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Bei der sogenannten "Vergangenheitsbewältigung" nehme ich eine riesiG. K.uft zwischen öffentlicher und privater Sphäre wahr. Natürlich wurde auch auf staatlicher Ebene Vieles nicht oder erst sehr spät aufgearbeitet. Aber im privaten Bereich, in den Familien, tun sich die wirklichen Abgründe auf. Eine meiner Grossmütter stammte aus Süddeutschland. Meine Familie verkehrte deshalb mit einer grossen Anzahl von Cousins bzw. Ehemännern von Cousinen, die am Krieg als Mitglieder der Wehrmacht oder gar der Waffen-SS teilgenommen hatten. Alle auch an der Ostfront. Keiner hatte angeblich auch nur die kleinste Beobachtung von Grausamkeiten gegenüber Juden, gegenüber der übrigen Zivilbevölkerung oder Kriegsgefangenen gemacht. Was nicht stimmen kann. Es ist wohl eher wahrscheinlich, dass der Eine oder der Andere daran beteiligt war. Aber alle haben eisern geschwiegen. Und keine/r aus ihren Familien hat sie je zur Rede gestellt. Das grosse Schweigen.

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Ihre Beobachtung zum Unterschied der öffentlichen und privaten Vergangenheitsbewältigung unterschreibe ich sofort. Wobei es im privaten Bereich den Unterschied zwischen Familien gab/gibt, die unter den Nazis gelitten hatten, und jenen, die Mitläufer oder Täter waren. Erstere sprachen im familiären Umkreis durchaus darüber, welches Unrecht geschehen war - und sie wussten oder vermuteten durchaus, was z.B. mit den Juden oder politisch Unbotmässigen geschah. Sie benannten auch, wer aktiv an der Verfolgung und Denunzation beteiligt war.
Mitläufer oder gar Täter wollten damit nicht konfrontiert werden und sprachen deshalb auch nicht darüber. Täter nicht, weil sie Strafe fürchteten. MitläuferInnen nicht, weil sie soziale Folgen fürchteten. Aber einige wohl auch, weil sie sich schämten. Viele mussten damit klar kommen, dass sie jahrelang an etwas geglaubt hatten, was sich als Unrecht entpuppte. Hätten sie sich dazu bekannt, wären sie von ihren Kindern und Enkeln mit Fragen wie "Warum hast du das getan?" bzw. "Warum hast du nichts getan?", konfrontiert worden (was ja tatsächlich in der 68er-Bewgeung in Deutschland eine grosse Rolle spielte). Und wer will schon bekennen, dass er bei der Deportation jüdischer MitbürgerInnen am Lastwagen stand und zuschaute, wie die Frauen und Männer auf die Ladefläche geworfen wurden? Oder nachher bei der Versteigerung des Hausrats der Deportierten, den schönen Bücherschrank ergatterte, auf dessen Besitz er so stolz war? Leute, die gar nicht wussten, was damals geschah, kann es nur weniger gegeben haben. Schliesslich wurden ZwangsarbeiterInnen oft genug in Gruppen durch die Orte geführt, um von der Unterkunft zu den Fabriken zu gelangen. Dort wiederum arbeiteten sie neben Einheimischen. Juden und Jüdinnen wurden oft bei hellem Tageslicht abtransportiert, Geschäfte "arisiert", Juden durften nicht mehr einkaufen (das wussten alle und auch die Geschäftsleutem bei denen sie Kunden gewesen waren), jüdische Kinder nicht mehr zur Schule gehen. )Von Armeeangehörigen und Verbrechen and er Front ganz zu schweigen). Man kann deshalb sagen, dass wohl nicht allen bekannt war, wie Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, politische Gegner umgebracht wurden - aber dass es kaum Leute gegeben haben kann, die gar nichts wussten.

