlich wünsche mir, dass Errungenschaften, die das Leben vieler Menschen nachhaltig positiv beeinflussen, mehr Anerkennung geniessen sollen. Warum bekommt jemand der mit Börsengeschäften viel Geld gemacht hat mehr Anerkennung (medial wie monetär) als ein Krebsforscher der mit einer neuen Therapie unzählige Leben rettet? Oder eine Agraringeieurin die mit neuen Technologien bessere Ernährung für Millionen möglich macht? Warum schreiben die Journalisten kaum über solche Erfolge, die Familie Kardashian bekommt aber sogar ihre eigene Netflix-Serie? Sind wir wirklich als Gesellschaft so extrem oberflächlich?

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Daniel Binswanger
Feuilleton Co-Leiter
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Lieber Herr K., vielen Dank für diesen Einwurf. In der Tat: Es stellt sich nicht nur die Frage, wer wofür haftbar gemacht wird, sondern auch wie die Anerkennung und Aufmerksamkeit verteilt wird. Auch in diesem Bereich ist es ja zu Verschiebungen gekommen, die sicherlich nicht gesund sind und nicht so weit zurückreichen. Es war schon immer so, dass Bankiers besonders viel verdienten, aber in den 60er, 70er Jahren war der Abstand zu einer bedeutenden Wissenschaftlerin, die lebensrettende Medikamente entwickelte, noch viel viel kleiner. Da ist sicherlich etwas aus dem Lot geraten. Noch deprimierender ist zweifelsohne die Aufmerksamkeitsökonomie: Warum absorbieren die falschen Dinge so viel medialen Raum? Es dürfte schon auch damit zu tun haben, dass es den Medien nicht besonders gut geht. Herzlich, DB

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Der Wortteil eigen zeigt, wie ein Begriff wie Verantwortung mehrdeutig interpretierbar und dadurch für einen verschleiernden ideologischen Gebrauch verwendbar gemacht werden kann. Denn eigen kann hier in widersprüchlichem Sinn verwendet werden, einerseits als handelndes und für die Handlung verantwortliches Subjekt (wie zum Beispiel in eigenmächtig im Sinne von Ermächtigung), anderseits als passives, privates Eigentum bezeichnendes Objekt ("Lueg [schau] für dich!", wie man so schön sagt).
Der Begriff Eigenverantwortung wird zur Kampffloskel und somit für Erkenntnis unbrauchbar. Er sollte aus dem Wortschatz gestrichen werden.

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Der Bogen von der Schweizer Coronapolitik zu Rawls made my day…

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Anderer 60
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Ich habe schon lange gewartet. Merci Daniel Binswanger.

Am klarsten ist aus meiner Sicht die Eigenverantwortung bei der GLP. Ich vermute, dass diese Politiker:innen am Start des Lebens im Rucksack aus Glück schon den Boden vorgefunden waren, vom Staat günstig Stück für Stück gefüllt worden sind und jetzt von Eigenverantwortung heischen, als wären sie nur alleine für das Fortbilden verantwortlich sind. Die GLP sieht die Eigenverantwortung als unverzichtbares (unsoziales) Modell für die ganze Gesellschaft im Unterschied zur FDP, die solange seine Klientel befriedigt wird, die Ideologie an die Realität mit erwas Sozialem anpassen kann. Die FDP kann mit der SP Päckli schnüren, um die AHV zu überbrücken.

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Welch ausgezeichnete und hochaktuelle Analyse, mit der sich viele Phänomene unserer Zeit erklären lassen. Mir gehen jedenfalls so mache Lichter auf.
Ich denke zB geradean Situation so mancher Eltern, die Förderungen für Kinderbetreuung bekommen, aber wenn die Gehälter um den „richtigen“ Betrag steigen, fällt der Zuschuss weg und durch das Bezahlen der gesamten Kosten hat man am Ende weniger als vorher. Mithilfe der Binnswangerschen Analysebrille wird klar, dass es eben die Logik der „eigenverantwortlichen“ Finanzierung der Kinder ist, die hier wirkt. Nur wer ganz spezifische Kriterien erfüllt, wird von der Gesellschaft unterstützt. Eine gänzlich andere Logik wäre es zu sagen, die Gesellschaft (genauer gesagt: die Steuerzahler:innen) trägt die finanzielle Verantwortung für Kinderbetreuung und daher werden alle Kosten übernommen.

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Michel Rebosura
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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Lieber Daniel, noch eine philosophische Randnotiz: Den Kontraktualismus mit Rawls beginnen zu lassen und als Förderer der verkürzten Eigenverantwortung zu bezeichnen, dünkt mir doch etwas zu sehr a stretching of the argument zu sein.

