Zwischen den Wolken
Eine queerfeministische Lesung in Glarus zieht so viel Publikum an, dass es zusätzliche Stühle braucht. Wie passt das zu den queerfeindlichen Horrorgeschichten aus ländlichen Gegenden?
Von Anna Rosenwasser, 17.10.2023
Mach einfach keinen Stadt-Land-Witz, sage ich mir, als ich in Ziegelbrücke aussteige, um den Wagen zu wechseln, denn ich bin in Zürich in die falsche Hälfte des Zugs eingestiegen. Das letzte Mal bin ich vor sechs Jahren nach Glarus gefahren. Ich war dort in den Ferien, um herauszufinden, ob es Glarus wirklich gibt. – Genau den Witz machst du nicht, ermahne ich mich, während ich an meinem neuen Platz im Zug in meinem Buch blättere.
In einer Stunde wird meine Lesung beginnen, in einem Keller. Ich weiss noch nicht, welche Texte ich vorlesen werde. Nur, dass ich den letzten Zug erwischen muss, um wieder nach Hause nach Zürich zu fahren, in meine Stadtwohnung, von der aus ich zu so mancher unchristlichen Uhrzeit Zugang habe zu Konsum und Party.
Geboren in einem 1300-Seelen-Dorf habe ich gelernt, bei mühsamen Witzen über ländliches Leben wegzuhören. Und als LGBTQIA+-Aktivistin habe ich gelernt, ernsthaft hinzuhören.
Für queere Leute bringt das Aufwachsen auf dem Land noch intensivere Herausforderungen mit sich. Wenn dein Dorf eng vernetzt ist, sprechen sich Gerüchte über deine sexuelle Orientierung leichter herum. Wenn der nächste queere Treff zweieinhalb Stunden entfernt ist, fehlt dir der vielleicht erste Offline-Raum, in dem du deine Geschlechtsidentität in einem sicheren Rahmen hinterfragen könntest. Wenn in deiner Gemeinde der Konsens herrscht, queere Identitäten seien krankhaft und falsch, fühlen sich dort alle zu Unrecht als «the only gay in the village», wie ein Protagonist der TV-Serie «Little Britain» zu sagen pflegt – als die einzige queere Person im Dorf.
So mancher Mensch aus meinem Bekanntenkreis begegnet Jahre später alten Primarklassengspänli wieder im queeren Nachtleben, in LGBTQIA+-Gesprächszirkeln oder auf Sexapps für Schwule. Und vor grossen Feiertagen sehen wir uns dann gegenseitig dabei zu, wie wir die Frisur zähmen, den Nagellack entfernen und uns zusammenreissen, bevor wir uns wieder in die gewohnten Regionalbusse setzen, um nach Hause zu fahren. Oder alleine zu Hause bleiben, weil Heimkehren keine Option mehr ist.
Nach einem Jahrzehnt queerem Aktivismus bin ich mir recht sicher, dass es nicht nur in jedem Dorf, sondern auch in jeder Verwandtschaft mindestens 10 Prozent queere Menschen gibt. Wenn du in deiner Familie niemanden hast, heisst das nicht, dass alle hetero und cis sind. Sondern: dass niemand sich outet. Dass niemand den Zugang hat zum Wissen und zu den Gemeinschaften, die einen inneren Erkennungsprozess ermöglichen würden.
Viele Menschen meinen, queere Sichtbarkeit mache Menschen queer. Es ist umgekehrt: Cis-Heteronormativität macht queere Menschen unsichtbar. Und damit auf lange Sicht krank, wie Studienergebnisse zeigen.
Unzählige queere Biografien erzählen vom Aufwachsen in einer Region oder einer Familie, in der die Unsichtbarmachung und die Abweisung von LGBTQIA+ so intensiv sind, dass man sie als Form von Gewalt einstufen muss. Die LGBTQIA+-Community praktiziert darum schon lange die «Wahlfamilie»: Menschen bilden neue, gewählte Familien, weil ihre Blutsverwandtschaft sie ausgeschlossen hat aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität.
