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Ich bin beeindruckt durch die Genauigkeit und Sorgfalt der Gedankengänge von Susan Neiman. Und auch die Kontextabhängigkeit der Vergangenheitsaufarbeitung (ein etwas schwerfälliger, aber nüchterner und treffender Ausdruck) scheint mir ein ganz wichtiger Aspekt zu sein.
Es wäre auch für uns Schweizer sehr zu empfehlen, sich auf diese Art mit unserer Vergangenheit, unserer Rolle im zweiten Weltkrieg, unserer Rolle als globaler Finanzplatz und all den schwer wiegenden Diskriminierungen verschiedenster Menschengruppen bis in die Gegenwart hinein gründlicher auseinanderzusetzen.
Ein sehr guter Beitrag zum 8. Mai! Die Auseindersetzung mit dem deutschen Faschismus war über Jahrzehnte hinweg eine Geschichte der Verdrängung. Ich habe das als in Deutschland Geborener und Aufgewachsener (Jahrgang 1949) selbst erlebt. Viele der Älteren sahen sich als Opfer, weil sie zum Beispiel aus ihrer früheren Heimat flüchten mussten oder durch den Bombenkrieg ihr Zuhause verloren. Doch sie wollten nichts davon wissen, wie es zum Krieg und zur Vertreibung gekommen war. Und Angehörige meiner Generation sprachen bald einmal davon, jetzt sei genug "Vergangenheitsbewältigung" betrieben worden und im übrigen könnten sie ja nichts für diese Vergangenheit. Sie wollten nicht begreifen, dass man sich nicht zu einem Kollektiv zählen kann, ohne auch seine dunklen, zutiefst düsteren Seiten wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Die Achtundsechziger-Bewegung in der Bundesrepublik war auch ein Versuch, dieser Geschichtsvergessenheit entgegen zu treten. Damit wurde, so möchte ich behaupten, auch der Boden gelegt für einen "Antifaschismus von unten". Selbstverständlich gab es auch vor den 68erInnen AntifaschistInnen. Doch sie waren gesellschaftlich vielfach isoliert. Mit der 68er-Bewegung kam dann ein Bewusstseinswandel. Das macht dann doch einen Unterschied zur DDR aus, wo der Antifaschismus zwar Staatsdoktrin war, aber ein solcher Bewusstseinswandel von unten nicht gefördert wurde. Trotzdem begrüsse ich es sehr, dass Susan Neiman auf eine neue Geschichtsvergessenheit hinweist, nämlich auf den in der Bundesrepublik verdrängten Antifaschismus der DDR.
Besten Dank für dieses sehr gute Gespräch!
Danke für diese geistige Nahrung zu zentralen Fragen. Klares Denken tut gut und gibt Orientierung.
Herzlichen Dank für dieses gehaltvolle, kluge Interview. Den Begriff Vergangenheitsaufarbeitung finde ich sehr treffend im Sinne der erwähnten Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte – anstrengend, aber unabdingbar.
Bewegt hat mich auch Susan Neimans Beschreibung der beiden „Ursünden Amerikas“, die es sehr auf den Punkt bringt. Eine Aufarbeitung und einen Kniefall erachte ich da als dringend notwendig.
Der Blogger Fefe (http://blog.fefe.de/?ts=a04be5a4) geht da noch etwas weiter:
“... möchte ich kurz darauf hinweisen, dass nicht wir befreit wurden. Europa wurde von uns befreit. Es ist zynisch, wenn wir jetzt so tun, als seien wir Deutschen, quasi alles unschuldige Passanten, von den fiesen Nazis befreit worden. Wir wurden nicht von den Nazis befreit. Wir waren die Nazis.”
Das irritiert mich auch an der Rede von Befreiung. Es wirkt scheinheilig zu sagen die Alliierten hätten uns Deutsche von den Deutschen befreit. Es setzt Deutschland mit Griechenland, Polen, Tschechien, oder Frankreich gleich. Der Tag ist aber trotzdem feiernswert, wenn auch mehr als eine Gnade.
