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Was wir brauchen, ist eine Vision für die Zukunft in der Nachhaltigkeit, technologischer und wirtschaftlich Fortschritt und eine Gesellschaft, in denen alle Bürger ihre Chance auf ein gutes Leben haben, gemeinsam eine Rolle spielen. Die Grünen bieten diese Vision an. Es ist sehr zu hoffen, das sie in der nächsten deutschen Regierung eine wichtige Rolle spielen werden. Das wäre ein wichtiger Schritt für Europa.
Mit diesem etwas befremdet wirkenden Blick auf die Grünen in D kann ich mich nur mässig anfreunden.
Der Autor klingt ein wenig so, als hätte er mit den Grünen den Messias erwartet, und nun festgestellt, dass es sich halt um eine Partei handelt.
Ich begrüsse es klar, dass die Grünen sich nicht in ideologisch korrekter Maximal-Forderungs-Rhetorik verlieren, sondern ganz pragmatisch Teile ihrer langfristigen Agenda in Regierungsverantwortung umsetzen wollen, und deshalb folgerichtig und realistisch auf Mehrheiten und Kompromisse setzen (aus Sicht der CH-Polit-Kultur evt. einsichtiger als aus der deutschen).
Schliesslich wollen sie ja keinen Predigt-Wettbewerb gewinnen, sondern eine ökologisch ausgerichtete Politik massgeblich mitgestalten.
Dass Annalena Baerbock wie auch schon Merkel freundliche Professionalität und einen unprätentiösen Habitus zeigt, halte ich nicht nur für begrüssenswert, sondern für ein Alleinstellungsmerkmal im Zirkel der Regierungs-Chefs.
Sind diese Haltungen doch wohltuend alternativ zum aufgeplusterten Hahnenkampf-Gehabe und leeren Floskel-Getöse ihrer (männlichen) Konkurrenten.
Und wenn auch schon Angela Merkel diese uneitle, unprätentiöse und nüchterne Professionalität zeigte, gibts halt Kontinuität.
Den Deutschen ist eine Kanzlerin Baerbock nur zu wünschen, besonders im Hinblick auf die immensen Herausforderungen einer sich zunehmend beschleunigenden Klima-Krise.
Kleine Ergänzung: Alleinstellungsmerkmal, absolut; abgesehen von bzw. neben den Damen Regierungschefinnen in Taiwan und Neuseeland; und bestimmt vielen der Politikerinnen, die in den letzten Jahren in diversen afrikanischen Ländern in hohe politische Ämter gewählt worden sind. (Zu letzteren so vage, weil: zu ihnen habe ich später leider dann kaum noch was lesen können.)
Da ich mich selbst als "Grünen" sehe und mit der Bio-Fair Trade-Bewegung eng verbunden bin, möchte ich diese distanzierten Aussen-Ansicht mit einer persönlichen Innen-Ansicht ergänzen:
Die "Grünen" sind ja ursprünglich aus zwei wesentlichen "Eltern" hervorgegangen:
Den 68-ern aus der Stadt und den Biolandwirtschafts-Pionieren vom Land.
Beide "Urahnen" litten unter einer jeweils vorherrschenden Enge, unter Normen und Konventionen des "Man macht das so!", des "Da könnte ja Jeder kommen!" und des "Wo kämen wir denn da hin?!"
Man hatte zwar technologischen Fortschritt und materiellen Wohlstand, wurde aber damit trotzdem nicht richtig glücklich, da man zugleich sehr viel Leistungsdruck und Stress spürte, zu einem Rädchen im Getriebe einer gigantischen Maschinerie geformt und genormt wurde, wie ein Hamster in seinem Käfig auf einem Hamsterrad lief und sich nach Feierabend im Supermarkt mit Waren die Backen voll stopfte, die ein Hamster gar nicht braucht, mit unangenehmen Begleiterscheinungen, wie Zubetonierung, Verkehr, Lärm, Gestank, Massentourismus, Stellvertreter-Kriege in den "unabhängig" gewordenen, ehemaligen Kolonien, ruinöse Aufrüstungswettlauf, AKW's, Waldsterben, und und und.