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Erinnern ist wichtig. Wie oft werden UK und Frankreich gefragt zu den KZs und Massenmorden in den Kolonien, die USA zu dem Genozid an den Völkern Nordamerikas? Ich bewundere Deutschland für seine Ausdauer im Erinnern. Aber so alleine auf weiter Flur ist es schwierig aufrecht zu erhalten, ohne ein immer grösseres Gefühl der Ungerechtigkeit bei vielen Deutschen zu erwecken. Warum müssen sich nur die Deutschen an ihre Genozide erinnern? Man kann jetzt auf mich eindreschen, weil in der Tat auch braune AFDler ähnliche Argumente verwenden. Aber statt eindreschen sollten sich Linke lieber brauchbare Argumente überlegen, oder noch besser, die anderen Europäischen Verbrecher-Nachfahren ebenfalls zu vermehrtem Erinnern aufrufen, französische Kranzniederlegungen in Tunesien, Britische in Südafrika und Indien fordern, US Entschuldigungen gegenüber ersten Nationen, Vietnamesen, Irakern und Afghanen verlangen. Das soll nicht die Erinnerungskultur in Deutschland ersetzen, sondern ergänzen. Europa ist schuldig, nicht nur Deutschland.

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Aber so alleine auf weiter Flur ist es [das Erinnern] schwierig aufrecht zu erhalten, ohne ein immer grösseres Gefühl der Ungerechtigkeit bei vielen Deutschen zu erwecken. Warum müssen sich nur die Deutschen an ihre Genozide erinnern?

Ich gehe mit Ihnen einig, dass alle Staaten und Gesellschaften sich ihrer historische Ungerechtigkeiten erinnern müssen: zur Wiedergutmachung an Opfern und ihren Nachfahren, zur Verhinderung künftiger Ungerechtigkeiten, aber auch zur Anamnese gegenwärtiger Symptome, die Folgen sind der (z. T. verordneten) Amnesie.

Doch ihre Prämisse und Frage sind schon falsch gestellt. So ist Deutschland längst nicht "allein auf weiter Flur" und niemand fordert "nur" von den Deutschen sich zu erinnern. Es ist diese Fehlwahrnehmung - oder dieser confirmation bias - der das "Gefühl der Ungerechtigkeit" stützt.

Zumal es bei solchen Dingen nie um den Vergleich - der immer der Anfang ist von Unzufriedenheit, wie Kierkegaard sagt - gehen sollte. Denn sollte man sich erst, wenn alle etwas tun, verpflichtet fühlen es auch zu tun? Nein. Es ist eine Pflicht, die aus der eigenen Verantwortung kommt. Nur wer sich dieser je eigenen Verantwortung entziehen will, zeigt auf die Anderen. Was als politische Propagandatechnik auch unter dem Begriff Whataboutism bekannt ist.

Und warum sollten nur "Linke" andere zum Erinnern aufrufen? Warum nicht alle? Umgekehrt: Warum machen es nicht alle? Gibt es gute Gründe dazu?

Denn ja, Erinnern ist "eine Aufgabe für ganz Europa". Und mit Blick etwa auf Asien (China, Japan, Türkei usw.) auch für alle Imperial-, Kolonial- und Kriegsmächte.

Kritik gab es schon immer (Stichwort "Anti-Kolonialismus"). Mal mehr, mal weniger hörbar. Manche wurde gar institutionalisiert: als Schulstoff, als Studienrichtung wie die Post-colonial Studies oder Institute wie das International Center for Transitional Justice.

Von mir aus kann es in Relation zum Ausmass der Amnesie nie genug Erinnerung geben. Denn nur durch das Niemals vergessen! kann es ein Nie wieder! geben.

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... und, lieber Herr B.: Bevor wir Listen kompilieren, wer sich alles noch erinnern sollte, das eigene Erinnern nicht vergessen. Kinder der Landstrasse. Verdingkinder. Nachrichtenlose Konti. Das Boot ist voll. etc.