Dasselbe stört mich auch am 25. April in Italien, es ist sehr bequem auf die deutsche Besetzung hinzuweisen. So weit ich das verstehe, fühlen sich italienische Linke dazu genötigt wenigstens die Befreiung vom Faschismus gegen zeitgenössische Faschisten zu verteidigen. Ich glaube die ganze Sache ist bis zu einem Grade dialektisch/didaktisch, man muss es erst als "Befreiung" erkennen können um die Grundlage einer kritischeren Auseinandersetzung zu haben.
Noch einer
https://www.spiegel.de/politik/deut…0170716160
Die Rede von der Befreiung Deutschlands irritiert mich auch, Herr O. Aber auch ein nicht zu vernachlässigender Teil der Bevölkerung der von Ihnen aufgeführten Länder wollte nicht unbedingt von den Nazis befreit werden. Von den Frontisten in der Schweiz müssen wir gar nicht erst reden. Ja, Deutschland hat die Hauptverantwortung für die Schrecken des 2. WK. Die Deportation der Juden z.B. wäre aber ohne die aktive Mithilfe eines Teils der Bevölkerung in den “unschuldigen” Länder nicht so grausam Effizient gewesen.
Wo steht Deutschland am 75. Jahrestag der Befreiung vom National¬sozialismus?
Dieser Artikel löst bei mir sehr gemischte Gefühle aus. Für mich ist Frau Susan Neiman etwas zu weit links abgebogen. Der zweite Weltkrieg lässt sich nicht vereinfacht auf den Holocaust reduzieren. Und die Fragestellung, wer den Krieg angefangen hat, sagt wenig über die Ursachen des Krieges aus. Aus meiner Sicht ist die Betrachtungsweise von Frau Neiman in vielen Punkten nachvollziehbar jedoch einseitig.
Meine Mutter ist, 1930 in Kuckernese geboren und aufgewachsen, im ländlichen Ostpreussen, in der Nähe von Königsberg, heute Kaliningrad. Wie hat meine Mutter den 8. Mai 1945 erlebt? War es die Befreiung die man sich wünschte? Meine Mutter war, wie viele Frauen in den Ostgebieten, zu dieser Zeit Vogelfrei. Das hiess konkret, Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung und die Frauen konnten sich wenig zur Wehr setzen. Vergewaltiger wurden nicht belangt. Meine Grossmutter wurde in dieser Zeit vergewaltigt. Die Cousine meiner Mutter, damals ca. 16. Jahre alt, starb an Syphilis, nach mehrfacher Vergewaltigung. Ein Gesundheitssystem existierte nicht mehr, davon wurden sie ebenfalls befreit.
Durch den zweiten Weltkrieg verloren ca. 16 Millionen Deutsche ihre Heimat. Damit meine ich die Ostgebiete wie Ostpreussen, Schlesien oder Pommern. War das für diese Menschen eine Befreiung? Wie fühlten sich all die deutschen Kriegsgefangenen in den Rheinwiesen oder in Sibirien? Fühlten sie sich befreit? Ich glaube eher sie fühlten sich missbraucht, nicht Opfer. Bitte verstehen sie mich nicht falsch. Ich will nicht den Nationalsozialismus huldigen. Aber dass diese in vielerweise missbrauchten Menschen, es sind nicht wenige, diese Zeit als Befreiung feiern sollten, finde ich schon arg. Unsere Welt besteht nicht nur aus schwarz oder weiss!
Und zu guter Letzt. Weshalb kehren «die Befreier» nach 75 Jahren militärischer Besatzung nicht wieder in ihre Heimat zurück? Diese Fragen sind genauso wichtig wie die Aufarbeitung des Holocaust.
Herr K., bitte wechseln Sie einmal die Perspektive! Dass Hitler Krieg bedeuten würde, das sagten deutsche Linke bereits vor 1933, doch sie wurden nicht gehört. Die Massen jubelten Hitler zu und glaubten, eine neue Zeit sei angebrochen. Hitler führte sie in einen Eroberungskrieg - und die meisten gingen mit. Sie hätten sich nicht träumen lassen, wie das Ende dann aussah. Doch ohne Wiederaufrüstung und ohne den Krieg hätte es die Vertreibungen, die Vergewaltigungen und Gefangennahmen nicht gegeben. Das war der Preis, den das Volk für seine Verblendung bezahlen musste.