Der Gesellschaftsvertrag war vielleicht der Schlüsselbegriff der politischen Philosophie während der Aufklärung. Man denke nur an Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau. Und er ist im Grunde auch in unser Verständnis einer Verfassung eingegangen. Ein Regelwerk also, das nicht mehr durch Gottesgnaden[sic!] legitimiert wird – oder abgeleitet davon durch Königsgnaden oder ursprünglich vorausgehendem «Recht» des Stärkeren.

Etwas merkwürdig verklärt oder verkürzt ist auch das Bild des Konsequenzialismus bzw. Utilitarismus.

Wichtig war nicht, wem gerechter­weise was zusteht, sondern dass das Ergebnis für alle optimal wird.

Dabei meint «alle» nicht unbedingt «jeden Einzelnen», sondern in der «Summe». Einzelne oder gar ganze Gruppen können für das in der Summe berechnete Allgemeinwohl (etwa berechnet als BIP) gut und gerne in Armut verbleiben, etwa als «Reservearmee» oder als «Exempel» für die Mittelschicht, denn «der Zweck heiligt die Mittel».

Sozial­philosophien vom utilitaristischen Typ interessieren sich für sinnvolle Strukturen und optimale Ergebnisse, nicht für die individuellen Verdienst- und Sünden­register der Bürgerinnen.

Einer der Begründer des klassischen Utilitarismus, Jeremy Bentham, war auch der Erfinder des «Panoptikum», «ein Modell-Gefängnis, das Michel Foucault als Symbol für die Überwachungs- und Herrschaftsstrukturen der modernen Zivilgesellschaft» gilt. Oder Peter Singer, einer der bekanntesten zeitgenössischen Vertreter des Utilitarismus, tritt auch für den sog. Effektiven Altruismus ein, der u. a. als Individualisierung des Wohlfahrtsstaates (social welfare) zur Wohltätigkeit (charity) kritisiert werden kann. Auch arbeiten manche in der Finanzbranche, um möglichst viel spenden zu können. Auch hier: Der Zweck heiligt die Mittel.

Und schliesslich:

Die angel­sächsische politische Philosophie hat im Anschluss an Rawls deshalb damit begonnen, wahnwitzig viel Energie darauf zu verwenden, solche Kriterien immer präziser zu definieren.

Das ist nun wirklich kein gutes Argument gegen eine Theorie, da dies nunmal generell die Arbeit der Philosoph:innen (und Jurist:innen) ist und hochdifferenzierte Begriffsanalysen speziell geradezu das Wesensmerkmal der «scholastischen» angelsächsischen Analytischen Philosophie. Dies gilt nicht nur für den Luck Egalitarianism, sondern gerade auch für den Utilitarismus. Man denke nur an die elaborierten «Lust-Kalküle» oder noch komplexeren «Präferenzen-Kalküle», geschweige denn die Übertragung dieses kalkulierenden Denkens in den spieltheoretischesn Kalkülen der neoklassischen Ökonomie.

Womit wir wieder beim Unternehmer und Marktteilnehmer mit seiner Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit frei von Staat und Gesellschaft wären.

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Daniel Binswanger
Feuilleton Co-Leiter
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Lieber Michel,