Die Unzufriedenheit mit dem Bestehenden und seinen Sachzwängen motivierte immerhin, nach Alternativen zu suchen, sowohl in der Stadt, als auch auf dem Land!
Währenddem die Sozialdemokratie noch untrennbar verbunden war mit dem "Wirtschaftswunder" eines -etwas sozial ausgestalteten- Wiederaufbaus nach dem 2.Weltkrieg, entwickelte die Jugend eine zunehmende Sensibilisierung für den -mit diesem Wirtschaftswunder einhergehenden- 3. Weltkrieg gegen einen Grossteil der Natur, gegen die WILDNIS!
Das heisst, lange Haare bei Männern und Miniröcke bei Frauen waren durch die Jugendrevolten der 68er erfolgreich durchgedrückt worden und vermarktet.
Aber der Natur war es quasi nicht mehr gestattet, "lange Haare" zu tragen und aufreizend wild und dschungelhaft zu sein...
"Mehr Naturschutz und Natürlichkeit!" sollte die inividualistische Selbstverwirklichung des modernen Menschen auch in der Natur ermöglichen.
Mehr Vielfalt, Biodiversität, Hecken, renaturierte Flussläufe, Mischkulturen, usw.
Dadurch sollte auch wieder mehr Schönheit und Romantik Einzug halten in unsere Kulturlandschaften, die zu langweiligen, industriellen Monokultur-Wüsten geworden sind, in denen man sich nicht gerne aufhält und aus denen die eigene Seele flüchten will, in die Berge, oder in die Südsee.
Doch auch eine solche Natürlichkeit muss vermarktet werden, wenn sie im Kapitalismus bestehen will, sei das durch qualitativ hochstehende Produkte, durch besondere Geschichten, oder unterhalsames Spektakel.
Und so gelangten die revolutionären Bio-Fair Trade-PionierInnen auf verschlungenen Wegen am Ende doch wieder zurück in den Schoss der Gesellschaft und hielten auf dem Markt ihre Produkte feil, in einem "Nischen-Segment für Kenner und Liebhaber"...
Die Nische wurde grösser und grösser.
Und jetzt ist die Nische kurz davor, den Sprung zum "mainstream" zu schaffen, mit Nachhaltigkeit, Energiewende, Green New Deal, etc.
Warum nicht?
Auch die Christen haben ja mal klein (aber wortgewaltig ohoo!) angefangen!
Dann könnte ein ähnlich durchschlagender Erfolg doch auch den "modernen Indianern", bzw. den "Grün(-Roten)" gelingen!
Wenn dann aber nur nicht die Deutsche Kavallerie ausreitet...
"den 'modernen Indianern'" .... Die grüne Spitzenkandidatin für die gleichzeitig mit der Bundestagswahl stattfindende Wahl im Land Berlin Bettina Jarasch antwortete auf dem Parteitag auf die Frage, was sie als Kind werden wollte: "Indianerhäuptling".
Daraufhin brach der für das Milieu typische Shit-Storm los. Der zum einen darauf beruht, das I-Wort sei so etwas wie das N-Wort; man gebrauche es einfach nicht (was nebenher nicht stimmt: siehe Selbstbezeichnungen wie American Indian Movement oder Indian Country Today). Und zum anderen kulturelle Aneignung unterstellte. Beklemmend: Die Kandidatin entschuldigte sich für ihre Wortwahl. Im Video des Parteitages wurde das Wort akustisch ausgeblendet und mit einer Erklärung hinterlegt.
Das ist etwas, wofür die Grünen auch stehen: Sprechverbote und Neusprech, bei denen Denkverbote nah sind.
