Binswanger

Wir sind alle Israelis

Die Massaker an israelischen Zivilisten richten sich gegen die Menschlichkeit, gegen uns alle. Doch dieser furchtbare Krieg macht klar: Der Palästina-Konflikt muss wieder eine Lösungs­perspektive bekommen.

Von Daniel Binswanger, 14.10.2023

Vorgelesen von Egon Fässler
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«Ich bin ein Berliner», sagte John F. Kennedy vor dem Rathaus Schöneberg in Westberlin, auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs. «Nous sommes tous Américains» titelte «Le Monde», das Leitmedium der gar nicht amerika­freundlichen französischen Linken, am 13. September 2001, zwei Tage nachdem die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon fast 3000 Menschen­leben gefordert hatten.

Es gibt historische Wende­punkte, Grenz­überschreitungen, Verbrechen, die uns alle angehen. Es gibt Situationen, die unsere unbedingte Solidarität erfordern. Situationen, in denen wir Farbe bekennen müssen. Der Hamas-Überfall auf Israel hat eine solche Situation geschaffen. Wir sind alle Israelis.

Natürlich trifft es zu, dass sich immer wieder Gräueltaten, Verbrechen, Kriegs­verbrechen ereignen. Dass in anderen Teilen der Welt – etwa in der Ukraine – noch viel mehr Zivilistinnen sterben. Und es ist eine Tatsache, dass die Israelis mit ihren Militär­aktionen immer wieder furchtbares Leid über die Zivil­bevölkerung der Gegen­seite bringen, viel, viel mehr Palästinenser als Israelis zu Opfern des Palästina-Konfliktes geworden sind. Doch moralische Bewertungen lassen sich nicht auf Opfer­statistiken reduzieren. Dieser Überfall auf Israel hat alles verändert. Er ist ein beispielloser Vorgang.

Die blindwütige Ermordung zahlloser Zivilistinnen erinnert an die schlimmsten Formen des islamistischen Terrors. Familien wurden in ihren Häusern überfallen und mit Sturm­gewehren niedergemäht. Hand­granaten wurden in Bunker­räume geworfen, die vollgepackt waren mit hilflosen Menschen, die hofften, darin Schutz zu finden. Mütter, Kinder, Babys wurden gezielt getötet – und zahlreiche Opfer als Geiseln nach Gaza verschleppt.

Dennoch ist es nicht korrekt, diese Gräueltaten als Terror­akte zu bezeichnen. Man muss sie als Kriegs­verbrechen einstufen. Sie wurden ausgeführt von militärischen Einheiten. Von den Truppen der politischen Organisation, die über den Gaza­streifen herrscht. Mehr als 1500 Mann – so viele Hamas-Kämpfer sollen gemäss den Israelis im Lauf des Überfalls getötet worden sein – sind auf israelisches Territorium vorgedrungen. Sie waren erstaunlich gut bewaffnet, hatten die Fähigkeit, eine komplexe Operation umzusetzen, wurden unterstützt durch den massiven Raketen­beschuss des israelischen Territoriums.

Was für eine staatliche oder parastaatliche Organisation tut so etwas? Die eigenen Truppen losschicken, nicht um Gelände­gewinne zu machen, nicht um militärische Ziele zu zerstören, nicht um einen Gegner auszuschalten. Sondern um Geiseln zu nehmen und Zivilisten nieder­zumetzeln. Die Opfer des 7. Oktober waren keine Kollateral­schäden.

Es hat ein ungeheurer Tabu­bruch stattgefunden. Eine Art der Kriegs­führung, die nichts anderes ist als ein einziges grosses Kriegs­verbrechen.

Mit diesem Feind, so viel ist klar, wird Israel nicht mehr in Nachbarschaft leben können. Auf diese menschen­verachtende Weise dürfen kriegerische Konflikte nicht ausgetragen werden. Auch nicht asymmetrische Konflikte. Auch nicht von einem Akteur, der in einer prekären Position der Schwäche ist und berechtigte Ansprüche hat.

Israel wird die militärischen Strukturen der Hamas zerstören und die politische Führung eliminieren. Kein Land der Welt würde sich auf diese Weise heraus­fordern lassen, ohne kompromisslos zurück­zuschlagen. Es steht zu fürchten, dass dazu ein langer und opferreicher Krieg nötig sein wird. Israel muss diesen Krieg gewinnen. Europa – und die Schweiz – müssen an der Seite Israels stehen.

Aber dass wir solidarisch sind mit Israel, bedeutet nicht, dass wir nicht Kritik üben müssen an der israelischen Besatzungs­politik. Es bedeutet nicht, dass wir schweigen zu den israelischen Verstössen gegen das Völker­recht. Die vollständige Blockade des Gaza­streifens, die Israel jetzt angeordnet hat, ist ein eindeutiger Verstoss gegen das humanitäre Völkerrecht. Die Bevölkerung von Gaza darf nicht in Geisel­haft genommen werden. Sie hat ein Recht darauf, versorgt zu werden mit Nahrungs­mitteln und medizinischen Gütern.

Die israelische Forderung, sämtliche Bewohner Nord-Gazas – 1,1 Millionen Menschen – sollen binnen 24 Stunden ihre Häuser räumen und in den Süden fliehen, lässt Schlimmes befürchten. Dieser Krieg hat bereits jetzt viel zu viele zivile Opfer gefordert, und weitere zivile Opfer werden unvermeidbar sein. Aber Israel hat kein Recht, Rache zu nehmen an der Zivil­bevölkerung von Gaza.