Ich wollte Rawls nun wirklich nicht unterstellen, dass der Kontraktualismus mit ihm begonnen habe. In der Tat: Er ist das Erbe der politischen Philosophie der Aufklärung, und insbesondere Rousseau ist ja für Rawls ein unmittelbares Vorbild. Soviel war mir schon bewusst. Das ist aber auch nicht mein Punkt. Mein Punkt ist, dass eine bestimmte Form des Kontraktualismus unsere Auffassung von politischer Gerechtigkeit über die letzten 30, 40 Jahre ganz fundamental geändert hat. Dass man in den 70er Jahren über diese Dinge noch anders nachdachte, weil man sie an der Frage orientierte: Was müssen wir tun, damit es allen gut geht. Und nicht an der heutigen Frage: Wer hat was verdient? Beziehungsweise: Dieser Paradigmen-Wechsel steht im Kern der These von Mounk. Und ich finde das sehr überzeugend und bedeutsam. Es ist eine originelle - etwas ketzerische - Rawls-Lektüre, die man auch angreifen kann. Sicher. Aber wie gesagt: Der Punkt ist nicht, dass Rawls er erste Kontraktualist ist. Was Deine anderen Einwände betrifft: Die sind sicherlich ernst zu nehmen. Es ist immer ein Problem, wenn Sozialethische Systeme im Namen eines höheren Zwecks unheilige Mittel zu legitimieren beginnen. Guter Punkt. Mein Punkt war allerdings der gegenteilige: Es ist auch ein Problem wenn von höheren Zwecken abgesehen wird, wenn die Beurteilungsbasis nur noch auf individueller Ebene veranschlagt wird, und schliesslich ein jeder nur noch an seinem Meriten- und Sündenregister gemessen wird. Das ist die Welt, in der wir leben.
Schliesslich und endlich: Ja, Differenziertheit ist immer gut, darüber müssen wir wirklich nicht disputieren. Aber die Zurechnungsscholastik des luck egalitarism ist tatsächlich auch absurd. Mir erscheint sehr flagrant, dass sie das Symptom eine sozialethischen blind spots ist. Und ich denke aus der Perspektive foucauldscher Diskurskritik ist es auch angezeigt, so etwas auf den Begriff zu bringen. Mounk macht übrigens eine sehr differenzierte Analyse der ganzen Argumente (was ich nicht reproduziere, weil das Ding ohnehin schon zu komplex und lang geworden ist), ich kann das nur empfehlen. Aber es hat etwas leicht wahnwitziges: Dieser eiserne Wille, zu beweisen, mit welchen Zusatzdifferenzierungen steiles ökonomisches Gefälle in manchen Fällen dann vollkommen ok und in anderen Fällen absolut zu verwerfen sei - der Gedanke, dass das seltsame ideologische Diskurse Sinn - die mit dem allerkommunsten common sense übereinstimmen - liegt relativ nah. Herzlich, DB

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Michel Rebosura
Ratsmitglied Project R Genossenschaft
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· editiert

Lieber Daniel, danke für die Replik. Dass der Kontraktualismus nicht mit Rawls beginnt, war ebenfalls nicht mein Hauptpunkt, sondern ich fand es etwas befremdlich, dass (1.) «Das Zeitalter der Verantwortung» erst «heute» angebrochen sein soll – und dass (2.) Rawls hierbei «fördernd» gewesen wäre.

Zum 1. Punkt:

Eigen­verantwortung bedeutet: Es wird abgerechnet.
[…]
Schliesslich liegt es in der Verantwortung jedes Bürgers, ob er sich an die Abmachungen hält oder nicht.

Das ist mit Verlaub wohl das Grundverständnis eines jeden Staates seit – nun, seit dem es Staaten gibt, also seit 4000 vor Christus. Wer sich nicht an Gesetze oder moralische Regeln hält, der wird haftbar gemacht und dafür sanktioniert. Individuelle «Verdienst- und Sünden­register» gibt es wohl ebenfalls seit es Religionen gibt, etwa im Christentum.

Dagegen sprach ja bereits Nietzsche in seiner «Genealogie der Moral», der vermutlich die erste radikale Kritik der Verantwortung schrieb. Staaten und Religionen benötigen «Sub-jekte», also «Unter-worfene», welche Verantwortung tragen – gegenüber Herrschern, Staaten, Gottheiten. Diese «Subjektivierung» geschieht durch eine «Anthropotechnik»: «Ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf.»

Zuerst nennt man einzelne Handlungen gut oder böse ohne alle Rücksicht auf die Motive, sondern allein der nützlichen oder schädlichen Folgen wegen. Bald aber vergisst man die Herkunft dieser Bezeichnungen und wähnt, dass den Handlungen an sich, ohne Rücksicht auf deren Folgen, die Eigenschaft gut oder böse innewohne. Sodann legt man das Gut- oder Böse-sein in die Motive hinein und betrachtet die Thaten an sich als moralisch zweideutig. (Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches)

Danach wird «gut» und «böse» dem ganzen Wesen eines Menschen unterstellt. Wozu?

Überall wo Verantwortlichkeiten gesucht werden, pflegt es der Instinkt des Strafens- und Richten-Wollens zu sein, der da sucht. Man hat das Werden seiner Unschuld entkleidet, wenn irgend ein So-und-so-Sein auf Wille, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurückgeführt wird: die Lehre vom Willen ist wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe, das heißt des Schuldig-finden-wollens. (Nietzsche, Götzen-Dämmerung)

Seine Kritik war bekanntlich radikal:

Die völlige Unverantwortlichkeit des Menschen ist der bitterste Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muss, wenn er gewohnt war, in der Verantwortlichkeit und der Pflicht den Adelsbrief seines Menschentums zu sehen. (Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches)

So weit wollen die Allermeisten offenbar nicht gehen.

