Die Republik ist nur so stark wie ihre Community. Werden Sie ein Teil davon und lassen Sie uns miteinander reden. Kommen Sie jetzt an Bord!
Kantonale Angestellte hatten das Recht zwei Tage an einem Kurs zur Vorbereitung der "nachberuflichen Zukunft" teilzunehmen. Also ging ich hin. Gegen Schluss des ersten Tages trug uns die Kursleiterin von Pro Senectute auf am nächsten Tag einen Gegenstand mitzubringen, der die Aktivitäten unsererseits nach der Pensionierung symbolisiere. Der Reihe nach durften wir dann am Morgen des zweiten Tages darüber referieren, was die Gegenstände uns bedeuteten. Etliche Hundeleinen lagen auf den Tischen, auch Tomatensamen, Wanderstöcke, ein Kochlöffel und auch ein Massstab zur Berechnung von Flugzeiten im Privatflugzeug. Als ich an der Reihe zum Referieren war, sagte ich, ich hätte nichts mitgenommen, weil ich mich (frei nach Peter Bichsel) nach der Pensionierung richtig langweilen möchte. Ich wollte also gerne eine lange Weile haben, denn ich hätte genug von der beruflichen Kurzweil. Und die lange Weile gebe mir Zeit, Zeit zu haben.
Mir schien, als bemerkte ich eine Mischung von Mitleid und therapeutischem Furor auf dem Gesicht der Frau von der Pro Senectute. Mit Handzeichen forderte sie stumm meinen Sitznachbarn zur Fortsetzung der Präsentationsrunde mit dem Erklären seiner späteren Aktivitäten auf.
Der Vormittag füllte sich neben Aktivitätsrequisiten der nachberuflichen Zukunft auch mit Kaffee und Gipfel, Smalltalk. Die Frühligssonne zwängte sich durch die Leerräume zwischen Storen und Aulamauer und reflektierte sich scheu in den halbleeren gläsernen Kaffeetassen.
Vor dem Mittagessen kam die Kursleiterin mit strengem Gesicht auf mich zu und meinte, dass ich so schlecht vorbereitet sei für dann nach der Pensionierung. Ich müsse mir ein Zeitmanagement zurecht legen. "Aha", sagte ich und dachte, dieses Alterscoaching ist mir zu normiert. Passte aber zu den kantonalen Führungsdirektiven des Amtsleiters, dem ich bald entfliehen konnte ganz ohne Exceltabelle mit der Achse für sinnlose Sitzungsstunden und gecoachte Weiterbildung voller verbaler Blasen.
Grossartig!!! Ich wünsche ihnen noch viel "Lange Weile"
Vielen Dank für den wunderbaren Artikel zum Wochenende.
Ich habe vor drei Wochen auch die Einladung für ein solches Seminar erhalten und weiss jetzt umso mehr weshalb ich da nicht hingehen werde.
Ich fahre regelmässig aus familiären Gründen nach Berlin. Ich liebe es mit dem Zug tagsüber zu fahren. 8 1/2h Zugfahrt gibt mir die Legitimation nichts zu tun. Einfach aus dem Fenster schauen, die Wolken, Städte, Dörfer und Bäume fliegen vorbei, wie auch meine Gedanken. Es gibt nichts was mich mehr mit mir selbst verbindet als diese Stunden der „Langeweile“. Kaum jemand dem ich das erzähle versteht das. Da kannst du doch arbeiten, lesen oder einen Film schauen. Könnte ich, will ich aber nicht.
Ich werde also, als Vorbereitung auf meinen Ruhestand weiterhin mit dem Zug tagsüber nach Berlin fahren.
Ich wünsche Ihnen alles Gute in der baldigen Pensionierung.
Für mich ist sie aber schon jetzt eine Horror-Vorstellung. Ich werde schon nervös, wenn ich mal einen Tag nichts zu tun habe.
Lieber Herr B.,
Tausend Dank für diese köstliche Anekdote, die so perfekt illustriert, woran die Müdigkeitsgesellschaft leidet. Herzlich, DB
Ist jetzt nicht gerade hochphilosophisch was mir in den Sinn kommt, ich erzähle es trotzdem. Es stammt vom leider zurückgetretenen politischen Kabarettisten Volker Pispers und geht so: Ein Löwe reisst eine Gazelle, frisst sich satt, legt sich in den Schatten und denkt - Mann war das lecker. Der Löwe denkt nicht, wenn ich mich ranhalte schaffe ich heute noch drei, muss dann aber eine verkaufen um mir einen Kühlschrank anzuschaffen. Der Löwe ist ja nicht blöd, der hat nicht BWL studiert.
Das Original von Heinrich Böll anlässlich des 1. Mai 1963 für den NDR geschrieben. Der Tourist und der Fischer: https://jimdo-storage.global.ssl.fa…smoral.pdf
Hier wird von anderer Seite von Senkung der Arbeitsmoral gesprochen, was die Situation heute erklärt.
