Zur Lage des Planeten
Das heisseste Jahr seit Messbeginn geht zu Ende, und in Dubai feilschen die Wirtschaftsmächte an der Klimakonferenz um den Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen. Eine Bestandesaufnahme in sechs Punkten.
Von David Bauer, Elia Blülle, Marcel Hänggi und Sabrina Weiss, 07.12.2023
Die Uno-Klimakonferenz ist in vollem Gange, ausgerechnet in den ölreichen Vereinigten Arabischen Emiraten. Sie hatte mit einer Premiere begonnen. Erstmals fiel gleich am Eröffnungstag eine Entscheidung: die Einigung über einen Fonds zur Unterstützung von besonders betroffenen Ländern.
Doch während zahlreiche Ankündigungen aus Dubai zu hören sind und Politikerinnen und Interessenvertreter aus 198 Ländern den Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas verhandeln, ist die entscheidende Frage: Befinden sich die Länder auf Kurs, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen?
Erstmals seit der Verabschiedung des Pariser Abkommens 2015 findet eine Bestandesaufnahme zum weltweiten Klimaschutz statt. Der Zeitpunkt könnte nicht kritischer sein. Das Jahr 2023 hat viele Klimarekorde gebrochen und wird das wärmste seit Beginn der Messungen sein.
Auch Nichtregierungsorganisationen, Forschungsinstitute und zwischenstaatliche Organisationen haben Berichte mit Zahlen und Grafiken veröffentlicht, die ein aktuelles Bild zeichnen, wo die Welt bei ihren Klimabemühungen steht. Wir werfen einen Blick auf sechs zentrale Themen.
1. Temperatur: Das Ziel, die globale Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, dürfte bald nicht mehr erreichbar sein
Die Treibhausgaskonzentration hat einen neuen Höchststand erreicht, und der Meeresspiegel ist so stark gestiegen wie noch nie in den vergangenen Jahrhunderten.
Jüngst sagte Petteri Taalas, Generalsekretär der Weltwetterorganisation, diese Entwicklung sei «mehr als nur Statistik». Extremwetterereignisse wie Hitzewellen, Dürren und Starkregen hätten «eine Spur der Verwüstung und Verzweiflung» hinterlassen.
Bereits fast jeder dritte Tag dieses Jahres überschritt das Klimaziel von Paris – war also global mehr als 1,5 Grad Celsius wärmer als zu vorindustrieller Zeit.
Laut dem Sachstandsbericht des Weltklimarats dürfte das Ziel mit der gegenwärtigen Politik bis in gut zehn Jahren nicht mehr erreichbar sein.
Die Uno, aber auch das wissenschaftliche Konsortium Climate Action Tracker, schätzt, dass sich die Erde bis 2100 um 1,8 Grad Celsius erwärmt – zumindest im optimistischsten aller optimistischen Szenarien. Dafür müssten alle am Pariser Abkommen beteiligten Länder sämtliche Versprechen zur Reduktion von Treibhausgasemissionen erfüllen. Die Glaubwürdigkeit vieler Netto-null-Versprechen (wie auch der Bundesrat eines abgegeben hat) ist gering.
Realistischer sind andere Szenarien. Diese beziehen nur jene Ankündigungen mit ein, die bindenden Charakter haben. In ihren Klimazusagen bis 2030 (NDC) erklären die Staaten, wie sie ihre Emissionen zu senken gedenken.
Setzen sie diese Pläne vollständig um und führen sie ihre Klimapolitik danach weiter, dürfte sich eine Erwärmung von 2,5 Grad Celsius bis Ende des Jahrhunderts einstellen.
Aber selbst von diesem Szenario sind die Länder noch weit entfernt. Halten die Staaten an ihrer derzeitigen Klimapolitik ohne weitere drastische Verschärfungen fest, erwärmt sich die Erde bis 2100 um 2,7 Grad Celsius.
Diese Schätzung von der Uno und von Climate Action Tracker beruht auf den derzeit implementierten nationalen Massnahmen und Regulierungen.