Die beim Wähler fast unbekannte Jarasch wurde in Berlin übrigens nur deshalb Spitzenkandidatin, weil die eigentlich starken Führungsfiguren Wirtschaftssenatorin Pop und Fraktionsvorsitzende Kapek sich auf eine Kompromisskandidatin geeinigt haben, mit der sowohl der linke als auch der weniger linke Flügel in der Partei leben können.
Es ist doch kein Denk oder Sprechverbot, wenn auf Alltagsrassismus hingewiesen wird.
Der Begriff Indianerhäuptling bedient ein Klischee, werden doch die wenigsten Gemeinschaften der nativen Amerikaner von so etwas regiert, oder kommandiert. Nur aus der europäischen Sicht gibt es überhaupt 'die Indianer'. In der Realität gab und gibt es viel mehr unterschiedliche Kulturen als wir von hier aus wahrnehmen.
Wir währen wohl auch nicht besonders glücklich, wenn als Synonym für europäische Regierungschefs Duce oder der Führer verwendet würde...
Ja, die gestrengen SektiererInnen mit ihrer übertriebenen Vorbildlichkeit bilden auch eine Abteilung im "Gemischtwarenladen" der Grünen.
Besonders lachhaft wirken auf mich immer die steifen Anthroposophen!
Sie sind meist ziemlich schäbig, oder seltsam unmodisch gekleidet, haben aber trotzdem ein elitäres Gehabe. Das passt irgendwie nicht zusammen, aber nur für einen "konventionell Degenerierten"... ;)
Dann gibt es aber auch lockere und humorige Lebenskünstler, solide Praktiker, kreative Spinner, und so weiter!
Diese lebendige Vielfalt stört ja nicht, denn sie ist ein Spiegel der Natur, die ja auch wunderbar vielfältig ist!
Und hier heben sich die "Grünen" ja auch wohltuend ab von den Kommunisten und Militaristen innerhalb der Linken, die als Ziel Einheit und Ideale haben.
"Richtige" Grüne sollten eigentlich gar nicht nur grün sein, sondern mit allen Farben des Regenbogens bemalt!
Psychologisch wäre der "grüne Mann" mehrheitsfähiger gewesen als Kanzler. Tendenziell sind Schritte am erfolgreichsten, die zur Hälfte an Gewohntem, Vertrautem anknüpfen und zur Hälfte neu sind. Höchstens zur Hälfte, denn das bedient bereits die Progressiven, die Konservativen haben gerne (viel) weniger als die Hälfte "Neues". Wenn schon "Grün" neu ist, dann darf es nicht auch noch "Frau" sein. Gerade weil nun lange eine Frau Kanzlerin war. Nun kommt nämlich der "Wir wollen es nicht übertreiben"-Effekt ins Spiel. Das Halbe-Halbe ist noch lange nicht lange genug geübt, so dass es immer noch als Übertreibung empfunden wird und nicht als Norm. Es wird in der breiten Gesellschaft ja auch (noch) nicht gelebt.
Dossiersicherheit und Selbstbewusstsein können das nicht aufwiegen, sie bestärken eher die Abwehr. Dieser Balanceankt ist enorm schwierig, Frauen sind sofort in der Kategorie "unsympathisch" zugeteilt, wenn es auch nur eine Spur nach "Bluff" aussieht, also ein Quentchen zu selbstbewusst. Kommt hinzu, dass Baerbock tatsächlich noch nicht wissen kann, was sie in einer Regierung wirklich erwartet, und in aller Regel unterschätzen dies ALLE vorher.
Wenn sie zu sehr auf Erfahrungen als Mutter spielt, verspielt sie Goodwill bei Progressiven, tut sie es wenig, dito bei Konservativeren. Eigentlich kann sie dieses Spiel nicht gewinnen. Das geht momentan erst in Skandinavien oder Neuseeland. Natürlich ging die Kanzlerkandidatur bei den Grünen aber nur so glatt über die Bühne, weil eben eine Frau herausgekommen ist. Habeck ist sich das bewusst. Bei aller mittlerweilen diffusen Position ist das einer der festen Kerne der Partei.