Erinnert mich an eine Situation die ich selbst vor über 20 Jahren auf Stromboli erlebt habe. Vor der Kirche von Stromboli war ein Wagen aufgestellt mit Fischen aber kein Verkäufer. Der lag gemütlich auf einer Bank und rief halb schlafend alle paar Minuten "Pesce“. Kam jemand um zu kaufen stand er gemütlich auf um sich danach wieder auf seine Bank zu legen. Das hat mich sehr beeindruckt.
Toller Satz: «Um Ressourcen zu sparen, müssen wir wieder lernen, zu verschwenden: unsere Zeit.»
Erinnert mich daran, immer wieder auf Unverständnis zu stossen, wenn ich von 40 Stunden Zugs-/Schiffsreise nach Norwegen erzähle statt 4 Stunden Flugreise. Gemütlich etwas im Zug lesen, ein bisschen auf dem Deck herumschlendern, entspannt ankommen.
Reaktion: «Dafür ist mir meine Zeit zu kostbar.» 🤷♂️
Manche Leute optimieren ihre Zeit dermassen, dass sie gar keine mehr davon haben.
Sehr schön! Genau so.
Momo. Die grauen Männer. Ende hat das brilliant erzählt.
Danke für das anschauliche Reisebeispiel!
Liebe(r) Anonym 3, dieser Ihr letzter Satz trifft die Sache ebenfalls sehr gut, scheint mir. Herzlich, DB
Vielen Dank für eine weitere Inspiration, Herr Binswanger. Die beeindruckende Publikationsliste des Philosophen deutet darauf hin, dass die vita activa auch bei ihm nicht zu kurz kommt. Sie kann aber auch so gelesen werden, dass die vita activa und die vita contemplativa zwei Seiten einer Differenz darstellen, deren Einheit die vita composita ist. Das legt nahe, die beiden Pole "activa" und "contemplativa" nicht als sich wechselseitig ausschliessend, sondern als ergänzend zu verstehen. Das bedeutet, dass das Kontemplative auch im Aktiven und das Aktive auch im Kontemplativen vorkommen kann.
Beim Betreuen meiner kleinen Enkelkinder ist es wohltuend erfahrbar, dass die "Care-Arbeit" enorm kontemplativ sein kann, wenn man sich ganz dem Rhythmus der Kleinen anpasst. Das Gleiche gilt für Hausarbeit oder auch eine sinnvolle Erwerbsarbeit. Wenn es gelingt, das Kontemplative ins Aktive zu integrieren, verschwindet die Zeit; alles ist "Flow", "Achtsamkeit", "Resonanz", wie es die Beiträge weiter unten nahelegen. Und konsumbezogende Ersatzbefriedigungen werden zunehmend unnötig.
Die Voraussetzung bleibt, dass die Taktung des Alltags es überhaupt erlaubt, die Zeitökonomie ausser Acht zu lassen und beim Tun im Tun aufzugehen. Dazu braucht es Rahmenbedingungen: Arbeitszeitverkürzung oder ein bedingungsloses Grundeinkommen wären konkrete Möglichkeiten. Dazu eine Schule, die ihrer Bezeichnung - das altgriechische "scholé" heisst nichts anderes als "Musse" - besser gerecht wird, als dies heute mit dieser unsäglichen Auswendiglernerei und Prüfungsorientierung der Fall ist.
Lieber Herr Hafen,
Ich kann Ihnen nur zustimmen, man kann Kontemplation und Aktivität nicht einander entgegensetzen. Es geht darum, dass die Tätigkeit die Züge der Un-Tätigkeit annimmt. Dass dies im Umgang mit Kindern geschehen kann, oder eben bei jeder geistigen Auseinandersetzung, die mit der richtigen Musse angegangen wird, leuchtet mir sehr ein. Herzlich, DB
Vita contemplativa: ein Männerthema? Was ist mit all den Tätigkeiten, die der Mensch braucht, und die nur allzu gern gegen schlechte Bezahlung ausgelagert werden? Kochen, Flicken, Vorräte bewirtschaften, Entsorgen, Aufräumen, Trösten, Zuhören, Pflegen? Was ist, wenn all diese Tätigkeiten nicht mehr als minderwertig, lebensnotwendige Übel, sondern durchaus auch als Kultur schaffende Tätigkeiten wahrgenommen werden? In diesem Punkt müssen wir umdenken, alle. Ich kann versichern, es tut gut. Die Tür vom Hamsterrad kann jedeR selber öffnen.
Liebe Frau D.,
Lernen im Leben „Verweil-Oasen“ zu schaffen ist keine Geschlechterfrage. Ich verweise auf meinen Kommentar weiter oben.