Lieber Herr K., das familiäre Leid, das Sie beschreiben, macht betroffen und soll als ebenfalls zur Geschichte gehörig ganz sicher nicht negiert werden – das hat ja auch niemand getan. Dennoch kann ich Ihnen in Ihrer Beschreibung von Susan Neimans Position, vor allem aber in Ihren eigenen Schlussfolgerungen keineswegs zustimmen. Herr S., Herr E. u.a. haben bereits Treffendes dazu gesagt, deshalb von meiner Seite nur so viel: Wie aus dem Dialog hervorgeht, ist nicht ganz klar, was Sie mit "Besatzung" meinen. Aber was immer es ist: Unangemessen scheint mir das Wort in jedem Fall. Und "diese Fragen" als "genauso wichtig wie die Aufarbeitung des Holocaust" zu reklamieren, finde ich problematisch – aus genau den Gründen, die Frau Neiman im Interview ausführt.
Deutschland, der Wirtschaftsmotor Europas, ist aus meiner Sicht, kein vollständig souveräner Staat. Weshalb gibt es denn, nach wie vor, unzählige US amerikanische Militärstützpunkte in Deutschland? Sehen Sie, erst kürzlich wollte der Irak den grössten US Militärflughafen, ich glaube in Bagdad, schliessen. Trump intervenierte und nichts geschah. Glauben Sie ernsthaft, Angela Merkel bzw. ihre Regierung wären fähig Ramstein dicht zu machen? Wohl kaum. Und dies finde ich sehr bedenklich. Klar muss man das Sicherheitskonzept Europas überdenken, keine Frage. Genau dies sind wesentliche Fragen, welche unsere Zukunft beeinflussen. Ich wünsche mir ein souveränes-solidarisches Europa und das ist leider noch nicht der Fall.
Dies sind Themen die genauso wichtig sind wie die Aufarbeitung des Holocaust, weil sie Europas Zukunft verändern werden.
Weshalb kehren «die Befreier» nach 75 Jahren militärischer Besatzung nicht wieder in ihre Heimat zurück?
Hä, hab ich in Geschichte was verpasst? Wer besetzt hier wen noch?
Ich denke, es hat keinen Sinn, die Leiden der einen gegen die der anderen aufzurechnen. Und natürlich haben die Allierten zunächst mal Europa von den Nazis befreit.
Dass es aber auch für die deutschen Kriegsgefangenen und die ostdeutschen Flüchtlinge eine Art Befreiung war, wird klarer, wenn man sich vorstellt, Hitler hätte den Krieg noch länger führen und sein Regime noch länger an der Macht halten können.
tl;dr; weil wir (die Mehrheit der Deutschen) die internationale kollektive Sicherheit wollen und benötigen. Die Präsenz vor allem amerikanischer Truppen war und ist dauerhaft ein Thema in Deutschland. Von "vergessen" kann keine Rede sein. Die Parteien, die sich für Europa und für die NATO einsetzen, regieren die Bundesrepublik. Gewählt. Was Mord und Folter aus niedrigen Beweggründen mit der Präsenz amerikanischer, englischer oder französischer (oder russischer) Streitkräfte in Deutschland zu tun haben, entzieht sich meinem Verständnis.
Vielleicht noch ein Veranstaltungshinweis: Am 18. Mai wäre Susan Neiman zu einer Lesung ins Literaturhaus Zürich gekommen. Wegen Corona ist das nicht möglich, doch findet die Veranstaltung online statt.
Ein schönes, passendes und klares Interview! Vielen Dank, Daniel. Überhaupt hatte ich mir einen Beitrag von Susan Neiman in der Republik schon lange gewünscht. Heute ist ein guter Tag dafür! M.
