Auch ein Baum verwirklicht sich selbst: «Eichenwald» von Robert Zünd, 1881/1882. Kunsthaus Zürich

Warum wir unseren Umgang mit der Welt radikal überdenken müssen

Sollen wir Selbstverwirklichung anstreben? Angesichts der Klimakrise mag dies kurzsichtig erscheinen, aber diverse Philosophen argumentieren, dass es der einzige Weg in die Zukunft ist.

Von Helen De Cruz (Text) und Bettina Hamilton-Irvine (Übersetzung), 05.09.2023

Vorgelesen von Dominique Barth
0:00 / 32:02

Wir alle erleben die Klimakrise und versuchen, uns darauf einzustellen. Wir kaufen Schutz­masken, um draussen die verqualmte Luft auszuhalten, oder Luftreiniger, um sie drinnen zu säubern; wir lassen die Klima­anlage laufen, um uns vor übermässiger Hitze zu schützen, und einige von uns bereiten sich darauf vor, ihre Häuser zu evakuieren, wenn ein weiterer Wirbel­sturm die Küste trifft. Wir fragen uns, ob es noch Orte gibt, an denen wir uns niederlassen können, ohne dass sie zu unseren Lebzeiten zur Hölle werden. Einige von uns fragen sich, ob wir noch Kinder in diese Welt setzen sollten.

Die Klimakrise stellt uns vor Heraus­forderungen, die den Kern dessen, was wir sind, infrage stellen. Wir fragen uns: Wer bin ich in dieser zunehmend instabilen Welt? Was soll aus mir werden? An solchen Fragen können wir verzweifeln, und sie können dazu führen, dass wir wegschauen.

Sie können aber auch, und darum soll es hier gehen, unser Selbst­verständnis positiv beeinflussen.

Aufgrund unserer aktuellen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse tendieren wir dazu, uns als nützliche Rädchen in einer Maschine zu sehen. Entsprechend definieren wir unsere Identität in Bezug auf bestimmte Anforderungen, die wir erfüllen müssen: ein Studium absolvieren, um einen gut bezahlten Job zu bekommen; ein Eigenheim kaufen und sicherstellen, dass wir über ausreichende Ersparnisse für die Rente verfügen.

Die Klimakrise kann uns dazu veranlassen, all das zu überdenken. Was nützt die Alters­vorsorge, wenn die Welt in Flammen steht? Wir brauchen ein viel umfassenderes Selbst­konzept – ein vollständig verwirklichtes Selbst, das es wert ist, bewahrt zu werden.

Das Konzept der Selbst­verwirklichung anerkennt unseren starken Drang, uns selbst zu bewahren und angesichts der Klimakrise durchzuhalten. Ein solches Selbstbild ist viel umfassender, als man meinen könnte. Denn es reicht nicht aus, sein begrenztes persönliches Selbst zu bewahren. Wir alle sind Teil eines riesigen, vernetzten Universums, in dem unser Wohl­ergehen entscheidend davon abhängt, dass wir Beziehungen und Verbindungen zu anderen aufrecht­erhalten, auch nicht menschlichen anderen.

Der Drang, sich selbst am Leben zu erhalten

Der norwegische Philosoph Arne Næss (1912–2009) prägte den Begriff der Tiefen­ökologie. Im Kern geht es um die Idee, dass wir die ökologische Krise durch einen Paradigmen­wechsel angehen sollten. Statt nur an konkreten Zielen (wie CO2-Emissionen) herum­zubasteln, müssen wir demnach unseren Umgang mit der Welt radikal überdenken.

Næss war ein grosser Fan des sephardischen nieder­ländischen Philosophen Baruch de Spinoza (1632–1677), insbesondere von dessen Buch «Die Ethik» (1677 posthum erschienen), das er immer wieder las und das in seiner Umwelt­philosophie eine Schlüssel­rolle spielt.

In seinem Heimatland ist Næss berühmt. Er gilt als nationales Kulturgut und wird bewundert für sein soziales Engagement, seine Bergsteiger­aktivitäten und seine Philosophie-Lehrbücher. Aber auch für seine Scherze und spektakulären Kunst­stücke: So erklomm er beispiels­weise einmal die Wand des höchsten Gebäudes auf dem Campus Blindern der Universität Oslo, während er vom norwegischen Radio interviewt wurde.