So ein schöner Artikel zum Tagesanfang… vielen Dank! Der Theologe Paul Tillich spricht von der „Unselbstveständlichkeit allen Seins“ und vom „ontologischen Schock“, der zu einer Erkenntnis führt über das, was uns unbedingt angeht und über unser Sein oder Nichtsein entscheidet. Das scheint genau der Punkt, an dem wir uns heute befinden.
Und aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass „Zeit“ eine sehr relative Kategorie ist, das haben die Alten Griechen auch schon gewusst. In der Kontemplation oder schon nur kontemplativen Lebenshaltung verlässt man den Bereich der Chronos und lernt den Kairos kennen, der sich der Zeitmessung und dem Zeitempfinden entzieht. Damit „gewinnt“ man subjektiv Zeit, statt sie zu verlieren. Es geht also einfach mal uns Anfangen, eine kleine Investition mit grossem Output. Und auch wenn das reine Glück mal ausbleibt, so führt es doch in eine grundsätzliche Akzeptanz der eigenen Grenzen und der Vergänglichkeit, zu einer gewissen Genügsamkeit und Demut.
Was aber machen wir dann mit unserem Wirtschaftssystem, das genau andersrum funktioniert, auf Gier und Konsumzwang setzt? Und (nebst Ausbeutung und Zerstörung) auch Wohlstand und Sicherheit bedeutet? Ich finde es auch spannend, dass jede Kultur und jedes religiöse und philosophische System eine solche kontemplative Praxis anbietet. Es ist genug da für alle!
Hartmut Rosa hat mit seinem Konzept der RESONANZ schon vor vielen Jahren zu demselben Themenkomplex geforscht und geschrieben. Aber ich gebe Frau D. recht: solange wir allen Care-Aufgaben nicht ihre Würde und entsprechende Berücksichtigung z.B. im BVG geben läuft die Vita Contemplativa auf eine Verschärfung der ungerechten Verteilung der Lasten hinaus. Dasselbe gilt natürlich auch für die ärmeren Länder des globalen Südens. Kontemplativ unterwegs zu sein kann man sich erst leisten wenn die basalen Bedürfnisse der Menschen und der natürlichen Mitwelt befriedigt sind.
Wenn man die Prinzipien der Achtsamkeit umsetzt, können selbst normale Tätigkeiten zu kontemplativen Betrachtungen werden. Bewusst Abwaschen, ohne mit den Gedanken bereits bei der nächsten Mahlzeit zu sein. Das Gefühl des Wassers und des Schaums auf der Haut; fühlen, wie sich die Bürste in der Hand anfühlt; hören, welche Geräusche sie auf dem Teller macht; beobachten, wie der Schmutz sich davon löst.
Die Idee, dass kontemplative Auszeiten nur möglich sind, wenn „alle anderen Aufgaben“ erledigt sind, ist schon ein Zeichen dafür, dass wir zu sehr im „Tun“ verankert sind. Muss wirklich jetzt aufgeräumt und abgewaschen werden? Kann dies nicht später erledigt werden? Es ist ein inneres Muster, dass der Haushalt perfekt sein muss. Es passiert aber gar nichts, wenn man nur alle 2 Tage abwäscht. Bei uns steht oft dreckiges Geschirr rum. Es ist eine Frage der Prioritätensetzung und Gewichtung. Und genau dies müssen wir neu lernen, wenn wir aus dem Hamsterrad aussteigen wollen. Ein Rad, das wir zu grossen Teilen im Kopf selber konstruieren. Dies gilt für Mann und Frau genau gleich. Lernen zu verweilen ist für jeden Menschen wichtig und in jeder Lebenssituation möglich.
Liebe Frau Belz, der Grossteil meines Bekanntenkreises besteht aus „Menschen des globalen Südens“. Es gibt sehr arme, ärmere und reichere unter ihnen. Eine kontemplative Lebensweise ist für diejenigen , die ich kenne, sozusagen inherent.
In meinem zweiten Beruf wird gelernt auf „Endgaining“ zu verzichten. Das heisst der Prozess hat Priorität VOR dem Resultat. Die Kunst sein Selbst ( Geist UND Körper) so zu gebrauchen, wie es dem Design entspricht, führt sowohl zur Ruhe wie auch zu Effizienz.
Sogar die gesellschaftlich weniger angesehenen Aktivitäten machen Freude und führen zumindest zur eigenen Wertschätzung.
Wo sollte der Anfang einer systemischen Änderung anders anfangen als beim Individuum?
Wie Frau D. und Frau W. schon erwähnt haben, dürfen wir ALLE umdenken und umlernen.
(Ich mag es lieber in der Kategorie MENSCH zu denken in der Hoffnung, dass Männer und Frauen gemeinsam weiterkommen).