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Danke, Herr Rebosura. Sie haben das Problem eindrücklich auf den Punkt gebracht. Jede Gesellschaft sollte sich mit ihrer ungeschönten Vergangenheit auseinandersetzen. Das ist eine Daueraufgabe, die nie abgeschlossen ist. Genau so, wie wir uns als Individuen nicht gerne mit unserem Schatten beschäftigen, sondern viel eher das Böse im anderen sehen, so schwer tun sich Gesellschaften mit den dunklen bis sehr dunklen Flecken in ihrer Geschichte und projizieren ihre Schatten auf andere Nationen, Parteien, Menschengruppen oder was auch immer, Hauptsache ausserhalb.

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Wir sind uns hier gar nicht so uneins. Auf jeden Fall sollten auch Rechte und Bürgerliche zum Erinnern an die kolonialen Verbrechen aufrufen. Nur glaube ich nicht dass in diesem Forum viele Bürgerliche und Rechte zu finden sein werden.
Sie sprechen den Antikolonialismus an. Genau da finde ich, dass er so gut wie tot ist. Noch während wir aufarbeiten wie christliche Missionarsarbeit lokale Religionen und Kulturen zerstört hat, gehen wir in fremde Weltregionen um ihnen unser politisches System, unsere Werte und die jüngsten Ideen unserer Wirtschaftsforschung aufzuzwingen. Wir nutzen dabei eine komplexe Vielfalt von IWF, über Handelssanktionen, bis hin zu NGOs und einer krassen Dominanz der Medien durch 1. Welt Besitzer. Wie damals die Christen glauben auch wir wieder, wir täten es um deren “armen Seelen zu erlösen“.
Wenn ich die Rufe sehe, die sich Revolution wünschen in Nordafrika, in Iran, in allen Ländern die nicht westlich-demokratisch sind, dann dünkt mich, vielen Europäern sind ihre Moralvorstellungen wichtiger als das Leben der Menschen, deren Existenz durch einen Bürgerkrieg zerstört werden könnte.

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Danke für diesen Artikel. Wieder ein paar Puzzleteile, die sich zu meinem Bild der Vergangenheit hinzufügen lassen.
Eine Frage treibt mich aber seit Jahren um, die ich bisher nirgends beantwortet gefunden habe:
Warum haben es die Allierten zugelassen, dass die ganzen Altnazis nach dem Krieg in der Bundesrepublik und auch in Österreich in Führungspositionen kommen durften? Wer hat das entschieden? Gibt es dazu Material?

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Warum haben die Alliierten nicht verhindert, dass Alt-Nazis nach Kriegsende in Führungspositionen kommen durften? Ich versuch hier mal ein paar Gründe zu nennen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Zuerst einmal haben die Alliierten selbst auch gerne den einen der anderen Alt-Nazi in eigene Dienste übernommen. Die USA haben mit solchen ihre Raumfahrt aufgebaut - 120 deutsche "Raketenwissenschaftler" übernahmen die USA nach Kriegsende möglichst schnell. Googeln Sie mal Namen wie Magnus und Wernher von Braun, Arthur Rudolph oder Walter Dornberger. Gerade die Amerikaner waren schnell bereit, auch auf Verwaltungsebene "alte Kameraden" einzusetzen - die wurden "entnazifiert" (sie zahlten Geldbussen) und waren ab sofort "bekehrte" Demokraten. Es gab zu der Zeit in Deutschland (zu) wenig Fachleute, die zur neuen Organisation des besetzten Staates verwendet werden konnten - viele waren noch in Gefangenschaft oder damit beschäftigt, Trümmer wegzuräumen. Da übernahm man gerne Leute, die Fachkompetenz aufwiesen (kommt dazu, dass es in den USA unter Führungspersonen etliche Nazifreunde gab - von Papa Kennedy oder Charles Lindbergh bis Rockefeller). Franzosen, Briten und Russen waren weniger freigebig mit Posten - vermutlich, weil sie selbst im eigenen Land unter den Nazis gelitten hatten. Der Aufbau der "neuen" BRD wäre vermutlich in der bekannten Geschwindigkeit gar nicht möglich gewesen, hätten die Alliierten konsequent alle Alt-Nazis von Leitungspositionen fern gehalten. Schliesslich waren alle zwischen 20 und 65 "vorbelastet" - sie hatten mindestens 12 Jahre mit und für Nazis gearbeitet oder Jugendorganisationen durchlaufen. Auch junge Juristen z.B. hatten ja unter den Nazis studiert. Zudem hätten nur Deutsche selbst "ihre" Alt-Nazis zuverlässig gekannt - Deutschen aber trauten die Alliierten zu dieser Zeit nicht (aus völlig verständlichen Gründen).