Næss war ein Mann der Gegensätze: Einerseits entstammte er einer angesehenen norwegischen Familie und wurde bereits im Alter von 27 Jahren in Oslo zum ordentlichen Philosophie­professor ernannt – dem einzigen in Norwegen zu dieser Zeit. Andererseits veröffentlichte er seine umfangreichen Werke ohne Rücksicht auf Prestige oder Ruhm, auch in obskuren Umwelt­magazinen mit geringer Auflage. Dies erklärt zum Teil auch, warum Næss in der englisch­sprachigen akademischen Philosophie­szene immer noch relativ unbekannt ist.

Vor allem später in seinem Leben näherte er sich dem an, was sein Freund, der Umwelt­philosoph George Sessions, eine «Vereinigung von Theorie und Praxis» nannte. Næss praktizierte seine Ökophilosophie, indem er bis weit über das Alter von 80 Jahren viel Zeit im Freien verbrachte, wandernd und bergsteigend. Er ernährte sich spartanisch und vegan, ass vor allem ungewürztes, gekochtes Gemüse. Nach seiner vorzeitigen Pensionierung spendete er einen Grossteil seiner Rente für verschiedene Projekte wie die Renovierung einer nepalesischen Schule.

Næss’ Vorstellung von Selbst­verwirklichung ist inspiriert von verschiedenen philosophischen Traditionen, unter anderem vom Mahayana-Buddhismus und von Gandhis Philosophie des gewaltlosen Widerstands. Eine weitere wichtige Inspiration stammt von Spinoza. Gemäss dessen Buch «Die Ethik» ist alles in der Natur von einem conatus angetrieben, einem grundlegenden Streben danach, weiter zu existieren: «Jedes Ding, soweit es aus eigener Kraft kann, strebt danach, in seinem Sein zu verharren.»

Wir sehen diese grundlegende Tendenz nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Bäumen, Bienen und Gänsen und sogar bei leblosen Objekten wie Tischen, Bergen und Felsen. Die Dinge lösen sich nicht spontan auf, sondern neigen dazu, ihre Form beizubehalten; selbst etwas scheinbar Vergängliches wie ein Feuer versucht, sich selbst am Leben zu erhalten.

Wie lässt sich dieser universelle Antrieb erklären? Für Næss ist der conatus Teil eines umfassenderen Natur­verständnisses: eines, das uns hilft, durchzuhalten und uns selbst als Ausdruck der Natur zu sehen. Spinoza argumentierte, dass es nur eine Materie gibt, die er «Gott» nannte, oder «Gott oder Natur». Natur und Gott sind für ihn deckungs­gleich, da Gott die gesamte Wirklichkeit umfasst.

Spinozas Gott ähnelt also dem, was wir heute «das Universum» nennen, die Gesamtheit von allem, was ist. Diese drückt sich in unendlich vielen Formen aus, etwa in Gedanken und physischen Körpern. Wir sind, wie alles andere auch, Ausdruck dieser einen Materie.

Wenn unsere Umgebung leidet, leiden auch wir

Im Gegensatz zu einem traditionellen theistischen Gott hat Spinozas Gott kein übergeordnetes Ziel, keinen grossen Plan. Dieser Gott ist vollkommen frei und handelt in Übereinstimmung mit seinen eigenen Gesetzen, verlangt jedoch nichts. Die Natur ist einfach da, und sie ist in sich selbst vollkommen. Næss formulierte es 1977 so: «Wenn sie einen Zweck hätte, müsste sie Teil von etwas noch Grösserem sein, zum Beispiel einem grossen Plan.»

So wie Næss sie interpretiert, ist Spinozas Metaphysik grundsätzlich egalitär. Es gibt keine Hierarchie, keine grosse Rangordnung der Wesen. Wir stehen ontologisch auf einer Stufe mit Fischen, Ozeanen und Käfern. Die Interessen eines Bären, der in der norwegischen Landschaft umherstreift, sind genauso wichtig wie die der umliegenden bäuerlichen Gemeinschaften.

