Dialog

Beiträge zu «Mug shots»



Die Republik ist nur so stark wie ihre Community. Werden Sie ein Teil davon und lassen Sie uns miteinander reden. Kommen Sie jetzt an Bord!

DatenschutzFAQErste-Hilfe-Team: kontakt@republik.ch.



Die Zeiten ändern sich. Der Korber meiner Kindheit ist nicht mehr. Er sass auf Kisten in einer Waldlichtung und flocht Zainen. Tagein tagaus. Bei Regen schützte ihn ein zerschlissener Regenschirm. Um ihn herum die fertigen Körbe, gestapelt so gut es ging. Und ein leise rauchender Aschehaufen manchmal. Im Sommer schlief er im Wald und es behelligte ihn niemand. Seine Weidenruten lagen gebündelt nach Dicke auf dem Waldboden oder hingen in den Ästen der Tannen. Es waren die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Der Rauch seiner Pfeife hing zwischen den Tannen und verriet, dass er da war. Sein Schaffen im Wald wurde geduldet. Er war der einzige Korber der Gegend und niemand wollte es ihm gleichtun. Im Gegenteil. Der Fortschritt überzog das Land. Die Bahnhofstrasse wurde geteert; es gab ein Trottoir. Und das erste Mehrfamilienhaus. Später lag noch ein halbfertiger Korb auf seinem Platz. Seine Holzkisten waren eingewachsen. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Vielleicht kam er ins Altersasyl oder wurde ordnungshalber vertrieben. Heute gibt's dort kaum mehr Wald. Dafür einen Rastplatz der Autobahn mit Toilette. Kein Platz zum Körbe Flechten. Es wäre gesetzlich verboten.

50
/
0

traurig schön!

7
/
0

Dieser Bericht geht unter die Haut, gerade auch weil diese ausgestossenen Menschen Gesichter bekommen. Es ist eine uralte Geschichte über Menschen, die nicht ins Schema passen, die angeblich nicht zu uns gehören, die durch ihr Anderssein unsere träge und überhebliche Selbstsicherheit und unseren Machtanspruch in Frage stellen und auf die wir alle unsere Ressentiments, Ängste und unseren Frust projizieren können. Es ist eine uralte Geschichte von beklemmender Aktualität.

43
/
0

Der Text von Lukas Bärfuss ist ausgehend von einem Fundstück auf seine Familiengeschichte zugeschnitten. Abenteuerlich, fabulierend, unterhaltsam. Aber es gibt eine andere Geschichte: wo die Menschen hauptsächlich Bauern sind und mit einem Handwerk etwas Bargeld verdienen, gibt es immer Überzählige. Das Land kann nicht unendlich geteilt werden, die Mädchen heiraten weg oder werden irgendwo Magd. Die Knaben werden Knechte oder Soldaten in fremden Diensten. Manchmal sind die Arbeitsstellen in Ordnung, oft nicht. Und dann wandern sie weiter. Thomas Platter, der Geisshirt aus dem Wallis, wanderte jahrelang quer durch Europa, meist sehr hungrig, immer auf der Suche nach Arbeit und versprochener Bildung bis er in Basel zum erfolgreichen Geschäftsmann und Unirektor wurde. Warum ich das alles schreibe: wenn ich mich mit Alteingesessenen auf dem Land unterhalte höre ich viel Kritik den Städtern gegenüber. Dass die Masse dieser Städter Ausgewanderte sind, Menschen die in ihrer Heimat keinen Platz mehr hatten, das wird gern vergessen. Meine Grosseltern aus dem Berner Oberland fanden Wohnung und Arbeit in den damals sehr schmutzigen Kreisen 4 und 5 in Zürich und sehnten sich ihr Leben lang nach den Bergen, nach eigenem Grund und Boden. Mir fällt in Gesprächen oft auf: wer privilegiert ist, hinterfragt die Gründe für Sicherheit und Wohlergehen selten. Dass diese im Zusammenhang stehen mit den überzähligen Ausgewanderten schon gar nicht. Lieber macht man diese zu nie zufriedenem Pöbel, zu aufrührerischen, diebischen Vaganten, zu geldgierigen Städtern.