Deutschland feiert seine Befreiung von den Nationalsozialisten vor 75 Jahren. Frankreich, England und 1989 die Sowjetunion zogen ihre Besatzungstruppen ab, schlossen die Kasernen. Sie vertrauten, dass ein «Neues Deutschland» entstehen kann. Gorbatschow sprach damals vom gemeinsamen Haus Europas. Was ist daraus geworden? Wäre es nicht an der Zeit, im Sinne der Befreiung einen Schritt weiter zu gehen und die verbliebenen amerikanischen Militärkasernen zu schliessen? Wäre das nicht ein Schritt, Europa in seiner Souveränität zu stärken? Mit der Absicht Europa übergeordnet zusammen zu führen ohne einen Einheitsbrei zu veranstalten. Es muss nicht zwingend die herkömmliche EU sein. In einer Zeit des Paradigmen Wechsels, auf vielen Ebenen, darf Europa neu erdacht werden. Auch das Gebilde der EU darf sich wandeln und entwickeln. Dadurch könnte sich Europa «von seinem grossen Bruder» USA einfacher ablösen und neue, eigene Wege beschreiten. Mit der Absicht keine Kriege zu führen oder zu unterstützen und die damit freiwerdenden Ressourcen in Kultur und nachhaltige Wirtschaftszweige zu investieren. Ich wünsche mir, dass die Aufarbeitung des Holocaust Energien freisetzt, um eine freudvolle, friedliche und wohlwollende Gesellschaft zu gestalten.
Zu manchem kommt man halt erst später... Ich möchte mich nachträglich bedanken für dieses Interview mir der differenztierten Fragestellung, die ebenso differenzierte Antworten ermöglicht. Frau Neimann ist eine eindrückliche Gesprächspartnerin, die über Abwägen und Sowohl-Als auch zu klaren Positionen kommt. Trotz des schweren Themas wohltuend, horizonzerweiternd, befreiend, auch die Diskussion dazu kontrovers und bereichernd. Merci.
Den "verordneten Antifaschismus" in der DDR habe ich von Freunden indirekt und in seiner Präsenz in der BRD direkt erlebt - und was sich damals schon als Phrasendrescherei, als politisches potemkinsches' Dorf anfühlte, stellte sich im Nachhinein als Kasperletheater heraus - das faschistische Gedankengut wurde konserviert, anstatt es zu verdauen und zu zersetzen. Der kritische gesellschaftliche Diskurs in der BRD hätte noch weiter gehen können, noch konsequenter sein können - aber im Vergleich zum "verordneten Antifaschismus" war die BRD dann wohl deutlich weiter. Abgesehen davon: Die DDR war eine totalitäre Diktatur. Was diese Diktatur sich auf die Fahnen schreibt, ist wenig bedeutsam, so lange sie an der Grenze Menschen ermordet, die das Land verlassen wollen.
Am 8. Mai soll Deutschland seine Befreiung vom Nationalsozialismus feiern, soweit so gut. Aber genau so wichtig ist es doch in die Gegenwart & Zukunft zu schauen. Und da Deutschland (und dadurch auch Europa) von den USA benutzt wird, um seine Geopolitik militärisch auszuführen, aus diesem Grund appellierte ich für die Schließung aller militärischer Anlagen der USA in Deutschland, wie heute im Tagi trefflich ausgeführt. Europa ist gefordert ! Und muss zwingend im friedlichen Sinne weiter entwickelt werden. Dies geht jedoch nicht, indem der alte Status quo aufrecht erhalten bleibt.
"Seit dem Kollaps der Sowjetunion sind nicht nur die US-Truppen auf ein Siebtel geschrumpft, auch ihr Hauptzweck ist ein anderer: Sie dienen nicht dazu, Deutschland zu verteidigen, sondern Amerikas Kriege in aller Welt zu führen. Die US-Basen sind vor allem operationelle und logistische Drehkreuze und Brückenköpfe – und zwar mit die grössten der Welt". (Vgl. at: https://www.tagesanzeiger.ch/raecht…5943757024)
Warum haben sich die Deutschen lange so schwergetan, diesen Tag als «Tag der Befreiung» zu feiern?