Merkel kam ins Kanzleramt, weil sie eben Frau und bürgerlich-konservativ als Partei vertrat. Auch wenns dann etwas anders herausgekommen ist;-). Auch hierzulande war die erste Bundesrätin konservativ. Die linken Frauen fanden erst keine Mehrheiten.
Immer kleine Schritte für die Mehrheit. Ist aber übers Ganze gesehen der Gesellschaft und der Stabilität zuträglich. Es gilt, möglichst alle mitzunehmen. Das ist Demokratie.
Das tönt ja sehr nach Schweizer Brille. Die Deutschen sind weniger konservativ und staatskritisch eingestellt wie viele Schweizer, von dem her ist in Deutschland Wandel eher möglich. Viele Deutsche wünschen sich einen Wandel und der ist aktuell nur unter der Führung der Grünen wirklich realistisch.
Merkel kam ins Kanzleramt, weil alle anderen CDU/CSU-Kandidaten im Spendensumpf steckten. Schon vergessen? Aber heute ist eine andere Zeit, viele Bürger haben begriffen, das eine Frau an der Spitze meistens besser ist als ein Mann. Mehr Sinn für das Gemeinwohl als für das eigene Ego.
Es kann sein, dass das Zeitfenster gerade günstig ist, vor allem mit dem neuen Schub für Genderthemen, angeschubst durch "MeToo". Obs gerade für eine Mehrheit schon reicht...? Sciher sind (zumindest derzeit) Frauen noch mehr auf Soziales (Gemeinwohl) sozialisiert - was nicht heisst, dass es ewig so bleibt. Männer und Frauen nähern sich in gleichgestellten Geselschjaften an. Kleine Unterschiede bleiben in der Population aber ev. , wird man sehen....Was auf jeden Fall vermieden werden sollte ist eine Person, die aufgrund von mangelnder Erfahrung/Kompetenz über längere Zeit im Amt überfordert ist. (zB Virginia Raggi als derzeitige Bürgermeisterin von Rom). Natürlich gab es schon viele überforderte Männer an Politikspitzen, zuletzt Trump, aber auf Frauen liegt halt aufgrund der "Seltenheit" noch ein speziell kritischer Blick, der sich auf andere Frauen auswirken kann. Schauen wir mal, wird spannend.
Weshalb wäre „der grüne Mann“ mehrheitsfähiger?!? - Ihre eigene Ausführung zu der Zurückhaltung bezüglich Neuem zeigts doch auf:
Unsere nördliche Landes-Nachbarin ist gerade durchaus weiblich „eingewöhnt“; und die schlechteste Variante haben sie damit die letzten vier Regierungszyklen wohl tatsächlich nicht erwischt.
Hierzu rate ich, ein wenig Zeit ins Land gehen zulassen, um dann auch die Merkel-Jahre aus etwas Distanz im geschichtlichen Kontext vergleichen und beurteilen zu können.
Vielen Dank für den interessanten Artikel. Beim Lesen bin ich leider an folgendem Satz hängen geblieben:
Zumal sie diesen mit einem ostentativ unprätentiösen Habitus kombiniert.
Finde es einerseits schön wenn solche anspruchsvollen Fremdwörter vorkommen, da man so seinen Wortschatz vergrössern kann. Andererseits stört es den Lesefluss stark. Vielleicht wäre es möglich in Zukunft eine "Übersetzung" für solch komplexe Sätze mitzuliefern?
«Man merkt, dass er seinen Reckwitz gelesen hat» – also der Markwardt. Doch neben der Logik gibt es noch die Historie. Merkwürdig daher die Überraschung darüber, dass nach der «Grünen Anpassung an die Realität» der Fischer-Ära und dem Austritt der «Fundis» und Ökosozialisten, die Grünen wie ihre Wähler*innen-Basis in die (neue, alte, whatever) Mitte rückten.