49
/
7
Multifunktional
·

Mit dem ersten Teil Ihres Kommentars bin ich einverstanden. Wie Sie aber daraufhin eine Brücke schlagen um in SVP-Manier einen Graben zwischen Stadt und Land herbeizureden, ist nicht nachvollziehbar. Ganz abgesehen davon, dass es vor 140 Jahren Städter waren, die die „Vaganten“ erkennungsdienstlich dokumentierten und Leute vom Land, die Ihnen Schlafplätze im Heu anboten und ihren Geschichten lauschten. Ich denke nicht, dass sich heute eine Mehrheit der Städter nach einer „Rückkehr in die Heimatberge“ sehnt…

11
/
13

Liebe Frau W., ich weiss nicht wie Sie auf SVP-Argumente kommen. Ich schreibe nämlich, wer privilegiert ist, hinterfragt die Gründe für die persönliche Sicherheit und sein Wohlergehen selten. Das ist bei denen auf dem Land und denen in der Stadt so und bei denen an der Goldküste sowieso. Ich sage, es gibt Gründe, warum Menschen aus ihrer Heimat weggehen. Manchmal das Bedürfnis nach weniger sozialer Kontrolle, manchmal aber auch auf der Suche nach Lebensunterhalt. Ich rede keinen Stadt-Landgraben herbei, ich bin im Gespräch mit verschiedensten Menschen an sehr unterschiedlichen Wohnorten und mit ganz verschiedenen Erwerbsmöglichkeiten. Es geht mir um die Stellung von Armen oder zu Armen gemachten in unserer Gesellschaft und um Gerechtigkeit in der Beurteilung von Armen.

31
/
2
Unity in Diversity
·

Diese Geschichte war für mich weder abenteuerlich, noch unterhaltsam, noch fabulierend. Sie war nur schmerzhaft.
Und schamhaft. Schamhaft darum: Vor 40 Jahren habe ich von einem Körbler und seiner Grossmutter- die ganz geschundene Hände hatte - Körbe gekauft. Die Körbe sind immer noch in Gebrauch so gut sind sie. Die beiden lebten im Elsass in einem Camp für Fahrenden. Sie waren oft hungrig und waren froh um die einfache Mahlzeit, Dann wurde der Junge drogensüchtig und ich bekam Angst und liess den Kontakt versanden. Heutzutage lade ich niemanden mehr ein, doch es fühlt sich nicht gut an.

8
/
0
Daniel Reichenbach
Filmer, Fotograf
·

Danke Lukas Bärfuss für diesen spannenden Einblick in unsere erstaunlich nahe Vergangenheit mit all ihrer Exotik, die ihre Spuren bis heute bewahrt. Wenn ich nur schon daran denke, wie meine Eltern mich im Sommer während der Schulferien zu Onkel Rheinhold und Tante Marie auf die Alp im Berner Oberland verfrachteten, wo ich als Statterbub verkleidet morgens um halbsechs aus der Strohmatte auf die Weiden geschickt wurde, um das Vieh zum Melken zusammenzutreiben. Oder mit dem Rucksack hinunter ins Dorf für ein paar Laibe Brot, nicht wissend und mit all der Angst in mir, ob ich den Weg zurück durch Wald und Weide je wieder finden würde. 55 Jahre ist das her. Ein Klacks also auf der Zeitrechnung und dennoch so weit weg, als wärs ein anderes Leben.

35
/
1

Danke für diese tolle Recherche. Wirklich beängstigend. Die beschriebenen Orte in Luzern erkenne ich aus den Erzählungen meiner Grossmutter. Die Zuchthüüsler seien mit schweeren Eisenkugeln an den Füssen, in Reih und Glied, durch die Baselstrasse geführt worden.
Unheimlich wie rücksichtslos die Elite der Macht mit anderen Menschen umzugehen pflegt(e). Welches unsägliche Leid sie mit ihren Ränkespielen verursachten.