Ja weshalb wohl? Aus dem Blickwinkel der smarten Republik sollte dies doch alles wesentlich schneller gehen. Wissen Sie, meine Grossmutter Jahrgang 1900, nahm Ihre Vergewaltigungsgeschichte mit ins Grab. Ihr Trauma musste sie, soviel ich weiss, alleine verarbeiten, bzw. verdrängen. Damals sprach man nicht offen über solche Erlebnisse, die Scham war enorm. Und Therapeutinnen waren definitiv nicht so gegenwärtig wie heute. Meine Mutter, Jahrgang 1930, nicht vergewaltigt aber dennoch traumatisiert, begann mit ihrer Aufarbeitung ihrer Erlebnisse Ende der 90 Jahre. Aus Selbstschutz verdrängte sie alles «relativ erfolgreich», bis es aufbrach. Und wie Sie in Ihrem Artikel richtig schreiben, zumindest für meine Mutter, nimmt die Aufarbeitung kein Ende.
Liebe Republik, aus der Sicht der Meta-Ebene ist es offensichtlich, dass die Entfernung des Naziregimes eine Befreiung war. Aber erklären sie dies Mal heftig traumatisierten Menschen. Kennen Sie sich mit Trauma Arbeit aus? Wenn ja, wüssten Sie, dass solche Prozesse oftmals Lebensaufgaben sind. Da geht nix schnell! Und den Verlust von Heimat und Familie pauschal als selbstverursachten faschistischen Kollateralschaden anzusehen greift zu kurz, weil da auch ganz persönliche Geschichten mit hineinspielen, die nicht verallgemeinert werden können.
«Ja, die Deutschen haben gelitten, aber andere haben noch viel mehr gelitten»
Das wäre mal wieder eine Aussage für Herrn Rebosura, welcher mir sicher erklären kann, wie dies gemessen wurde. Für mich ist diese Aussage absurd und führt nirgends hin, weil Leid mit Leid verglichen wird. Hier wird aus meiner Sicht mit Schuld manipuliert, was einem Heilungsprozess nicht förderlich ist. Wenn wir die Schuldfrage z.B. im Israel / Palästina Konflikt stellen, kommen wir zu keiner Lösung. Meine Aussage verstehe ich hier in dem Sinne, welche Methodik gewählt wird, und nicht im Vergleich von mehr oder weniger Schuld.
«Was sie aber nicht sagten: Sie waren nicht nur Nazis, sie haben sich auch selbst als die grössten Opfer gefühlt».
Hier wird das ganze damalige Deutsche Reich in einen Topf geworfen. Ob dies für eine sorgfältige Aufarbeitung eine zielführende Strategie ist, bezweifle ich. Wenn ich z. B. schaue was für eine Aussenpolitik die USA in den letzten Jahrzehnten verfolgten, wird es mir übel. Aber dennoch mag ich das Land USA als ganzen sehr, weil es mehr ist als seine «koloniale Aussenpolitik».
So sehr ich das Interview schätze, finde ich es problematisch, dass sich gefühlt ein Drittel eines Artikels zum 8. Mai 1945 mit der Israelkritik des kamerunischen Intellektuellen Achille Mbembe befasst und der Frage, ob die Postcolonial Studies Israel als Kolonialmacht sehen dürfen, "ohne Kontext, ohne Geschichte". Ich finde vor allem Ihre Fragestellung, Herr Graf, problematisch. Gleichzeitig ringe ich mit mir, meine Kritik hier auszuführen, weil ein Dialog zu einem Artikel, bei dem es eigentlich um den 8. Mai 1945 geht, meiner Meinung nach der falsche Ort ist, um diese Frage zu erörtern.
Ich möchte Sie aber trotzdem dazu einladen, den Versuch eines Perspektivenwechsels vorzunehmen. Wie soll die vor Ort ansässige Bevölkerung, die nicht an der jahrhundertelangen Judenverfolgung und den Gräueln des 20. Jahrhunderts in Europa beteiligt war und für die somit "Kontext" und "Geschichte" zwei andere Parameter sind als für uns Europäerinnen und Europäer, die Gründung des Staates Israels verstehen? Ich kenne Achille Mbembes Werk nicht. Was ich aber immer wieder beobachte, ist, dass es Menschen ausserhalb Europas eher möglich zu sein scheint, diesen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Die Welt und die Geschichte vermehrt aus einem anderen Blickwinkel anzuschauen, würde uns auch gut tun - es kann zur Erweiterung unseres Horizonts beitragen.