Was bei diesen Szenarien schnell vergessen geht: Der Planet erwärmt sich grundsätzlich so lange, bis die Treibhausgasemissionen netto null erreicht haben. Sowohl die derzeitigen Massnahmen als auch die nationalen Klimazusagen (NDC) führen die Welt in diesem Jahrhundert aber nicht an diesen Punkt: Wir würden weiterhin mehr emittieren, als wir der Atmosphäre entziehen können. Es droht also eine Erwärmung über das Jahr 2100 hinaus.
2. Emissionen: Zwischen dem Anspruch und der Wirklichkeit klafft eine gewaltige Lücke
Die Emissionen müssen sinken, und zwar rasch. Damit sie sinken können, müssen sie aber zuerst aufhören zu steigen. Das ist allen Anstrengungen und Zielen zum Trotz bisher nicht gelungen: Auch im Jahr 2022, dem aktuellsten Jahr, für das Daten vorliegen, stiegen die globalen Treibhausgasemissionen erneut an, um 1,2 Prozent.
Eine aktuelle Untersuchung von Climate Analytics erachtet es immerhin als realistisch, dass die Emissionen ab 2024 sinken werden.
Auch der neulich veröffentlichte «Emissions Gap Report» des Uno-Umweltprogramms geht davon aus, dass die Gesamtemissionen bald zurückgehen werden.
Allerdings klafft weiterhin eine riesige Lücke zwischen den Reduktionen, auf die sich die Länder bisher verpflichtet haben, und dem, was notwendig wäre, um die Erwärmung bei weniger als 1,5 Grad zu halten.
Im Jahr 2030 würden demnach immer noch 22 Gigatonnen CO2-Äquivalente zu viel ausgestossen – oder anders gesagt: 40 Prozent des heutigen Ausstosses müssten die Staaten zusätzlich reduzieren, soll das 1,5-Grad-Ziel erreichbar bleiben. Und auch wenn man das Ziel auf 2 Grad Erwärmung verschiebt, müssen die Reduktionen noch deutlich beschleunigt werden.
Zwar müssen Reduktionen auf allen Ebenen des globalen Wirtschaftssystems realisiert werden. Aber prioritär ist die Transformation der Energieproduktion. Das Verbrennen fossiler Energieträger – Gas, Erdöl, Kohle – verursacht rund drei Viertel aller Treibhausgasemissionen.
Fast alle Länder haben sich mit dem Pariser Abkommen verpflichtet, die Emissionen aus fossilen Brennstoffen zu reduzieren. Doch statt rasch auf erneuerbare Energie umzusteigen, planen viele Länder, darunter Indien, Saudiarabien und die Vereinigten Staaten, ihre Erdöl-, Gas- oder Kohlefördermengen zu steigern. Das ist mit dem 1,5-Grad-Ziel nicht vereinbar.
Die derzeitigen und prognostizierten Pläne zur Förderung von fossilen Energieträgern würden in den kommenden Jahrzehnten mehr als doppelt so viele Emissionen verursachen, als selbst ein 2-Grad-Ziel erlauben würde. Das geht aus dem aktuellen «Production Gap Report» hervor. Zur Einhaltung des Pariser Klimaziels müssten Emissionen aus der Energieproduktion bis 2050 um 80 Prozent sinken – mit den aktuellen Plänen würden sie praktisch gleich bleiben.
3. Erneuerbare Energien: Solar- und Windenergie sind so günstig wie noch nie, aber es geht viel zu langsam voran
Erneuerbare Energien werden immer günstiger, insbesondere Strom aus Sonne und Wind.
Noch im Jahr 2009 war es mindestens dreimal teurer, Strom aus Solarenergie zu gewinnen als aus Kohle.
Strom aus Windparks an Land war damals 22 Prozent teurer.
Inzwischen sind die Kosten für Infrastruktur und Wartung gesunken, die Anlagen effizienter geworden.
Heute sind neue Solar- und Windanlagen für Investoren und Entwickler finanziell attraktiver als solche, die fossile Brennstoffe verbrennen – trotz leichter Kostensteigerungen in den vergangenen zwei Jahren.