Liebe Frau Belz,
Vielen Dank für Ihren Verweis auf Rosa, der natürlich sehr einschlägig ist bei diesem Thema. Ich hoffe, Sie haben gesehen, dass er heute in der Sternstunde Philosophie aufgetreten ist. Gemeinsam mit der von mir im Text erwähnten Teresa Bücker. Herzlich, DB
Danke, Daniel Binswanger, für diese wunderbare zeitphilosophische Ergänzung des von Werner Vontobel und mir postulierten Ausbruchs aus der Teufelskreis-Ökonomie. Es lohnt sich vielleicht, den Zusammenhang noch etwas zu vertiefen.
Moderne Ökonomie ist von ihrem historischen Erfahrungshintergrund her Zeitökonomie: Menschliche Arbeitszeit war in der vorindustriellen Agrargesellschaft die entscheidende produktive Ressource. Grundbesitz kombiniert mit dem Besitz von Sklaven oder Leibeigenen war, zynisch formuliert, die optimale Ressourcenkombination, um ihre Besitzer reich zu machen. In der Industriegesellschaft kam als Produktionsfaktor das maschinelle Kapital hinzu. Die Produktivität der Arbeitskraft konnte nun durch Einsatz von technischen Anlagen, Energie und eine tayloristische Arbeitszerlegung in hocheffiziente, aber eigenwertarme Jobs — prototypisch am Fliessband — mächtig gesteigert werden. Die benötigten Arbeitskräfte mussten allerdings zunächst in die Fabriken gelockt und mit „freiwillig“ eingegangenen Arbeitsverträgen an die Taktzeiten der Betriebe gebunden werden, soweit sie nicht selbst ein „Geschäft“ eröffnen können. Die neue „Lohnsklaverei“ für das Fussvolk erlaubte ein selbstbestimmtes Leben nur mehr ausserhalb der langen Arbeitszeiten, dennoch war das immerhin ein erster emanzipatorischer Schritt aus der früheren Leibeigenschaft. Als Angestellte partizipieren wir seither zwar an der kollektiv organisierten Produktionssteigerung, zahlen dafür aber den hohen Preis, einen erheblichen Teil unserer beschränkten Lebenszeit an „Arbeitgeber“ verkaufen zu müssen.
Mit wachsendem Güterwohlstand nimmt jedoch die Bedeutung weiteren Konsums für das gute Leben ab, während sich die Sehnsucht nach mehr Zeitwohlstand verstärkt. Die gesellschaftliche Frage stellt sich dann, ob die teilweise oder volle Emanzipation aus den Zwängen der verkauften Arbeitszeit ein Privileg derjenigen bleibt, die es sich leisten können, oder ob politisch-ökonomisch das Ziel des allmählich zunehmenden Zeitwohlstands für alle in den Blick kommt.
Die von uns postulierte neue Balance von Erwerbs- und Bedarfswirtschaft setzt zunächst auf eine partielle Lösung — sozusagen auf die Ausdehnung von Zeitinseln des Wirtschaftslebens, auf denen Selbstbestimmung und unmittelbarer Lebenssinn erlebbar werden, und zwar dank der Verkürzung der Erwerbsarbeit mit weniger Stress, als es möglich ist, solange dafür nur knappe Randstunden übrig bleiben.
Treiben wir die kleine Zeitphilosophie noch etwas weiter. Irgendwann in der Zukunft wird die Zeit dann reif sein für eine Synthese. Das wird dann der Fall sein, wenn eigenwertarme, repetitive Arbeiten so weit automatisiert und roboterisiert sind, dass für die Menschen vornehmlich Aufgaben verbleiben, für deren Erfüllung ihre spezifisch humanen Qualitäten unverzichtbar sind. Dann wird Keynes‘ Vision einer massiv verkürzten Normalarbeitszeit doch noch realistisch, sofern die Politik die epochale Chance nutzt. Mehr noch: Auch die Erwerbsarbeit wird dann einem immer grösseren Teil der Beschäftigten eine Tätigkeit bieten, die in sich als sinnvoll erfahren wird. Wer dieses Privileg heute schon geniesst, weiss um den Zusammenhang mit dem Zeitempfinden: Solche Tätigkeit ist das Gegenteil von langweilig — sie bringt uns in einen flow der erfüllten Zeitvergessenheit, in der die Stunden nur so verfliegen, ohne dass wir uns gestresst fühlen.
Eine so verstandene Kulturgesellschaft der befreiten Zeit bietet perspektivisch wunderbare Aussichten. Den wohlstandsphilosophisch pubertären Zustand, in dem wir einseitig nach immer mehr Güterwohlstand streben, werden wir vermutlich im (individuell bisweilen heute schon empfundenen) Durchgang durch die buchstäbliche Ent-Täuschung des schalen Überkonsums hinter uns lassen — als erwachsene Kinder des Wohlstands. Ein zeitloser Traum… (Entschuldigung dafür, dass die Lektüre dieses Kommentars etwas viel von Ihrer vermutlich knappen Zeit absorbiert!)