Liebe Frau K., haben Sie vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich kann verstehen, dass Sie den Umfang dieses Abschnitts als zu lang empfinden. Die Thematisierung ist aber aus dem Gesprächsverlauf selbst heraus zu erklären. Wie Sie dem Interview entnehmen können, hat Susan Neiman das Thema aufgebracht, was auch nachvollziehbar ist, zum einen, da die Diskussion in Deutschland sehr präsent war und es immer noch ist; zum anderen, weil es auch in dieser Debatte um die Problematik des Vergleichens geht, die im Zentrum von Neimans Buch und auch unseres Interviews stand. Der Raum, den die Mbembe-Diskussion in dem Gespräch einnimmt, ist wesentlich geringer, als Sie "gefühlt" empfinden, konnte aber auch nicht einfach in ein paar Zeilen abgehandelt werden, weil die Thematik komplex ist, die Kenntnis der Debatte bei der breiten Leserschaft nicht vorausgesetzt werden konnte und so den Leser_innen überhaupt erst wenigstens die Grundzüge des Streits erläutert werden mussten (diese Erläuterung macht ja einen Gutteil des Abschnitts aus). Auch denke ich, dass es gerade bei einer so aufgeladenen Diskussion die Aufgabe von Journalist_innen ist, kritisch nachzufragen. In persönlicher Hinsicht kann ich sagen, dass ich bis zu dieser Debatte von Mbembe nur sein Hauptwerk "Kritik der schwarzen Vernunft" kannte und es als ein sehr wichtiges Buch wahrgenommen hatte, gerade im Hinblick auf den Perspektivwechsel, von dem Sie sprechen. Ich habe übrigens in einem Artikel auch daraus zitiert, weil mir für diesen Zusammenhang die universalistische Perspektive, die in dem Buch formuliert ist, wichtig schien. Umso mehr allerdings haben mich Mbembes Äusserungen zu Israel, insbesondere in dem jetzt diskutierten Vorwort, irritiert, und ich denke, dass diese Aussagen kritikwürdig sind, weil sie mindestens sehr einseitig und pauschal sind und in einer ausgesprochen vehementen Sprache daherkommen, die Ijoma Mangold treffend als "Rhetorik des moralischen Maximalismus" bezeichnet hat. Die Erweiterung unseres Horizonts – ein Anliegen, das ich mit Ihnen teile – muss uns ja nicht dazu verleiten, über solche Dinge hinwegzusehen. Aber wie gesagt, Sie weisen sicher zurecht darauf hin, dass wir diese Diskussion nicht aus einer rein eurozentrischen Perspektive führen sollten.
Dass seit Jahrhunderten auf europäischem Kontinent die Juden immer diskriminiert wurden, auch in der Schweiz, wird etwas verschämt im Geschichtsunterricht vermittelt, doch die detaillierten Beweggründe waren nur rudimentär Bestandteil der Geschichte Vermittlung.
Seit Jahrzehnten treibt mich diese Wissenslücke.
Eine Antwort auf die Frage, weshalb ausgerechnet die Juden in der Hitler Zeit so fanatisch verfolgt wurden, fehlt im Verständnis zum Kontext dieser Vergangenheitsbewältigung.
War das Clan Verhalten der jüdischen Bevölkerung Stein des Anstosses?
Oder die argumentierende Darstellung des Judentums hauptsächlicher Grund ihrer Verfolgung?
Ich suche keine „Entschuldigungen“ für diesen perversen Frevel.
Doch ohne beidseitig detaillierte „Vergangenheitsaufarbeitung“ lässt sich der tief verwurzelte Antisemitismus zum Judentum nur schwerlich ausrotten.
Der Versuch, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren ist Teil der Evolution.
Die Wahrheits-Dogmen der verschiedenen Religionen, und der Machtanspruch dessen, sind seit Urzeiten Ursache von Tod und Zerstörung.
Bildung / Glaube. Wer hier schlussendlich als offenbarende „Wahrheit“ einen Konsens des Zusammenlebens finden wird, und der möglichen Apokalypse entrinnen kann?
Im Streit wohl kaum, mit beidseitiger Einsicht könnte es gelingen.
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