Die Natur als Ganzes bringt ihre Macht in jedem einzelnen Ding zum Ausdruck. In diesen Ausdrucks­formen der Macht können wir den Drang verorten, unser eigenes Wesen zu bewahren. Doch um uns selbst zu verwirklichen, müssen wir zuerst verstehen, was unser «Selbst» überhaupt ist. Næss ist der Meinung, dass wir uns selbst unterschätzen. 1987 schrieb er: «Wir neigen dazu, es [das Selbst] mit dem begrenzten Ego zu verwechseln.» Unsere Selbst­erkenntnis ist partiell und unvollständig, und dieser Mangel an Wissen hindert uns daran, richtig zu handeln.

Auch hier zeigt sich ein deutlicher Einfluss von Spinoza. Spinoza ist der Meinung, dass Wissen und ein grösseres (Selbst-)Verständnis uns helfen, unsere Handlungs­fähigkeit zu steigern und damit auch unsere Fähigkeit, durchzuhalten. Wir können dieses umfassende Selbst­verständnis begreifen, indem wir unsere Beziehung zu Orten betrachten, eine Idee, die Næss aus dem indigenen Denken übernommen hat. Wir fühlen uns oft verbunden mit Orten von natürlicher Schönheit, und zwar so sehr, dass wir laut Næss das Gefühl haben: Wenn dieser Ort zerstört wird, stirbt etwas in mir.

Dass der Verlust eines Ortes Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben kann, ist inzwischen gut dokumentiert. Dazu gehört ökologische Trauer, die entsteht, wenn Menschen einen Ort verlieren, zu dem sie eine starke emotionale Bindung haben. Wenn unsere Umgebung leidet, leiden auch wir.

Inuit-Gemeinschaften im Norden Kanadas verspüren Heimweh nach dem Winter. Dieses Gefühl der Verbundenheit mit einem Ort signalisiert uns, dass unser Selbst nicht nur unseren Körper umfasst, sondern auch andere Lebe­wesen einschliesst. Besonders deutlich zeigen das indigene Völker. In einem Brief aus dem Jahr 1988 erzählt Næss die Geschichte eines indigenen Sámi-Mannes, der festgenommen wurde, weil er gegen die Errichtung eines Stau­damms an einem Fluss protestierte, der Wasserkraft erzeugen sollte. Vor Gericht sagte der Sámi, dieser Teil des Flusses sei «ein Teil von ihm selbst». Wenn der Fluss verändert würde, würde sich das für ihn anfühlen, als würde ein Teil von ihm selbst zerstört.

Für Næss hat unser Leben keinen anderen Sinn als den, den wir ihm zuweisen. Selbst­verwirklichung ist demnach etwas anderes als Glück. Ein Baum, der blüht und sich wohlfühlt, dessen Blätter in der Sonne glänzen und auf dessen Ästen sich Vögel einnisten, verwirklicht sich selbst, obwohl wir nicht wissen, ob er glücklich ist.

Ein ähnliches Konzept findet sich im Werk der schwarzen, feministischen US-Autorin Audre Lorde (1934–1992). Für sie bedeutet Überleben nicht nur, ein Dach über dem Kopf und Essen auf dem Tisch zu haben. Wie der Philosoph Caleb Ward erklärt, gibt es für Lorde einen Unterschied zwischen Sicherheit und Überleben. Uns wird gesagt, dass wir auf Sicherheit setzen müssen: Wir studieren, nehmen eine Hypothek auf und haben einen Job, um uns vor den Widrigkeiten des Lebens zu schützen. Das Überleben hingegen, das der Selbst­verwirklichung näher kommt, ist ein Konzept, das in der Politik und in der Lebens­beratung so gut wie keine Beachtung findet, schreibt Ward: «Überleben heisst auch, [Lordes] Identität in all ihren Facetten auszuleben und zu bewahren: als Schwarze, als Frau, als Lesbe, als Mutter.»

Ward zitiert einen von Lordes Vorträgen:

Ich bin konstant damit beschäftigt, meine verschiedenen Selbst zu definieren, denn ich setze mich, wie wir alle, aus ganz vielen verschiedenen Teilen zusammen. Aber wenn sich diese Teile in mir bekriegen, bin ich wie gelähmt, und wenn sie sich in Harmonie bewegen oder sich gegenseitig anerkennen, bin ich bereichert, bin ich stark.