Musik ist ja nichts Anderses als kunstvolles Verfliessen der Zeit. Deshalb ist sie trotz aller Bemühungen für kommerzielle Zwecke ungeeignet: sie lässt sich nicht rationalisieren. Das allgegenwärtige protestantische Arbeitsethos macht allerdings auch hier nicht halt: ich beobeachte manchmal amüsiert, wie selbst brilliante und verdienstvolle Musiker an der Aufgabe scheitern, eine Pause oder eine lange Note genügend auszuhalten. Mit ein, zwei Sekunden Geduld liesse sich diese Fehlleistung beheben.
Ich glaube, dass sich der Sinn von Musik und von Kunst überhaupt in den Zeiten der Klimakatastrophe fundamental verändern wird. Es geht nicht mehr darum, etwas zu erschaffen, es geht darum Zeit sinnvoll zu verbringen. Solange man keine Sinfonieorchester rund um den Erdball fliegen lässt, ist Musikmachen ja mehr oder weniger klimaneutral.
Lieber Tomas, herzlichen Dank für Deine amüsante Beobachtung zum Protestantismus im Musik-Betrieb. Und Du thematisierst natürlich eine ganz entscheidenden Punkt: Dass die Kunst die Tätigkeit par excellence ist, die gelten kann als Ritual der Un-Tätigkeit. Herzlich, DB
Oh ja! Neben Loriots Sitzen, Kabat-Zinns Achtsamkeit, Rosas Resonnanz, Tillichs Kairos könnte man auch Jesus als Hauptfigur der synoptischen Evangelien als Leitidee nehmen – besonders auch in der Situation bei Maria und Marta in Lukas 10, oder den Schöpfer in Genesis 1 – die Schöpfung ist erst mit Ausruhen, Betrachten und Freude an allem in Vollendung. Oder die barfuss laufenden Hobbits.
Im Betrachten wird das „du musst“ im Kopf abgelöst vom „ich kann“ und vom „ich will“ tief aus dem Bauch. Der Krisenmodus, in dem der Kopf alles an sich reisst und ohne Rücksicht auf Verluste General spielt, wird in einen ganzheitlichen Ruhezustand als Normalzustand zurückgeführt, aus dem ganz viel Neues organisch und nachhaltig wachsen kann.
Zur kontemplativen Ruhe kann man niemanden zwingen. Aber Ruhezeiten für alle dürften wir gerne herzhaft durch Ansteckung fördern.
Wahrhaftig ein wunderbarer und extrem wichtiger Beitrag. Diese Welt ist massiv zweck- und nutzorientiert, man kann gar nicht mehr untätig sein, ohne sich schlecht zu fühlen, ohne sich nutzlos zu fühlen. Untätigkeit hat eine negative Konnotation. Es wäre ein wichtiger Fortschritt, würden wir aufhören, den wirtschaftlichen Zweck (Stichwort Wachstum) als einzig plausiblen Zweck zu anerkennen.
Sehr guter und wichtiger Beitrag, der viel Zukunftsträchtiges beinhaltet. Eines ist mir schon lange klar: So wie wir leben, steuern wir auf den Abgrund zu. Dass die Zeit ein sehr wichtiger Faktor ist, um erstmal zur Besinnung zu kommen und in einem zweiten Schritt Lebensinhalte und Wertvorstellungen zu verändern, ist absolut nachvollziehbar. Ein gehetztes, unstetes Leben verhindert Denken in grösseren Räumen und Empathie für Wesen aller Art. Zudem ist ein zeitgenötigtes Leben darauf angewiesen, zu kompensieren, zu sublimieren, natürlich mittels Konsum in jeglicher Form. Konsum ist immer eine Ersatzbefriedigung. Zeit haben, wäre ein Grundbedürfnis, das einhergeht mit mehr Eigenständigkeit, mehr Selbstbestimmung, aber auch mit mehr Verantwortung gegenüber dem Kollektiv mitsamt Ressourcen und Artenvielfalt. Wer sich in einem nicht zeitunterworfenen Leben wiederfindet, hat Chancen sich selbst auszuhalten und nicht minder wichtig: die Welt auszuhalten und sich für sie stark zu machen, indem er deren Schöpfung achtet und als gleichberechtigte Wesen akzeptiert. Unsere heutige Wirtschafts- und Werteordnung ist letal - nicht zuletzt auch für Homo sapiens. Darum wäre es in unserem ureigenen Interesse auf ein konsum- und ablenkungsgeschwängertes Leben zu verzichten und uns daran zu machen, dem Leben in mannigfaltigster Form auf zu Spur zu kommen.
