Die Republik ist nur so stark wie ihre Community. Werden Sie ein Teil davon und lassen Sie uns miteinander reden. Kommen Sie jetzt an Bord!
Der NZZ-Kommentar, erst jetzt gesehen, ist in der Tat befremdlich. Wie muss man das lesen? Klingt wie: «Wenn nun schon dunkelhäutige Insulaner Nobelpreise erhalten, ist was faul in dem Laden.» Herrje, arme Falkenstrasse.
Man muss allerdings dazusagen: In den 90er und Nuller Jahren war die NZZ – wenn ich das richtig sehe – von allen deutschsprachigen Medien dasjenige, das die Werke von Abdulrazak Gurnah am häufigsten und kompetentesten gewürdigt hat.
Damals hatten die auch anderes Personal. 😉
Ich habe vor Jahren das Buch "Ferne Gestade" von Abdulrazak Gurnah gelesen. Das Buch wurde wohl irgendwann bei den monatlichen Neuanschaffungen der Museumsgesellschaft in Zürich präsentiert und ich konnte es ausleihen. Durch die mug habe ich schon viele aussereuropäische Autor:innen entdeckt, viel gelernt über aussereuropäische Geschichte und andere Lebenswelten. Ich schätze diese Art zu reisen sehr und bin sehr dankbar, gibt es die Museumsgesellschaft. Neben deutschsprachigen gibt es übrigens gut bestückte Abteilungen mit englischen, französischen, italienischen Büchern.
Vielen Dank, liebe Frau D.! Ihr Hinweis auf «Ferne Gestade» ist auch deshalb wichtig, weil man daran noch etwas anderes über Sichtbarkeit und Aufmerksamkeitsökonomien im Literaturbetrieb zeigen kann. Wer damals Mitglied im «Anderen Buchklub» des Vereins Litprom war, der sich für die Sichtbarkeit von Literatur aus afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen Ländern einsetzt, hat den Roman «Ferne Gestade» als Teil des Buchklub-Programms erhalten. In der Schweiz hat der Verein artlink mit Litprom zusammen den «Anderen Buchklub» organisiert, der nun in einem etwas anderen Format als «Abonnement Weltempfänger» fortgeführt wird. Als in den vergangenen Wochen die Verlage und der Literaturbetrieb kritisiert wurden, weil von Gurnah nichts lieferbar war, war gleichzeitig wenig von denjenigen die Rede, die sich seit Jahren für diese Literaturen einsetzen, also eben z.B. kleine und kleinste Verlage, die oft über Jahrzehnte unermüdlich und mit grosser Sachkompetenz Bücher verlegen, die anderswo durch als nicht ausreichend marktgängig durchs Raster fallen. Man sollte bei der Kritik dessen, was fehlt, auch diejenigen nicht vergessen, die sich oft unter ökonomisch schwierigen Bedingungen für mehr Vielfalt einsetzen. Insofern kann ich, was Sie schreiben, nur unterstreichen.
Danke für den Beitrag.
Als ich die Postkarten meines Grossvaters an seine Frau vom Belgisch Congo das erste Mal gelesen habe, erschrak ich.
Was für uns heute Normalität ist, war für diese Generation diese Zeit normal. Normalität in der Rückschau zu hinterfragen ist wesentlich einfacher, als sich mit der eigenen Normalität auseinander zusetzen. Schockiert hat mich erst der Umstand, dass wir aus der vergangenen Normalität nicht gelernt haben. Wir halten die vergangene Normalität kaschiert aufrecht.
Gurnah's Erzählungen können uns helfen, unsere Normalität zu hinterfragen. Aber ich befürchte, dass wir nicht bereit sind, unser Verhalten zu verändern.
Vielen Dank für diese anregenden Hinweise auf einen Schriftsteller, der mir bis anhin unbekannt war. Ich werde mir gerne eines dieser Bücher vornehmen. Der Blick von aussen auf unsere europäische kolonialistische Vergangenheit und Gegenwart ist dringend nötig. Andere Perspektiven können irritieren, weiten aber den Blick auf jeden Fall.
Es ist also gerade im alten Europa an der Zeit, Abdulrazak Gurnah zu lesen. Womöglich stellt sich heraus: Die Geschichte, von der er erzählt, ist unsere eigene.
Allerhöchste Zeit, würde ich sagen. Schon krass, dass man 75 Jahre nach dem Ende des Kolonialismus (1492–1945 und später: 1960 18 Kolonien in Afrika, 1962 Algerien, 1974 Osttimor, 1997 Hongkong, 1999 Macau) in Europa einen Nobelpreis für Abdulrazak Gurnah überhaupt noch rechtfertigen muss – und dass sich die Europäische, aber auch Schweizer Mehrheitsgesellschaft erst jetzt langsam sich bemüssigt fühlt, (post-)koloniale Geschichten zu lesen und über ihre koloniale Geschichte kritisch nachzudenken (siehe «Die Schweiz und der Kolonialismus»).