So wie auch die Überraschung darüber, dass nun «Realos» wie Habeck und Baerbock machtbewusste Realpolitik betreiben, die mit Anschlussfähigkeit und diplomatischem PR-Geschick breit wählbar sein wollen und entsprechenden Flügelkämpfen, Konflikten zwischen Mutter- und Jungpartei und Widerständen aus der Basis – wie in jeder anderen Partei. Und wie in der Schweiz könnte es sein, dass sich ein bürgerlich-wirtschaftsliberaler Flügel abspaltet (GLP) und die Absurdität einer Regierungspartei, die zugleich immer auch Oppositionspartei sein will, entsteht (SVP).
Für Geschichtsvergessene oder die Generation, die nur noch «GroKo» und «Mutti» kennen, mag diese «Gentrifizierung» überraschend erscheinen, dergestalt, dass ein Neologismus wie «Merkelisierung» her muss. Ansonsten *shrug*.
Aber man will nunmal den Vorwurf der Anpassung vortragen. Sowie den Vorwurf der Doppelmoral. Dabei laviert der Text zwischen eigentlicher und zitierter Rede. Doch durch das wiederholte Zitieren «polemischer Klischees» bestätigt man die «diskursive Realität». Anstatt auf die politische Realität und soziologische Tatsache zu verweisen, dass *jede** Politiker*in – sofern Werte und Ideale vertreten werden – geradezu notwendig eine Doppelmoral annehmen muss (menschlich-allzumenschlich reale und abstrakt-sakrale ideale Moral). Selbst machtbesessene Zyniker wie Trump tragen, um des notwendigen Scheins willen, noch hauchdünne Masken, auf die nur jene, welche an diese Werte und Ideale glauben wollen, ja müssen, allen Dissonanzen zum Trotz starren.
Anpassung und Doppelmoral kann also nur vorwerfen, wer als Massstab noch sowas wie den «Marsch durch die Institutionen» der «authentischen» 68er und Neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre hochhält. So wie die linke Kritik der linken Identitätspolitik vorhält, nicht mehr Klassenkampf betreiben, um mit der sozialistischen Revolution den Kapitalismus zu überwinden.
Doch. Wer. Tut. Das. Noch.
Apropos:
Diese These erscheint zwar schon deshalb seltsam, weil etwa gerade viele Migranten aus dem unteren Lohnsegment tagtäglich Rassismus erleben oder Kassiererinnen und Pflegekräfte im Alltag ganz besonders von Sexismus betroffen sind, sodass sich Identitätspolitik grundsätzlich überhaupt nicht im Widerspruch zu den «kleinen Leuten» befindet.
Anhand dieser Feststellung erkennt man, dass die rechtskonservative Kritik an der linken Identitätspolitik bloss die (seit den 50er/60er schwindende) Hegemonie der Weissen Mehrheitsgesellschaft, des bürgerlichen Patriarchats, des heteronormativen Familienmodells und den liberalen Kapitalismus verteidigen wollen. Und damit rechte Identitätspolitik betreiben, denn «die kleinen Leute» = «Angry White Men».
Die linkskonservative Kritik wiederum – also die Kritik jener, welche die Soziale Marktwirtschaft der 50er/60er mit starken klassenkämpferischen Gewerkschaften vor der neoliberalen Restauration zurück haben wollen – deklinieren wie im Marx-Engels-Lesezirkel vergangener Tage die (vulgarisierte) Lehre vom Haupt- und Nebenwiderspruch.
Doch dieses ewige Entweder-Oder und der unsägliche Reduktionismus auf Ein-Einziges ist nicht nur unglaublich unterkomplex und ahistorisch abstrakt, sondern im 21. Jahrhundert selbst theoretisch schlichtweg nicht mehr state of the art.
Gegen «teutonische» Systemlogik bedürfte es mehr «sachsonischen» Empirismus (Helferich). Statt Reckwitz Stuart Hall, der bereits in den 90er dasselbe beschrieb:
Für Hall war das Leben mit Differenz «das Problem des einundzwanzigsten Jahrhunderts» und die diskursive Artikulation von Abgrenzungen und Gemeinsamkeiten das zentrale Feld der Politik.