30
/
1

Danke Lukas Bärfuss für diesen Text. Einmal mehr vom feinsten: persönlich, darüber hinaus gesellschaftspolitisch und Augen öffnend für das Leben in seinen vielen Facetten. Ich nehme die Denkanstösse zu unserem Umgang mit dem Anderen mit für heute, morgen, übermorgen … und weit darüber hinaus.

28
/
0

Danke für den Beitrag, Herr Bäfuss.
Ich selbst befasse mich mit meiner Biographie rückblickend über vier Generationen. Und wir haben auch dunkle Kapitel geerbt. Schulden oder Geld kann man als Erbe ablehnen. Persönliche Geschichten nicht, jene werden über die nächsten Generationen ohne zu fragen weitervererbt. Es bleibt also letztlich die Frage, was wir mit solchen geerbten Geschichten tun. Ernüchternd stelle ich nach all meinen Recherchen fest, dass wir zwar gerne mit dem Finger auf unsere Vorfahren zeigen, wir uns aber in derselben Reihe wiederfinden. Ausgestossene, Vaganten, Überzählige, Penner, Abtrünnige, Unmoralische oder wie wir sie allen nennen, gibt es heute noch. Und wir lassen es zu, wie es die früheren Generationen auch zugelassen haben.
Die einzige Möglichkeit für uns Menschen wäre, aus solchen Geschichten zu lernen. Aber das wollen wir nicht, denn es hätte Konsequenzen für uns, welche wir nicht möchten, was auch immer die Gründe dafür sind. Ebenso, wie es unsere Vorfahren auch nicht wollten.

21
/
1

Was früher mit den Vagant*Innen passierte - die erkennungsdienstliche Behandlung - und dann wenn immer möglich die Abschiebung in ein anderes Land, dies passiert heute mit Flüchtlingen... es hat sich also nichts geändert.

20
/
0

So lange sich die CH als Insel definiert und entsprechend handelt, wird sich nichts ändern. Ihre Selbstgenügsamkeit muss massiv durch negative und unvermeidliche Folgen der Abschottung erschüttert werden, und auch dann wird die überwiegend rechtspopulistisch dominierte Schweiz neue Feindbilder präsentieren, die ihre Haltung rechtfertigen. Diese selbstdestruktive Haltung kann nur das Ende der CH bedeuten. Es sei denn, eine Opposition entsteht, die eine grundlegende Veränderung in der Gesinnung des Schweizer Volkes ermöglicht.

12
/
0

"dann erkenne ich mich, erkenne ich meine eigene nicht weniger als die Herkunft meines Staates, der die Überwachung, die Vermessung und die Abschiebung von Menschen mit der falschen Herkunft bis heute nicht aufgegeben hat". Wie träf und wie wahr- leider.

13
/
0

…habe ich als kommentar zum thema von isabella huser erhalten:

Und wie wärs, wenn Sie die Leute beim Namen nennen, lieber Lukas Bärfuss?
Jenische sind die Korbflechterinnen, Scherenschleifer, Musikantinnen und Vogelfänger, die in den Schweizer Heimatlosenakten der 1850er Jahre "Vaganten" heissen und die Sie in Ihrem Essay frohgemut zornig auch so nennen, ohne sich je zu fragen, um wen es hier geht. Jenische wurden von der Pro Juventute im 20. Jahrhundert verfolgt. Jenische haben die hiesige Volksmusik geprägt. Und ein Jenischer war wohl auch Ihr Ahne.
Jenische sind wir, lieber Bärfuss. Willkommen im Club.

Isabella Huser
Zuletzt erschienen: "Zigeuner", Roman, Bilgerverlag, Zürich, 2021

5
/
0