Zeit auch wieder Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference (2000) von Dipesh Chakrabarty zu lesen.
Danke, Daniel, für das Schlaglicht!
Danke für die eingängige Leseaufforderung. Ab zur Buchbestellung…
Ich schliesse mich Bettina Wolfgramm an: Ich habe das Buch ebenfalls gleich bestellt. Ganz herzlichen Dank, Daniel Graf, für Ihren inhaltlich als auch sprachlich ausserordent-lich wichtigen Beitrag.
Es ist ja sehr erfreulich, dass wenigstens das Komitee für den Literaturnobelpreis nicht von solchen Versagern geleitet wird wie dasjenige, welches seinerzeit dem Kriegstreiber Obama den total unverdienten Friedensnobelpreis verliehen hat.
Endlich bricht auch in den europäischen ehemaligen Kolonialmächten die Morgenröte an, nachdem mit christlich verbrämten frommen Sprüchen die brutalen, kolonialen Unterdrückung- und Zerstörungspraktiken jahrhundertelang als "zivilisationsbringend" und den "primitiven Eingeborenen, den wahren Glauben vermittelnde Missionierung" verschleiert und als Heldentaten hochgejubelt worden sind.
Werden wohl auch die Herrscher im Weissen Haus solche Bücher lesen und die Wahrheit endlich zur Kenntnis nehmen, und die not-wendige, längst fällige Abkehr von ihrer"modernen" Kolonialpraxis einleiten?
Lieber Herr Graf, ich bin dankbar dass sie für uns Leserinnen die Weltliteratur durchforsten und uns so eine Orientierungshilfe geben. Als ich als kleiner Junge im Vorschulalter bei einem Kohlehändler in der flämischen Provinz den Papagei und die afrikanischen Skulpturen und Fotos angestaunt habe, war mir noch nicht bewusst, welches Grauen sich hinter diesen exotischen Bildern verbarg. Auch wusste ich auch nicht, was die gespenstischen, mit Ruß bedeckten Gesichter bedeuteten, die ich sah, die Gesichter der Arbeiter der Kohlenmine, die unter unmenschlichen Bedingungen bei 40 Grad Hitze und wenig Wasser, dass sie selber mitnehmen mussten, kaum Tageslicht sahen und mit vierzig Jahren schon eine Staublunge hatten. Später sah ich, dass das auch meine Geschichte war und war enttäuscht, dass Hugo Claus nie den Literaturnobelpreis bekommen hat. Ich kann zwar Englisch lesen, aber für Lyrik fehlt mir das Sprachgefühl; so dass ich Louise Glück nur langsam lesen kann und mir sprachliche Feinheiten entgehen. Für die meisten Leser*Innen ist es sehr schwierig eine Orientierung zu finden, denn einen eigentlichen Literaturkanon gibt es ja heute schon lange nicht mehr. Ich habe in einer Luchterhand Ausgabe von Adelhaid Duvanel ein Nachwort von Peter Von Matt gefunden und gestaunt, wie unbestechlich dieser Literaturwissenschaftler gegenüber literarischen Moden war. Das Feuilleton ist das natürlich nicht immer. – Danke Ihnen! Ich muss boostern ...
Bin gleich in die Stadt und habe mir "Das verlorene Paradies" erstanden. Bin am Lesen. Was für ein Erzählen, was für eine Sprache, was für eine Welt, die sich auftut. Der Morelli wegen all dem undifferenzierten Gerede inkl. Geschriebe oder Geschiebe, das bei mir den Schalter auf Abwehr gedreht hatte, ist weggeblasen, weggeschrieben, weggelesen.
Dem Rezensenten sei Dank!
Danke für diesen Beitrag, Herr Graf! Ich habe bereits vor einigen Tagen mit dem Lesen von «Das verlorene Paradies» begonnen. Interessant fand ich auch Ihre Bemerkung zu Joseph Conrad. Sie sprechen von einem «Gegenentwurf »zu Gurnah, ohne aber ein spezielles Werk von Conrad zu erwähnen. Geht es um «Herz der Finsternis» (was ich vermute) oder ein anderes Werk von ihm? Inwiefern sehen Sie hier einen «Gegenentwurf». Conrad beschreibt ja in «Herz der Finsternis» die Situation in Belgisch-Kongo und nicht in Ostafrika. Also: Mich würde noch etwas mehr Hintergrund dieser Namenserwähnung interessieren?