Wenn wir diese Erkenntnisse von Lorde, Næss und Spinoza zusammen­fassen, können wir sagen, dass die Klimakrise unsere Fähigkeit, uns selbst auszudrücken, ernsthaft einschränkt. Die Entwertung unseres Orts- und Zugehörigkeits­gefühls macht es für uns schwierig, uns als Menschen zu erkennen. Wir müssen uns zuerst einmal vor den unmittelbaren Bedrohungen durch die Zerstörung der Umwelt in Sicherheit bringen. Wir können nicht einmal ansatzweise darüber nachdenken, wie wir uns in all den verschiedenen Aspekten unserer Existenz erhalten können, und können daher nicht wirklich überleben.

Das ist einer der Gründe, warum die Klimakrise unser Selbst­verständnis so stark beeinträchtigt: Sie behindert unsere Fähigkeit, uns selbst zu erkennen.

Wir alle sind Klimaleugner

Selbstverwirklichung setzt eine Einheit von Handeln und Wissen voraus: Man muss sich selbst als Teil einer umfassenden, vernetzten Natur wahrnehmen und als mehr als ein begrenztes Ego. Erst dann kann man anfangen zu handeln. Mangelndes Wissen (über uns selbst, als Teil eines grösseren Ganzen) hingegen lähmt und entmachtet.

Leider wird die Klimakrise von einem massiven Leugnen begleitet. Diese Verleugnung ist mehr als nur unser Wegschauen als Individuen. Vor dem Hintergrund der unausweichlichen Klima­katastrophe wird sie finanziert von den reichen Eliten und den Unternehmen, die fossile Brennstoffe herstellen. Bruno Latour schreibt in «Où atterrir?» (2017, auf Deutsch «Das terrestrische Manifest», 2018):

Die Eliten waren dermassen überzeugt, dass es keine gemeinsame Zukunft für alle geben könne, dass sie beschlossen, sich schleunigst von der gesamten Last der Solidarität zu befreien (daher die Deregulierung); sie haben beschlossen, dass eine Art goldene Festung für jene Happy Few errichtet werden müsse, die in der Lage wären, sich aus der Affäre zu ziehen (daher die Explosion der Ungleichheiten); und dass der bodenlose Egoismus einer solchen Flucht aus der gemeinsamen Welt nur vertuscht werden konnte, indem sie die Ursache dieser verzweifelten Flucht schlichtweg negierten (daher die Leugnung der Klima­veränderung).

Die Superreichen haben ihren Druck auf die Demokratie verstärkt, indem sie politisch motivierte Ablenkungs­strategien entwickelt haben. So machen sie beispielsweise die sogenannten «urbanen Eliten» – also gebildete Menschen – verantwortlich für die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter­klasse. Oder sie zeigen mit dem Finger auf geflüchtete Menschen, die in kleinen Booten an den Küsten der reichen Länder ankommen. Die Klima­krise verschwindet hinter nostalgischen nationalistischen Rück­bezügen auf eine imaginäre Vergangenheit wie Maga (Make America great again) und Brexit.

Latour vertritt die Auffassung, dass diese Bewegungen nur oberflächlich mit dem Faschismus des frühen 20. Jahrhunderts vergleichbar sind. Vielmehr stellen sie eine neuartige politische Ordnung dar, die auf der Leugnung des Klima­wandels beruht und in der wohlhabende Eliten versuchen, durch Deregulierung und Ausgrenzung geschlossene Gemeinschaften und Fluchtwege zu schaffen. Dabei versuchen sie (vergeblich), sich in Dingen zu verwirklichen, die letztlich unerfüllend und leer erscheinen: Super­jachten, Kurztrips ins Weltall oder in die Tiefsee und der Aufkauf ganzer Inseln.

Indem sie den demokratischen Prozess beeinflussen und untergraben, versuchen sie, die Deregulierung zu fördern, um immer mehr Ressourcen an sich zu reissen. Da sie aber doch teilweise erkennen, dass dies nicht nachhaltig ist, flüchten sie sich in immer abwegigere Fantasien wie «Tescreal» (ein ideologisches Bündel von Ismen: Transhumanismus, Extropianismus, Singularitarismus, Kosmismus, Rationalismus, effektiver Altruismus und Longtermismus). Das wird von Philosophinnen der Universität Oxford wie Nick Bostrom, Hilary Greaves und William MacAskill vertreten.