Danke für die Thematik des heutigen Beitrags. Meiner Erfahrung nach ist das Verweilen in der Zeit genau das Gegenteil von Verschwenden. Falls das Verweilen mit einer Art schwebender Aufmerksamkeit gepaart geht.
Auch Aktivität kann komplentativ sein. Ich wurde durch ein Jahr Bettlägerigkeit zu dieser Art zu leben gezwungen. Es war ein "Blessing in Disguise".
Auch wenn schon fast als Modewort verpönt, beinhaltet die Achtsamkeit eine Lebenseinstellung, welche das Verweilen wie auch das achtsame „Tun“ beinhaltet. Nach meinem Burnout hat mir insbesondere die Beschäftigung mit der Achtsamkeit und die Lektüre der Bücher von Jon Kabat-Zinn geholfen, Ruhe in mein Leben zu bringen. Es ist kein Wundermittel für eine schnelle Genesung, es ist ein ständiges Üben und eine Lebensaufgabe, aber je mehr man übt, desto mehr erfährt man die positive Wirkung auf das eigene Leben und alte Muster werden zumindest teilweise neu überschrieben.
Mir ging es genau so! Erst musste ich in ein burnout schlittern, bevor ich dann das Konzept der Achtsamkeit nach Jon Kabat Zinn, das ich vorher schon kurz kennengelernt hatte, endlich umzusetzen begann. Mein Leben hat sich seit da nadisna verändert, zum Positiven: hin zu mehr Beschaulichkeit, weniger „müssen“, Materialismus usw; ganz nebenbei verkleinert sich so der ökologische Fussabdruck stetig.
Danke für diesen wunderbaren Text zum Samstag! Die Republik präsentiert da sehr alte Weisheit im Gewand moderner Übersetzung.
Habe mich selten so wiedergefunden in Texten hier, wie in diesem (und gestern dem Portrait über Kae Tempest).
Seit einem Zusammenbruch vor vielen Jahren ist das Einüben einer kontemplativen Lebenshaltung und das immer stetigere leben in dieser Haltung mein Weg für umfassend gelingendes Leben. Das beinhaltet, im Jetzt wirklich präsent zu sein und das wiederum bleibt nicht folgenlos. Ich kann es leider nur so plump ausdrücken. (Es lässt sich einfacher/leichter leben als es sich erklären lässt.)
Edit: Wortdoppelung entfernt.
Liebe Frau B., vielen Dank für dieses schöne Kompliment - und Ihr persönliches Zeugnis. Herzlich, DB
Danke für diesen wesentlichen Beitrag, der für mich auch anknüpft an die Schriften von Hannah Arendt - in ihrem Buch „Vita Activa“ beschreibt sie bereits wie uns die Verherrlichung von Arbeit versklavt und entfremdet von uns und unserer natürlichem Umgebung. Auch philosophische Schulen wie die buddhistische, Zen, Achtsamkeit, etc. stellen längst für viele von uns einen Wertekanon und Anregung für eine praktische Lebensgestaltung Richtung Kontemplation zur Verfügung. - Nur würde ich dem ein Leben aus der Fülle und Dankbarkeit sagen- und nicht ein Leben der „Verschwendung“, das für mich negativ besetzt ist und zum kapitalistischen Vokabular gehört.
Liebe Frau P.,
Vielen Dank für diesen interessanten Brückenschlag zu Arendt. Interessant ist ja, dass Han in seinem Buch eine sehr ausführliche Anti-Arendt-Polemik hat. Was er teilt mit Arendt ist, dass er die Selbstverwirklichung des Menschen in einem Bereich jenseits der wirtschaftlichen Tätigkeiten ansiedelt. Allerdings wirft er Arendt vor, dass sie die Bestimmtheit der Politik durch eben diesen Zwang zur wirtschaftlichen Tätigkeit unterschätze. Und er sieht die wahre Selbstverwirklichung der menschlichen Existenz eben nicht im politischen Handeln (wie Arendt) sondern in der Kontemplation. Allerdings erstaunt mich nicht, dass sie sofort die Verbindung hergestellt haben zwischen Han und Arendt, in einem affirmativen Sinn. Denn Arendt selbst sagt ja, dass die Vita Aktiva sich wohl am besten in der theoretischen Tätigkeit realisieren lasse. Das gesteht auch Han ihr zu. Herzlich, DB
Der Text spricht mir aus dem Herzen! Jetzt weiss ich, was ich als nächstes lesen werde.
Und der Text knüpft an die Lektüre von Jenny Odells "Nichts tun" an. Die Künstlerin und Schriftstellerin befasst sich in diesem Buch vor allem mit der Aufmerksamkeitsökonomie in den sozialen Medien und fordert uns auf, unser Leben zurückzugewinnen.