Lieber Herr K., jetzt habe ich gerade kurz einen Schreck bekommen und mich gefragt, ob das «Herz der Finsternis» auf irgendwelchen dunklen Wegen aus dem Text verschwunden ist. Aber es ist noch da, das haben Sie vielleicht überlesen oder die zweite Stelle im Sinn gehabt, als ich nochmal auf Conrad zu sprechen komme, ohne den Titel zu wiederholen. Also klar: es geht um «Heart of Darkness». Zu Ihrer Frage: Ich glaube, da sind im Wesentlichen drei Punkte wichtig. Zunächst ist die Perspektive eine andere. Bei Conrad geht es im Kern um ein Gespräch unter Europäern und deren kritische Selbstbefragung. Gurnah hat sozusagen das komplementäre Personal und schildert deren Lebensrealitäten. Zweitens: Wo bei Conrad der Dschungel naturmystisch aufgeladen wird, zu einer Art magischen Handlungs- und Protestinstanz, folgen in «Paradise» die Landschaftsbeschreibungen ebenso Gurnahs realistischer Erzählweise wie die Handlungsebene der Figuren. Was Gurnah zeigt, sind Menschen, die teilweise abergläubischen oder metaphysischen Ideen anhängen, und andere, die solchen Sichtweisen vehement entgegentreten. Aber es sind immer soziale Interaktionsräume, die da beschrieben werden. Der dritte Punkt ist für Gurnah sicher der wichtigste: Conrads Buch hat eine lange und ambivalente Rezeptionsgeschichte. Es lässt sich fraglos als Kritik am europäischen Kolonialismus lesen, aber auch als Buch, das Stereotype und europäisches Überlegenheitsdenken perpetuiert. In einem lesenswerten Gespräch, das Tobias Rapp vom «Spiegel» kürzlich mit Gurnah geführt hat, kommt auch dies zur Sprache. Darin sagt Gurnah: «Conrads Buch "Herz der Finsternis" ist eine Erzählung über den europäischen Kolonialismus. Conrad lässt seinen Erzähler eine Reise unternehmen, die ihn immer tiefer in den afrikanischen Kontinent hineinführt – und je weiter er kommt, desto wilder und barbarischer wird es. Das war eine prägende europä¬ische Vorstellung von Afrika, ein Schreckbild. Die Reise des Erzählers ist auch eine Reise durch die Zeit. Sie führt zurück zu einer früheren Entwicklungsstufe der Menschheit. So stellten sich sehr viele Europäer Afrika und die Afrikaner vor. Conrads Buch hat noch andere Ebenen, es lässt sich auch als eine Kritik des Kolonialismus lesen. Aber als ich "Das verlorene Paradies" schrieb, wollte ich diese Geschichte anders aufschreiben.»
Lieber Herr Graf. Entschuldigen Sie bitte meine Unachtsamkeit! Ihre Erklärungen sind sehr erhellend! Allerdings lese ich «Herz der Finsternis» stark als Kritik am Kolonialismus. Diese aus der Biografie von Conrad selber heraus. Er sah ja die Verhältnisse in Belgisch-Kongo mit eigenen Augen und war entsetzt. Zudem lese ich die Reise eher als eine imaginierte Reise in den durch den brutalen Kolonialismus völlig zerstörten sozialen und wirtschaftlichen Kulturraum. Es waren die Europäer, die viel von dieser Art von Barbarei - wie beschrieben von Conrad - in diese Länder gebracht haben, auch wenn es dort selbstverständlich davor keine Paradiese gab. Und es waren die Europäer, die für diese Totalität des Grauens in dieser Weltregion verantwortlich zu machen sind, als eine neue, ganz furchtbare Realität. Ich glaube, das hat Conrad zeigen wollen. Aber wie Sie sagten: Da gibt es andere Überzeugungen dazu. Nochmals vielen Dank!
Spannende Ausführungen! Was ich mich die ganze Zeit bei der Lektüre Deiner Rezension fragte, Daniel, war: Hat Gurnahs «Das verlorene Paradies» («Paradise») irgendetwas mit John Miltons «Das verlorene Paradies» («Paradise Lost», 1667) zu tun? Wenn es nicht purer «Kitsch» war, wie Du schreibst, oder schlichte Einfallslosigkeit, was dann?
Ist das die NZZ wie sie leibt und lebt? Am 7.10. schreibt der Hausfeuilletonist zum Nobelpreis für Gurnah. Literaturnobelpreis: Die krachende Verabschiedung in die Bedeutungslosigkeit. Gleichentags zu finden "Nach der Flucht kommt das Schreiben..." von Thomas Brückner, dem Uebersetzer von Gurnahs Werken. Er erwähnt zuallererst die Selbstwahrnehmung von Gurnah als Flüchtling, dem es darum gehe, im Ungewissen anzukommen.
Republik AG
Sihlhallenstrasse 1
8004 Zürich
Schweiz