Die Nato hat gut daran getan, die Verhältnis­mässigkeit der israelischen Antwort einzufordern. Sicher: Aus der Ferne ist es einfach, gute Ratschläge zu geben und moralische Forderungen aufzustellen. Aber die internationale Staaten­gemeinschaft muss insistieren auf der Einhaltung des humanitären Völkerrechts.

Vor allem aber müssen alle Kräfte – ganz besonders diejenigen der internationalen Staaten­gemeinschaft – wieder darauf ausgerichtet werden, Perspektiven zu entwickeln für eine Lösung des Palästina-Konfliktes. Dass die militärische Überlegenheit des Staates Israel die Situation länger­fristig nicht unter Kontrolle halten kann, hat sich nun auf fürchterliche Weise bestätigt. Ohne die Perspektive einer politischen Lösung wird auch dieser Krieg nicht mehr sein als ein neuer Eskalations­schritt in den Zyklen der immer verheerenderen Gewalt.

Nous sommes tous Américains, sagten die Franzosen im September 2001. Das hinderte sie nicht daran, sich mit aller Kraft gegen den zweiten Irakkrieg auszusprechen. Der Welt – und Amerika – wäre sehr viel Leid erspart geblieben, wenn Frankreich damals gehört worden wäre.

Nur die Hamas-Kämpfer sind verantwortlich für die Kriegs­verbrechen, die sie begangen haben. Aber auch die Netanyahu-Regierung hat ihren Anteil an der heutigen Tragödie – und es fehlt weiss Gott nicht an israelischen Stimmen, die das in aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringen.

So schrieb etwa der Schriftsteller und Friedens­aktivist David Grossmann diese Woche in der «Financial Times»: «In den Gesichtern der Menschen liest man ihr Gefühl, verraten worden zu sein. Als Bürger verraten worden zu sein durch die Regierung – durch den Premier­minister und seine zerstörerische Koalition. (…) Was heute geschieht, ist der Preis, den Israel dafür bezahlen muss, verführt worden zu sein von einer korrupten Regierung, die es herunter­wirtschaftete; die sein Justiz- und Rechts­system, seine Armee, sein Bildungs­system unterminierte; die bereit war, das Land in existenz­bedrohende Gefahr zu bringen, nur um dem Premier­minister einen Aufenthalt im Gefängnis zu ersparen.»

Das heutige Israel ist ein tragisch gespaltenes Land. Wer sagt, dass er zu Israel steht, muss sich im Klaren darüber sein, zu welchem Israel.

Zu Recht schreibt Daniel Strassberg in seinem Republik-Text über den Angriff der Hamas von der «geheimen Koalition der Extremisten» in beiden Lagern. Muss man daran erinnern, dass Shimon Peres bei den Wahlen 1996 lange klar in Führung lag? Er war gemeinsam mit dem Premier­minister Yitzhak Rabin, der im November 1995 von einem radikalen jüdischen Siedler ermordet wurde, der Architekt des Oslo-Friedens­plans, der Zweistaaten­lösung, deren Umsetzung er vorantrieb. Doch dann ereigneten sich zwei besonders blutige Selbstmord­attentate, und der rechte, nationalistische Heraus­forderer von Peres legte in den Umfragen plötzlich zu.

Die Selbstmord­attentate im Vorfeld des israelischen Wahlkampfs wurden ausgeführt von der Hamas. Der Likud-Politiker, der nach den Attentaten an Popularität zulegte, knapp die Wahlen gewann und Premier­minister wurde, hiess Benjamin Netanyahu.

Ohne die Hamas wäre Netanyahu vermutlich niemals israelischer Premier­minister geworden. Heute, 27 Jahre später, hat er die Bedingungen geschaffen, die der Hamas ihren mörderischsten Coup ermöglichten.

Eine der wichtigsten Amts­handlungen von Netanyahu bestand 1996 darin, den Stopp des Siedlungs­baus in den besetzten Gebieten, den Rabin und Peres veranlasst hatten, wieder aufzuheben. Heute hält sich Netanyahu nur noch an der Macht dank seiner Koalition mit ultra­nationalistischen Kräften, die sich offen zu Gross­israel bekennen und für die die umfassende Besetzung des gesamten Territoriums von Palästina das Hauptziel ist. 1993, zum Zeitpunkt der Signatur des Oslo-Abkommens durch Rabin, lebten im Westjordan­land und in Ostjerusalem etwa 250’000 Siedler auf dem gemäss dem Friedensplan den Palästinensern zustehenden Territorium. Dreissig Jahre später sind es 700’000.

Inzwischen sind demografische Bedingungen geschaffen worden – nicht nur, aber hauptsächlich aufgrund der Siedlungs­politik der verschiedenen Netanyahu-Regierungen –, die eine Zweistaaten­lösung illusorisch erscheinen lassen. Seit im letzten Dezember das Kabinett der bisherigen Netanyahu-Regierung ins Amt gekommen ist, haben in den besetzten Gebieten die gewalttätigen Zusammen­stösse stark zugenommen. Es waren zahlreiche Todes­opfer auf beiden, hauptsächlich aber auf palästinensischer Seite zu beklagen. Der Überfall vom 7. Oktober war eine vollständige Überraschung. Aber dass die Politik der israelischen Ultra­nationalisten zu einer neuen Gewalt­spirale führt, war absehbar.

Jetzt herrscht Krieg. Die internationale Gemeinschaft muss von allen Parteien die Einhaltung des humanitären Völker­rechtes fordern. Und sie muss alle Mittel mobilisieren, um nach dem Waffen­gang wieder eine Friedens­perspektive zu ermöglichen. Auch die Schweiz kann bei solchen Bemühungen eine Rolle spielen. Wir sind alle Israelis. Wir dürfen uns dieser Verantwortung nicht entziehen.

Illustration: Alex Solman