Ich steige aus dem Zug und werde begrüsst von der jungen Frau, die mich eingeladen und die Lesung mitorganisiert hat. Vor Ort stellen Menschen eine sehr zuversichtliche Zahl an Stühlen auf. Der Raum ist gar kein Keller: Er hat Fenster. Und er ist so liebevoll dekoriert, dass ich ganz einsilbig werde. Wattewolken an der Decke. Jöö. Ein Kuchenbuffet mit rosa Gugelhupf. Jöö. Liebevoll drapierte Lichterketten. Jöö. Den Anlass organisiert eine Glarner Jungpartei, und ich spüre, selbst mitten in meinem Zürcher Wahlkampf steckend, Ehrfurcht vor der Position, hier jung und feministisch zu sein. Im Schweizer Parlament sass noch nie eine Glarnerin, nur Glarner.
Das freundlich in die Wolken reintröpfelnde Publikum ist grösser, als ich es dem Ort zugetraut hätte. Wir sind an einer queerfeministischen Lesung in Glarus, und die Organisierenden müssen mehr Stühle aufstellen.
Ich betrete die Bühne und sehe in der vordersten Reihe die junge Frau, die mich vom Bahnhof abgeholt hat, angeschmiegt an ihre Partnerin. Eine trans Person, die ich aus politischen Kontexten kenne, sitzt wenige Reihen dahinter. Zuhinterst wartet ein schwuler Aktivist, den ich bisher automatisch in Zürich verortet hätte, auf den Beginn der Lesung.
«Meine wichtigste Aufgabe heute Abend ist es, keine Witze über das Landleben zu machen», sage ich zur Begrüssung. Gleichzeitig frage ich mich, was hier gerade passiert. Und: Was ist eigentlich mit mir los, dass mich das alles erstaunt?
Am Ende der überhaupt nicht schüchternen Frage-Antwort-Runde meldet sich ein Herr um die sechzig. Oh, oh, denke ich. Er hat eine Bitte und eine Frage. Die Bitte: «Machen Sie mindestens einen der Landwitze, die Sie nicht machen wollten.» Die Frage: «Wie unterscheidet sich dieses Publikum von dem bei Lesungen in der Stadt?» – «In der Stadt haben die Leute im Publikum jeweils fünf Exen im Raum», sage ich, «und hier sind sie stattdessen miteinander verwandt.» Das Publikum lacht sehr lange und sehr laut.
Zehn Minuten später esse ich rosa Gugelhupf mit einer jungen Frau, deren Mami die Lichterketten installiert hat. Neben mir unterhalten sich zwei Schwestern über queere Coming-outs; eine hat Tränen in den Augen. Zwei fantastische Hundelesben kommen bei mir vorbei und sagen Hallo (zu meiner Freude mit ihrem Hund). Der Gugelhupf, stellt sich derweil raus, kommt von der Grossmutter eines Mitorganisators. Menschen lassen mich Widmungen schreiben für ihre Väter, ihre Cousinen, ihre Brüder (und, zu meiner Freude, für ihre Katzen).
So oft wurden Horrorgeschichten von queerfeindlichen Herkunftsfamilien an mich herangetragen, so oft Leidenswege aus ländlichen Gegenden erzählt, dass ich mich in die Idee einer Community verrannt habe, in der niemand miteinander blutsverwandt ist. Dass ich glaubte, kleine Gemeinden könnten keine funktionierenden Gemeinschaften bilden. Was für ein Widerspruch: Ich wehre mich tagtäglich gegen Binaritäten und falle selbst gleich auf mehrere rein: dass urbane und rurale Erlebnisse queerer Menschen trennscharf konträr sind. Und dass LGBTQIA+-freundliche, solidarische Familien immer Wahlfamilien sind, nie Herkunftsfamilien. Dabei geht das offenbar: beides miteinander.
Meine Vorurteile schicke ich zwischen die Wolken an die Kellerdecke, wo sie hingehören. Natürlich verpasse ich den Zug zurück. Das gehört dazu. Eine mir fremde Person bietet mir an, mich mit dem Auto mitzunehmen. Das gehört auch dazu.
Illustration: Alex Solman