Sie stellen sich eine Zukunft vor, in der sich die Menschheit in einen posthumanen Zustand verwandelt, das Universum kolonisiert und unsere «kosmische Grund­ausstattung» an Ressourcen plündert, um astronomische Mengen an «Wert» zu produzieren. Das Glück dieser zukünftigen Post­humanen, von denen die meisten digital sein werden, rechtfertigt die Vernachlässigung der Probleme der Gegenwart. «Um Massnahmen zu bewerten», schreiben Greaves und MacAskill, «können wir erst einmal alle Auswirkungen der ersten 100 (oder sogar 1000) Jahre ignorieren und uns primär auf die Auswirkungen in der weiteren Zukunft konzentrieren.»

Warum versuchen die reichsten Menschen, die Klimakrise aktiv zu leugnen, anstatt sie anzugehen? Die Philosophin Beth Lord argumentiert in Anlehnung an Spinoza, dass sie von negativen Emotionen gesteuert werden. Normalerweise helfen uns unsere Gefühle dabei, nach dem zu streben, was gut für uns ist, und das zu vermeiden, was schlecht ist. Wir haben drei grundlegende Empfindungen: Freude, Traurigkeit und Verlangen. Verlangen ist ein Ausdruck des conatus: Wir streben nach Dingen, die uns Freude bereiten, und vermeiden Dinge, die uns traurig machen. Insgesamt dient dies unserer Selbst­erhaltung. Aufgrund der komplexen Verflechtung unserer Emotionen ist es jedoch möglich, dass wir uns täuschen und Dinge begehren, die uns nicht wirklich helfen, uns selbst zu verwirklichen. Das Streben nach Prestige, Ruhm und Reichtum scheint uns zu helfen, uns selbst zu verwirklichen, aber in Wirklichkeit sind wir davon beherrscht.

Während diese Irrglauben vor allem unter den reichsten Eliten weit verbreitet sind, sehen wir sie in uns allen. Der Ethiker Eugene Chislenko argumentiert, dass wir alle in einem gewissen Sinn Leugner der Klimakrise sind. Nicht dass wir buchstäblich leugnen, dass es eine Klimakrise gibt, oder dass wir die Politik entsprechend beeinflussen, sondern dass wir wegschauen – ähnlich wie eine trauernde Person, die erkennt, dass jemand tot ist, aber nicht in der Lage ist, den Verlust in ihrem Leben zu akzeptieren.

Chislenko schreibt: «Wir sagen, dass das alles real ist, aber wir fühlen oder handeln selten so. Wir gehen auf eine Flugbuchungs­seite, weil wir einen Freund übers Wochenende besuchen wollen; wir denken immer noch, dass wir eines Tages das Great Barrier Reef sehen könnten; wir haben keine Pläne, die dem Ausmass der Veränderung gerecht werden.»

Und das liegt zum Teil daran, dass wir das Gefühl haben, die Bewältigung der Klimakrise würde uns erhebliche Opfer abverlangen, die angesichts des Ausmasses des Problems wie ein Tropfen auf den heissen Stein erscheinen. Næss schreibt: «Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass sie selbstlos ihre Interessen aufgeben, ja sogar opfern, um ihre Liebe zur Natur zu zeigen, ist dies auf lange Sicht wahrscheinlich eine trügerische Grundlage für den Umweltschutz.»

Wie kommen wir also aus dieser Situation des kollektiven Leugnens heraus?

Glückseligkeit durch Wissen

Wir wissen nun, was Selbst­verwirklichung ist und wie sie mit Wissen zusammenhängt. Indem wir unser Wissen erweitern, vergrössern wir unsere Macht. So führte beispielsweise das Wissen, dass Krankheits­erreger Infektions­krankheiten verursachen, zu grossen Fortschritten, weil dank Impf­stoffen die Übertragung reduziert oder verhindert werden konnte. In ähnlicher Weise brauchen wir Wissen, um angesichts der Klimakrise handeln zu können, und dafür können wir uns direkt von der Philosophie Spinozas inspirieren lassen.