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Auch in den Geheimdiensten und in der Regierung der BRD gab es alte Nationalsozialisten. Das führt auf die politische Spur: Die Sowjetunion, der Hauptgegner des Dritten Reichs, war vom Alliierten der Westmächte zum Hauptgegner im kalten Krieg mutiert. Der Feind meines Feindes ist mein Freund...

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Sie geben mir hier ganz schön viel zum Kauen ;). Ich verabscheue zwar den Pragmatismus der zu diesen Entscheidungen geführt hat, aber ich muss die Notwendigkeit im geschichtlichen Kontext wohl hinnehmen.
Natürlich ist es müßig in der Vergangenheit umzurühren und was-wäre-wenn Spiele zu spielen. Aber nehmen wir nur einmal an, dass die Alliierten anders gehandelt hätten.
Was wäre passiert, wenn sie alle Nazis von politischen Ämtern ausgechlossen hätten?
Was wäre passiert, wenn sie die geflüchteten Deutschen zurückgeholt und an die Schlüsselpositionen gesetzt hätten?
Wäre es dann nicht eher möglich gewesen vollständig rechtsstaatlich aufzuklären und abzurechnen? Wäre es dann nicht zeitnah möglich gewesen den Opfern und auch den Tätern (so weit wie möglich) ihre Würde wiederzugeben anstatt alles tot zu schweigen? Dann hätte womöglich ein gesellschaftlicher Heilungsprozess einsetzen können und wir wären heute vielleicht nicht so mit diesem Erbe belastet.
Das war jetzt sehr viel Konjunktiv.

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Ein weiterer Aspekt, der sich auch schön an der japanischen Nachkriegszeit veranschaulichen lässt, ist dass juristische Aufarbeitung auf dem Altar des Antikommunismus geopfert wurde. Die faschistischen Staaten, so die Furcht, hätten leicht dem Sowjetkommunismus anheimfallen können, da hat man lieber ein paar Faschisten in Kauf genommen als dass sie zu den Roten überlaufen.

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Ja, Antikommunismus war ein gewichtiger Faktor. Einiges ist hier detailliert geschildert: https://www.amazon.com/Nazis-Next-D…0544577884

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Als Sohn eines 1934 geborenen nationalsozialistisch sozialisierten Pimpfen kann ich der geschätzten Leserschaft aus durchaus leidvoller eigener Erfahrung versichern, sie waren nie weg!

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Waren die Nazis gar nie weg? Waren sie nicht u. a. ein gutes "Exportprodukt"? Der "freie Markt" hat viele Top-Nazis in die USA exportiert, google mal unter project paperclip: z. B. https://www.youtube.com/watch?v=wDZc-fO8pHc

oder

https://www.cia.gov/library/center-…erica.html

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· editiert

Über die gezielte Behinderung von kritischer Auseinandersetzung mit dem Thema gibt es eine eindrückliche Aufstellung bei der Süddeutschen Zeitung.

Der Artikel wurde in einem „Was diese Woche wichtig war“ erwähnt:

Kampfzone Kultur. Die neue Rechte in Deutschland versucht seit Jahren, das Kultur­angebot zu manipulieren oder zu diskreditieren. Eine Recherche von ARD und «Süddeutsche Zeitung» hat 40 Fälle dokumentiert und präsentiert sie in einer erschreckenden Chronik.

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