Das beschleunigt den Ausbau erneuerbarer Energie weltweit: Zwischen 2015 und 2022 hat sich die Kapazität von Solaranlagen auf fast 1 Terawatt (TW) verfünffacht. Das ist ungefähr so viel wie die gesamte installierte Stromkapazität in der Europäischen Union.
So weit die guten Nachrichten.
Das Tempo, mit dem die Welt auf erneuerbare Energien umstellt, reicht allerdings bei weitem nicht aus, um die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichen.
Fast überall mangelt es an Investitionen und politischem Willen. Ausserdem müssen Kraftwerke an Stromnetze angeschlossen werden, die in vielen Ländern staatlich oder von privaten Unternehmen mit Monopolstellung betrieben werden. Das verzögert die rasche Transformation oft. Aber auch die vielerorts unklare Gesetzeslage hemmt den Ausbau erneuerbarer Energien stark, insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern.
Die Internationale Energieagentur schätzt, dass die installierte Kapazität bis zum Ende des Jahrzehnts verdreifacht werden muss, um die notwendigen Emissionsreduzierungen zu erreichen.
Der Anteil der erneuerbaren Energien an der gesamten Stromerzeugung würde damit von 30 Prozent im Jahr 2022 auf 60 Prozent steigen.
Bis 2050 müssten sie fast 90 Prozent der weltweiten Stromversorgung decken.
Voraussetzung dafür ist natürlich auch, dass die fossile Stromgewinnung zurückgefahren wird und Strom aus erneuerbaren Quellen nicht bloss zusätzlichen Bedarf bedient.
4. Geld: Rekordinvestitionen, die aber nicht ausreichen
Die gesamte Strominfrastruktur eines Landes umzubauen, kostet viel Geld. Neue Windräder, Solaranlagen, Wasserkraftwerke, in einigen Ländern auch neue Atomkraftwerke – das muss man alles zuerst einmal finanzieren.
Das Gute an Investitionen: Wer klug mit dem Geld umgeht, bekommt es über die Zeit hinweg wieder zurück. So mag eine Windkraftanlage viel kosten im Aufbau, liefert aber danach über die Jahre zuverlässig günstige Energie, reduziert die Abhängigkeit von fossilen Ressourcen, bewahrt die Volkswirtschaft (zusammen mit ganz viel anderen Massnahmen) langfristig vor teuren Schutzmassnahmen und noch viel teureren Rezessionen.
Das macht die Dekarbonisierung zu einer gewaltigen ökonomischen Herausforderung: Um die Weltwirtschaft rasch von fossilen Brennstoffen zu befreien, müssen Tausende Milliarden investiert werden.
Auch hier gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht:
Die privaten und öffentlichen Klimainvestitionen haben sich 2021 und 2022 im Vergleich zu den beiden Jahren zuvor fast verdoppelt.
Aber: Diese Finanzmittel reichen nicht aus.
Die Climate Policy Initiative, eine unabhängige Forschungsgruppe, schätzt, dass sich private und staatliche Klimafinanzierung mindestens verfünffachen müsse, um die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels noch zu vermeiden – und zwar so schnell wie möglich, wie die Forscher schreiben.
Ab 2030 bräuchte es Mittel in der Höhe von über 10 Billionen US-Dollar, zehntausend Milliarden.
Zudem zeigen neueste Zahlen der OECD, dass die Industrienationen (darunter auch die Schweiz) ihrem Versprechen, jährlich 100 Milliarden an ärmere Länder für mehr Klimaschutz und Anpassungsmassnahmen zu bezahlen, noch immer nicht nachkommen. 2021 kamen rund 90 Milliarden zusammen.