Spinoza lebte ein karges, besitzloses Leben und versuchte, sich von Ruhm und Rampen­licht fernzuhalten. Er lehnte eine prestige­trächtige Professur an der Universität Heidelberg ab und wollte nicht als Alleinerbe eines Freundes eingesetzt werden, auch wenn ihn das auf Lebenszeit unabhängig gemacht hätte. Stattdessen zog er es vor, Linsen zu schleifen, um seinen Lebens­unterhalt zu verdienen.

Er war also nicht der Meinung, dass Wohlstand oder, wie er es ausdrückte, «Glückseligkeit» (beatitudo) in materiellem Reichtum und Ruhm zu finden sei. Seine Arbeit als Linsen­schleifer hingegen bot ihm mehr Möglichkeiten zur Selbst­verwirklichung, denn sie machte ihn zu einem Teil der vernetzten, aufstrebenden Gemeinschaft der frühen Wissenschaftler zu Beginn der wissenschaftlichen Revolution, von denen viele Linsen in ihren Teleskopen und Mikroskopen verwendeten.

Spinoza verortete Glückseligkeit zwar nicht im irdischen Reichtum, aber er ging auch nicht davon aus, dass sie in einem Leben nach dem Tod zu finden sei. Im 17. Jahrhundert glaubten die meisten Menschen, dass man erst nach dem Tod Glückseligkeit erlangen könne, wenn man zu Lebzeiten die moralischen Regeln befolgte und freiwillig auf bestimmte Vergnügungen verzichtete. Spinozas radikale Einsicht war jedoch, dass man in diesem Leben Glückseligkeit erlangen kann. Er schrieb:

Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst; wir geniessen sie auch nicht, weil wir unsere Lüste zügeln, sondern im Gegenteil, weil wir sie geniessen, können wir sie zügeln.

Seine Vorstellung von Glückseligkeit ist eng mit seiner Auffassung von Selbst­verwirklichung verbunden. Wir erinnern uns, dass Spinoza Gott als Natur ansieht. Selbstverwirklichung setzt voraus, dass wir uns selbst als Ausdruck Gottes verstehen und dadurch Gott lieben lernen.

Doch was bedeutet ein solches Verständnis?

Eine neuere Interpretation bietet Alexander Douglas in seinem Buch «The Philosophy of Hope» (2023). Für Spinoza ist Glückseligkeit demnach eine Art Ruhe der Seele oder geistige Zufriedenheit. Sie entspringt der intellektuellen Liebe zu Gott oder zur Natur. Für Spinoza steigert das Wissen unsere Kraft und damit unsere Selbst­erhaltung. Wenn unsere Emotionen uns in die Irre führen (zum Beispiel wenn wir nach Ansehen oder Ruhm streben), schwächen wir unsere Selbst­erhaltung, weil wir dazu angetrieben werden, uns auf äussere Werte zu fokussieren.

Das höchste Wissen, das wir anstreben können, ist das Wissen über das Universum als Ganzes. Dieses Wissen ist auch Wissen über das Selbst, denn jede von uns ist ein Ausdruck Gottes. Douglas stellt klar, dass dies nicht bedeutet, dass wir Teile Gottes sind, wie Puzzlestücke. Vielmehr drückt jede von uns – eine einzelne Fliege, eine Rose, ein Berg oder eine Wolke – «das Ganze auf seine eigene Art und Weise aus».

Erst wenn man sich bewusst wird, dass man ein Ausdruck der gesamten Natur ist, wird einem klar, dass man zwar sterben wird, aber in einem nicht trivialen Sinne auch ewig ist, da die eine Substanz, deren Ausdruck man ist, bestehen bleibt.

Spinoza sagt, dass das Gedeihen oder die Glückseligkeit nicht der Lohn der Tugend ist, sondern die Tugend selbst. Wenn wir dies erreicht haben, brauchen wir unsere Begierden nicht mehr zu zügeln, denn sie werden sich auflösen, wenn wir diese kognitive Einheit mit dem Rest der Natur erreichen.

Nun mag sich all dieses Gerede über die Zügelung der eigenen Begierden moralistisch und altmodisch anfühlen. Aber Spinoza bringt einen wichtigen Punkt zur Sprache: nämlich dass es letztlich selbst­zerstörerisch ist, wenn man aus Spass Dinge tut wie Last-Chance-Tourismus – der Besuch von Orten auf der Erde, die aufgrund der Klimakrise bald verschwinden werden – oder Tiefsee­forschung.