Zitat Klappentext: "Nur über bewusste Formen des Nichtstuns finden wir heute noch zu uns selbst: etwa wenn wir uns phasenweise wieder in unsere natürliche Umgebung zurückzuziehen lernen, die Kunst der Naturbeobachtung kultivieren und authentische Begegnungen mit anderen zulassen. Odell versteht ihre Anleitung zum Nichtstun gleichsam als Akt des politischen Widerstands, um der notorischen Selbst- und Naturzerstörung im Kapitalismus etwas entgegenzusetzen und die Forderung nach demokratischer Partizipation und Solidarität mit Leben zu erfüllen."
Liebe Frau Saam,
Herzlichen Dank für diesen interessanten weiterführenden Verweis! Herzlich, DB
Danke für diesen inspirierenden Essay.
Letztlich haben wir es mit Entfremdung im Zuge einer exzessiven Praxis der Ausbeutung zu tun: Ausbeutung der Natur einerseits, Ausbeutung der menschlichen Existenz an sich, im Sinne einer alle Lebensbereiche durchdringenden Aktivität und Produktivität. Sie ist das Resultat von Abspaltung und Dichotomisierung – wie sie eben auch in den vermeintlich gegensätzlichen Begriffen vita activa und vita contemplativa zum Ausdruck kommt. Tatsache aber ist ja, dass der Mensch selbst diese Natur ist, die er fortwährend auszubeuten und zu beherrschen versucht, und dass Aktivität und Kontemplation Ausdrucksformen sind, die sich wechselseitig bedingen.
Die Idee entspricht dem biblischen Prinzip des Halljahres: in einer gewissen Regelmässigkeit wird die Natur ruhen gelassen, Schulden werden erlassen, Land wird der Allgemeinheit zurückgegeben und Sklaven werden freigelassen. Die Praxis ist über 2500 Jahre alt - und vergessen gegangen. Dem Planeten und der Menschheit täte sie heute wieder Not.
Lieber Herr F., vielen Dank für diesen interessanten Anschlussgedanken. Dass das Ruhenlassen der Natur damals einhergegangen sein soll mit einer Annullierung aller Schuld, ist in der Tat ein sehr faszinierender Gedanke. Herzlich, DB
Der Begriff der Untätigkeit im Daodejing :
Beim Tun im Nicht-Tun verweilen
Und nichts bleibt ungetan
Das Jahrtausende alte Tao ist an Einsicht und Weisheit unendlich reich und unübertroffen, doch wer macht sich diese schon zu eigen?
Liebe Frau W.,
Eine sehr interessante Assoziation. Auch Byung-Chul Han beruft sich ja auf chinesische Mystik. Herzlich, DB
Toller Artikel, vielen Dank. Mir fällt es nicht leicht, das Nichtstun, das einfache Spazierengehen oder auf dem Sofa liegen zu geniessen und es nicht abzuwerten.
Was ich aber fast jede Woche brauche, ist ein Tag, an dem das ‚grümscheln‘ Platz hat: In den Tag hinein leben, ohne Termine, ohne Vorgaben, und spontan dies oder das tun. Ohne diesen Tag könnte ich die Arbeitstage nicht durchstehen…
Danke für die geteilten Gedanken und den Hinweis auf Han. Das für mich einzig Irritierende an solchen Auseinandersetzungen ist der Begriff “Natur” und unser allzu einseitiger Blick auf die “Natur”. Natur kann auch als erschreckend indifferent und äusserst brutal betrachtet werden. Die romantische Perspektive entstammt vielleicht dem Erfolg, den wir erarbeitet haben, um uns aus der Natur lösen zu wollen. Eine Form der Dekadenz, sozusagen.
Liebe Frau K., vielen Dank für das schöne Kompliment. Herzlich, DB
Wie immer ein toller Beitrag und eine Perspektive, die eigentlich auf der Hand liegt. Für Menschen wie mich, die ein reifes Alter (66) erreicht haben, sich Schritt für Schritt aus dem ökonomischen Arbeitsprozess zurückziehen und das Lustvolle auswählen können, ist das relativ leicht. Man nimmt sich mehr und mehr Zeit, um zu reflektieren und kommt automatisch zum Schluss, dass Schlendern und Betrachten die wahre Lebensqualität darstellen. Aber wie können wir diese Erfahrung der nachfolgenden Generation überhaupt näherbringen, die ihre innere Ruhe im Hamsterrad von Mittelbeschaffung, Arbeitsteilung, Karriere, Kita, Schule, Freizeitgestaltung, Urlaubsstress, Konsum, Selbstverwirklichung, Vorsorge und Social Media-Wahn verbrennt?
Ein sehr weiser Text.
Verschwenden statt Verschwinden.
Unser Industriealter hat die Leute genau so wie die Natur ausgebeutet. Also Zeit "verschwenden" und Rohstoffe sparen ist kein Paradox, sondern beides ein Antidot zum kaputten Wertesystem der grenzlosen Ressourcenausbeutung - ob Menschen oder Natur.