5. Verantwortung: Mit einem Jahreseinkommen über 36’000 Franken gehört man bereits zu den Top-Emittern
Kaum ein anderes Problem leidet so unter Verantwortungsdiffusion wie die Klimakrise. Staatspräsidenten und -oberhäupter sagen gerne, was «wir», «die Menschheit», «die Welt» nun alles unternehmen müsste. Aber letztlich zeigen die Zahlen sehr eindeutig, wer diese Krise mehrheitlich zu verantworten hat: all jene Menschen, die mehr als 36’000 Franken im Jahr verdienen.
In der Schweiz beträgt der Medianlohn rund 80’000 Franken pro Jahr.
Die reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung verantworten gemäss Berechnungen der NGO Oxfam die Hälfte aller Treibhausgasemissionen.
Das ist bemerkenswert, weil arme Weltregionen am stärksten von der Klimaerwärmung betroffen sind. In den vergangenen 50 Jahren haben sich laut der Weltgesundheitsorganisation 91 Prozent der Todesfälle durch wetter- und klimabedingte Katastrophen in Entwicklungsländern ereignet.
6. Extremwetter: Die Schäden des Klimawandels sind ungleich verteilt
Extreme Wetterereignisse haben gravierende Folgen: Ernten fallen aus, Infrastruktur wird zerstört, Menschen verlieren ihr Hab und Gut oder gar ihr Leben. Nach Angaben der Weltorganisation für Meteorologie ereigneten sich zwischen 1970 und 2021 weltweit fast 12’000 wetterbedingte Katastrophen. Stürme, Fluten oder extreme Temperaturen haben über 2 Millionen Menschen getötet, vorwiegend in Entwicklungsländern.
Sie verursachten wirtschaftliche Schäden in Höhe von 4,3 Billionen US-Dollar, allein in den USA beliefen sich die Kosten auf rund 1,7 Billionen.
Doch im Vergleich zu ihrer Wirtschaftsgrösse sind auch hier die ärmsten Länder und kleine Inselstaaten übermässig stark betroffen.
Die meisten dieser wetterbedingten Katastrophen wären auch ohne Klimaerwärmung eingetreten. Mit dem Klimawandel treten Wetterextreme aber häufiger auf und werden intensiver – und richten damit grössere Schäden an.
Die entscheidende Frage: Wie sehr verschlimmert der Klimawandel die Lage?
Deshalb versuchen Forschende, darunter ein Team um Friederike Otto, den Einfluss des Klimawandels auf Wetterereignisse zu belegen. Das ist wichtig für diejenigen, die auf Katastrophen reagieren und beschädigte Gebiete wiederaufbauen müssen, aber auch für Versicherer oder Klimaanwältinnen, die Schäden beziffern und Verantwortlichkeiten belegen möchten.
Ottos Team konnte zum Beispiel aufzeigen, dass der Klimawandel die heftigen Waldbrände in Kanada intensiviert hat und die extremen Regenfälle in Südeuropa und Nordafrika vom September ohne die globale Erwärmung nicht in dieser Heftigkeit stattgefunden hätten – besonders in Libyen, wo der Bruch von zwei Dämmen starke Verwüstungen anrichtete.
Fazit
Um zu verhindern, dass diese Folgen der Klimaerwärmung nicht nur ökologisch, sondern auch wirtschaftlich und finanziell zu einer immer grösseren Gefahr werden, braucht es rasch neue politische Massnahmen.
An der Klimakonferenz in Dubai haben die Länder die historische Gelegenheit, sich endlich kollektiv zu einigen, wie und wie schnell die Nutzung fossiler Brennstoffe beendet werden soll. Und es könnte auch bei der Finanzierung besonders gefährdeter Länder weitere Durchbrüche geben.
Aber Klimakonferenzen sind nur dann erfolgreich, wenn die Vertragsländer ihre Versprechen auch einhalten. Nach der globalen Bestandesaufnahme in Dubai sind die Länder verpflichtet, ihre Klimazusagen zu überarbeiten, und sie müssen im Detail aufzeigen, wie sie die Klimaziele erreichen wollen.
Man muss keine prophetischen Kräfte besitzen, um bereits heute vorauszusehen: Allen Regierungen drohen richtig viele Hausaufgaben.