Zum 2. Punkt:

Was einer Bürgerin zusteht und was nicht, wird bei Rawls deshalb stark von ihrer individuellen Vorgeschichte bestimmt. Sozial­philosophien vom utilitaristischen Typ interessieren sich für sinnvolle Strukturen und optimale Ergebnisse, nicht für die individuellen Verdienst- und Sünden­register der Bürgerinnen.

Der ganze Abschnitt ist meiner Meinung nach, wenn nicht eine Verfälschung, so doch zumindest eine arge und auch einseitige Verkürzung sowohl von Rawls als auch vom Utilitarismus. Rawls schreibt zu seinem primären Gegenstand der Gerechtigkeit:

For us the primary subject of justice is the basic structure of society, or more exactly, the way in which the major social institutions distribute fundamental rights and duties and determine the division of advantages from social cooperation. By major institutions I understand the political constitution and the principal economic and social arrangements. (Rawls, A Theory of Justice)

Also auch Rawls geht es um «sinnvolle Strukturen». Doch im Gegensatz zum «Urzustand» «im Schleier des Nichtwissens», gibt es im realen Zustand strukturelle Ungleichheiten und positionsbedingte Eigeninteressen.

The basic structure is the primary subject of justice because its effects are so profound and present from the start. The intuitive notion here is that this structure contains various social positions and that men born into different positions have different expectations of life determined, in part, by the political system as well as by economic and social circumstances. In this way the institutions of society favor certain starting places over others. These are especially deep inequalities. Not only are they pervasive, but they affect men’s initial chances in life; yet they cannot possibly be justified by an appeal to the notions of merit and desert. It is these inequalities, presumably inevitable in the basic structure of any society, to which the principles of social justice apply. (Rawls, A Theory of Justice)

Es geht also Rawls sehr wohl um «primär um sozialen Ausgleich». Worum geht es konkret? Etwa um strukturelle Diskriminierung: Sexismus, Rassismus, Klassismus, Ableismus usw. – aktuelle Themen also, die mittels staatlicher und gesellschaftlicher Affirmative Action und anderen Policies zur Chancengleichheit aufgehoben werden sollen und die gerade gegen die libertäre Ideologie der Eigenverantwortung und ihrem Mythos der Eigenleistung gehen.

Rawls lehnt notabene meritokratische Kriterien der (distributiven) Gerechtigkeit ab, weil eine Verteilung auf Grund der «Eigenleistungen» notgedrungen Vererbtes belohnt, für die die Träger:innen nichts geleistet haben – «happy family and social circumstances».

Der Luck Egalitarianism setzt genau an dieser neuralgischen Stelle seine Kritik an Rawls an. Er möchte genau zwischen verdienten und unverdienten Belohnungen und Bestrafungen, zwischen Strukturellem und Individuellem unterscheiden können – was in der Tat angesichts der komplexen Kausalketten in Absurde gehen kann.

Eigentlich war dessen egalitäres Bestreben, die unverdienten Belohnungen und Bestrafungen identifizieren und entsprechend als durch den Staat aufzuhebende Ungerechtigkeiten anprangern zu können. Es ging ihnen also im Grunde nie darum ein «steiles ökonomisches Gefälle in manchen Fällen dann vollkommen ok» zu finden – im Gegenteil.

Doch ein Libertarismus (und eine Versicherungs- oder Gerichtsbeurteilung) kann dieselben Kriterien verwenden, um bloss verdiente Belohnungen und Bestrafungen zu berechnen. Dies aber wurde schon Rawls oder dem Luck Egalitarianism gemacht.

Und ist nicht die sozial-liberale Idee nach wie vor, dass, wenn alle Barrieren eingebnet, Chancengleichheit hergestellt und Empowerment alle befähigt hat, dann alle Ungleichheiten als «verdiente» gerechtfertigt wären. Wollen wir diese Bestrebungen nach Barrierenfreiheit, Chancengleichheit und Empowerment aufgrund aufgeben?

Was wäre die Alternative? Der Staat stellt materielle Gleichheit her. Bedingungslos, d. h. unabhängig von den eigenverantworteten Eigenleistungen oder Fehlleistungen, aber auch unabhängig vom unverdienten strukturellem Glück oder Unglück.

Der Staat wäre dann gnädig.

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Citoyenne
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Vielen Dank Hr Rebosura für diese vertiefenden Gedanken. Auch ich hatte an diesen Stellen ein „ungutes Gefühl“ beim Lesen ohne es gleich analysieren reflektieren und in Worte fassen zu können.

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<Die Eigen­verantwortung ist letztlich ein erdrückendes Ethos der Gnaden­losigkeit.>
sic!