Mit Anfängen in den 60ern entwickelte sich in den USA der 80er- und 90er-Jahre im Diskurs der Civil Rights Movement und des Feminismus der Begriff der «Intersektionalität», welche Diskriminierung und Unterdrückung in einem mehrdimensionalen Raum auffasste, in dem im Einzelfall sich verschiedene Diskriminierungsdimensionen überschneiden können. So etwa Race, Class and Gender. Klassismus ist also immer schon eine Dimension unter vielen und der «Klassenkampf» ein Kampf von vielen.
Würde dieses reduktionistische Entweder-Oder-Denken – und vorauseilende divide et impera – überwunden, könnten mannigfaltige Allianzen gebildet werden, welche die verschiedenen Kämpfe versammeln würden. Und entsprechend wirksamer sein. Auf allen Ebenen.
An sich ist es ja unglaublich anmassend, einem so ausgewiesenen Fach-Journalisten überhaupt eine kritische Antwort anzubieten - trotzdem: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ als Motto; das ist weder ganz so eingemittet, noch ganz so vage, wie es in dem Artikel aufscheint. Es hat einen anderen Ursprung; ist aber oft so angepasst worden; und ich würde meinen, es sitzt ebenfalls perfekt.
Anyway.
Zum folgenden Abschnitt eine wieder mal in erster Linie sprachliche Anmerkung.
Genau genommen an Herrn Habeck selber, mehr als an wen anders.
Der letzte Satz Ihres, des Habeck-Zitats zeigt auf, dass Sie die Menschen, von denen Sie da schreiben, sich in keiner Weise als ihre potenziellen Leser•innen vorstellen - und, Seitenbemerkung, da bin ich mir sicher, da liegen Sie falsch. Sonst formulieren Sie einen solchen Abschnitt anders. Ohne Abwertung. Ohne ,die Verletzung, „... dass diese Menschen ... wenig zu bieten hätten.“
Ist übrigens auch falsch.
Sie würden anders formulieren, indem Sie sich in irgend jemanden aus dieser Gruppe beim Schreiben hinein versetzen.
Sie werden selber mehrere dieser Menschen kennen. Erweiterte Familie; ehemalige Schulkamerad•innen; über welche Connection auch immer.
Und dann schreiben Sie Ihren letzten Satz des hier in der Republik zitierten Auszugs anders:
[oder wie habeck ausführt:] «Diejenigen, die [auf den ersten blick] nichts Besonderes zu bieten haben, die einfach nur ein durchschnittliches Leben führen, drohen emotional zu Verlierer[•inne]n zu werden. Sie haben im Wettbewerb der Identitäten wenig zu bieten.»
Welch grauenhafter letzter Satz.
Statt: „Sie gehen im Wettbewerb der Identitäten nur allzu leicht vergessen.“
Vielleicht sogar noch: „Dabei kommt Individualität - und Wahrnehmung der Individualität, aber auch der Verbindung aller Lebewesen untereinander - einfach mit dem Fokus auf jemanden, eine Gruppe; irgendwas. - Wir müssen immer wieder üben, noch breiter zu denken; höchstens temporär auszuschliessen. In unserem eigenen Bekanntenkreis gedanklich suchen, wenn wir schreiben - und agieren und sprechen.“
Sehr schade, dass der Herr Habeck das wohl kaum lesen wird. Auch nicht die gut geerdete Kanzlerkandidatin. Der ich mal die Daumen drücke. - Und der Klimabewegung möchte ich wünschen, dass sie die für politische Veränderungen immer auch notwendige Geduld lernt; verlässlich wählen lernt. - Ohne aufzuhören, selber durchaus ungeduldig zu pushen.
Cheers und Gute Nacht.
Republik AG
Sihlhallenstrasse 1
8004 Zürich
Schweiz