Liebe(r) Anonym 4, Ich glaube nicht, dass Sie einen Dissens haben mit Byung-Chul Han. Er will nicht sagen, dass wirtschaftliche Verhältnisse nicht wichtig seien, dass wir alle unsere spirituellen Werte entdecken sollen und dann auch in Armut glücklich sein werden. Er will sagen: Das war dem Streben nach materiellem Wohlstand seinen Sinn gibt, ist nicht der materielle Wohlstand, sondern die Chance, sich nicht mehr um ihn kümmern zu müssen. Und dass die Verteilung dieses Wohlstandes immer von Machtverhältnissen und Machtstrategien abhängt, ist Han nur allzu sehr bewusst.
Auch sein Naturbegriff fordert nicht das Zurück-zur-Natur, das bedeuten würde, dass wir alle wieder in Hütten leben. Was er fordert, ist dass wir die menschliche Zivilisation nicht als Gegensatz zur Natur wahrnehmen, sondern uns als Teil eines grossen Zusammenhangs verstehen, der nicht nur uns bestimmt, sondern auf den auch wir unseren Einfluss haben. So dass wir gar nicht anders können, als auf Tuchfühlung zu sein. Herzlich, DB
In der Sternstunde Pilosophie SRF1 von heute, diskutierten Barbara Bleisch, Theres Bücker und Hartmut Rosa sehr kompetent zum Thema „Zeit, unsere kostbarste Ressource“. Sehr empfehlenswert.
Lieber Herr K., herzlichen Dank für den Hinweis. Herzlich, DB
Habe im letzten Jahr ebenfalls die Essays von Han verschlungen. Für mich ist Han der Gegenwartsphilosoph, schön dass er hier von der Republik/Binswanger genannt wird. In diesem Zusammenhang kann ich den Film zur Müdigkeitsgesellschafft sehr empfehlen: https://vimeo.com/ondemand/muedigkeitsgesellschaft
Lieber Herr Vonrotz,
Vielen Dank für diesen interessanten Filmhinweis. Herzlich, DB
Ist „bios theorethikus“, dem theoretischen Philosophieren über die Welt, mit Müssiggang gleich zu setzen? Ich habe viel über die Welt philosophiert (z.B.
https://www.ibee-studer.net/ökonomi…conomicus/) und komme auch zur Einsicht, dass uns mehr Freizeit wohl glücklicher macht als mehr Konsum.
Es gibt zu viele Jobs, die unsinnig auf mehr Konsum hin wirken… Aber sollen wir, die am Aufbau erneuerbarer Energien arbeiten, jetzt zurück lehnen? Weil die Praxis ruft, komme ich kaum mehr zum theoretisieren…
Lieber Herr Binswanger, Ganz toller Artikel. Er spricht mir direkt aus dem Herzen. Vielleicht kennen Sie dieses wunderbare Zitat von Elias Canetti, das, finde ich, sehr gut unser heutiges Zeitverständnis auf den Punkt bringt: “Es wurde alles rascher, damit mehr Zeit ist. Es ist immer weniger Zeit.“
Danke für diesen hervorragenden Beitrag und die sympathische Lesung!
Lieber Daniel Binswanger, vielen Dank für diesen Artikel. Er spricht mir aus der Seele. Wenn ich einfach nur in den Tag hineinstarren will, nachdem ich etwas getan habe, die Sonnenstrahlen geniessen, die durchs Bürofenster scheinen, merke ich, wie die Zeitherren von Momo, die Excel meiner Arbeitszeiterfassung, die eigene To Do Liste und die Ängste nicht genug, gespart, getan, vorgesorgt zu haben, mich zur Produktivtät 'zwingen'.
Und wenn ich sage: Ja ich möchte reduzieren und nein, ich will einfach mehr Zeit für mich und gemütlich kochen können, nein, es ist nichts schlimmes, bekomme ich dennoch nach den Nachfragen das Gefühl nicht los, dass das Gegenüber mich oft 'komisch' findet. Vielleicht liegt es am Generationenunterschied.
P.S. Ich bin mir bewusst, ich habe den Luxus, reduzieren zu können. Aber gerade deshalb sollte mans doch oder?
P.P.S. Anonym, weil unausgegorene Gehirnfetzen.
Vielen Dank für den Hinweis auf das Buch von Bruno Latour, "Wo bin ich?
Lektionen aus dem Lockdown" ("Où suis-je? Leçons du confinement à l'usage des terrestres"), das nicht nur philosophisch zum Nachdenken anregt sondern auch wunderschön geschrieben ist. "Il faut imaginer Gregor Samsa heureux ..."
Republik AG
Sihlhallenstrasse 1
8004 Zürich
Schweiz