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Ärztin
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Was ich dazumal in der Schule gelernt habe: Historisch gesehen war der wichtigste Unterschied zwischen Luther und Calvin, dem "Augsburger" und dem "Helvetischen" Bekenntnis der Reformierten, genau das: die Frage der Bedeutung der Gnade Gottes für das Heil (die Ansicht, die Luther vertrat) und die Bedeutung der Eigenanstrengung (bei Calvin). Daher hat die industrielle Revolution zunächst in den Calvinistischen Ländern des Westens stattgefunden und zu Wohlstand geführt, aber auch hierarchische Gesellschaftsverhältnisse und Ausbeutung der Unterprivilegierten legitimiert. Der Osten/Süden versucht heute noch, nachzuziehen und verlangt zuvorderst Teilhabe am Konsum lange vor dem Interesse an "Eigenverantwortung". Der "selfmademan" des Westens ist auf Calvins Boden gewachsen, und auch so manches charakteristische Element im Selbstverständnis des Vorzeigeschweizers.
Diesem beliebten helvetischen Mythos entspricht allerdings nur eine Minorität, aber zwei Drittel, also die Majorität der Bevölkerung in der Schweiz - Kinder, Studierende, Alte, Frauen mit Kindern und chronisch Kranke - nämlich nicht. -
Die Thematik lässt sich auch noch in einen weiteren historischen Rahmen einordnen: das Alte und das Neue Testament. Das alte Testament kennt nur die gerechte Strafe, den Zorn Gottes; der Begriff der Gnade ist neutestamentarisch. Darin liegt die tiefste Bedeutung des Osterfestes, dass der Kreuzestod Christi "die Schuld der Welt" hinwegnimmt, also Gnade erwirkt hat für alle Menschen, in der Vergangenheit und in der Zukunft.
Die Gnade verweist so - und das wurde in einigen Kommentaren deutlich - nach zwei Seiten hin auf wesentliche Aspekte des Menschseins: Bedürftigkeit einerseits und Schuldigkeit andrerseits. In beidem sind wir auf Mitmenschlichkeit, Barmherzigkeit angewiesen.
Man muss das im theologischen Sinn nicht verstehen können oder wollen. Man kann auch rein psychologisch darüber nachdenken, was es bedeutet, ob man einem Kind oder einem erwachsenen Mitmenschen zugesteht, Fehler machen und aus seinen Fehlern lernen zu dürfen, oder ob man Fehler ohne Gnade ahndet. (In diesem Zusammenhang ist mir der hymnische Lobgesang auf den Investigativjournalismus im Zusammenhang mit dem Berger-Entführer ziemlich kalt unter die Haut gegangen: Werden Sie einmal alle meine Beiträge in der Republik zusammenstellen und veröffentlichen, um ein Täterprofil von mir zu gewinnen, sollte ich einmal in die Schlagzeilen kommen....?)
Der Mensch ist ein Entwicklungswesen, die zero default-Ideologie ist aus industriellen Fertigungsprozessen als sogenanntes Qualitätsmanagement in die soziale Landschaft transferiert worden. Aber in der industriellen Herstellung wird nie was andres herauskommen als immer eine Serie des Gleichen. Das ist das Ziel.
Bei Menschen sollte unser Interesse dem unvergleichlich Neuen, Anderen gelten, das mit jedem Individuum nach und nach in die Welt kommen kann, wenn man ihm Förderung angedeihen lässt und Entfaltungsraum. Paradoxie am Rande: Das Proklamieren der Eigenverantwortung im Pandemiemanagement hat den Schweizer Schulkindern einiges mehr an Präsenzunterricht ermöglicht als in fast allen anderen europäischen Ländern ringsum! - im Sinne des Schutzes von Entwicklungsräumen.
Eine nicht zu vergessende stetig zunehmende Einschränkung der sinnvollen Eigenverantwortung kommt aus der Haftpflichtecke: Drohende Aufdrucke der Behörden oder der Hersteller nicht nur auf den Zigarettenpackungen, sondern auch auf Plastikbeuteln (sie könnten Kindern gefährlich werden) und Kerzen (sie können Brand verursachen!!!). Wie doof sind wir eigentlich geworden? Früher hiess es nur "Gabel, Messer, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht", aber dann hat man den Umgang damit aber sehr schnell gelernt und war schon ein Grosser.
Fazit: Eigenverantwortung leben zu wollen ist ein sinnvolles Ideal, das produktive Kräfte freisetzen kann und viel Befriedigung verschafft, wenn es gelingt. Eigenverantwortung von andern zu fordern, hat bisweilen etwas Hinterhältiges. Zu Eigenverantwortung ermächtigen sollte ein wichtiges Ziel in der Pädagogik sein.

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