In ähnlicher Weise können wir das Gefühl haben, dass der Verzicht auf ein Steak oder häufige Flugreisen eine Einschränkung für uns darstellen. Aber wenn wir erst einmal verstehen, dass wir Teil eines zerbrechlichen, grossen Ökosystems und des Planeten sind, wird es sich eher so anfühlen, als würden wir unser erweitertes Selbst bewahren, anstatt uns selbst zu beschneiden. Spinoza erklärt in seiner «Kurzen Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück» (um 1660): «Da wir feststellen, dass das Streben nach sinnlichen Freuden, Begierden und weltlichen Dingen nicht zu unserem Heil, sondern zu unserer Zerstörung führt, ziehen wir es vor, uns von unserem Verstand leiten zu lassen.»

Paradoxerweise unterschätzen wir unsere eigene Fähigkeit, echte Zufriedenheit und Wohlbefinden aus einfachen Vergnügungen zu ziehen, die nicht mit der Zerstörung des Planeten einhergehen. Vielmehr denken wir, dass wir viel Infra­struktur und teure Dinge brauchen, um glücklich zu sein, während das Glück doch gleich um die Ecke liegt.

Selbstverwirklichung verstärkt unsere Macht. Wie erwähnt, jagen wir Dingen nach, von denen wir glauben, dass sie uns Freude bringen, wie Reichtum und Ansehen – die aber unsere Macht verringern, weil sie uns in ihrem Bann halten. Wahre Freude im spinozistischen Sinne bedeutet, ein intellektuelles Verständnis von sich selbst und seiner Beziehung zur Welt zu haben.

Das zeigt das Beispiel von Shamayim Harris. Nachdem ihr zweijähriger Sohn Jakobi Ra bei einem Unfall mit Fahrer­flucht ums Leben gekommen war, beschloss sie, ihr herunter­gekommenes, postindustrielles Quartier in Detroit in ein lebendiges Viertel zu verwandeln: «Ich musste Trauer in Schönheit, Schmerz in Kraft verwandeln.» Sie kaufte für ein paar tausend Dollar Häuser auf und verwandelte die Gegend in das umwelt­freundliche Avalon Village mit einer Bibliothek, Solarenergie, wissenschaftlichen Labors, einem Musik­studio, Gewächs­häusern für den Eigen­bedarf und vielem mehr.

Solche Gemeinschaften bieten einen grossen Spielraum für Selbst­verwirklichung. Ganz im Sinn von Næss hat Harris ein Zuhause für sich und andere geschaffen. Denn bei Næss’ Ökosophie dreht sich alles um das Zuhause, allerdings in einem umfassenderen ökologischen Sinn, bei dem die Selbst­verwirklichung das oberste Ziel ist.

Selbstverwirklichung hat etwas Schönes. Durch kluges und rationales Verhalten sind wir in der Lage, eine neue Zugehörigkeit zu finden, eine Art, in der Natur zu leben, eine Politik, die auch nicht menschliche Tiere und Pflanzen einschliesst. Diese Art zu sein würde unsere Handlungs­fähigkeit steigern und unserem Drang nach Selbst­verwirklichung entsprechen.

Es gibt nicht die eine Art und Weise, wie wir zu sein haben. Es gibt nicht einmal ein Ideal, zu dem sich der Mensch hinentwickeln muss, wie im «Tescreal»-Universum. Die Natur hat keine ultimative Teleologie. Wir sind wichtig, so wie wir jetzt sind, nicht nur als zukünftige Hypothesen. Und wir können uns eine Welt vorstellen, in der Menschen, Tiere, Pflanzen, aber auch Berge und Flüsse ihre eigenen, vielfältigen Identitäten haben und in der sie in Gemeinschaft miteinander existieren. Unser Weg aus der Klimakrise muss daher damit beginnen, dass wir uns selbst als ökologische und vernetzte Wesen neu begreifen.

Selbstverwirklichung, wie sie von Næss, Spinoza und Lorde konzipiert wurde, ist im Kern eine freudige, bejahende Vision. Sie geht nicht von der Prämisse aus, dass das Leben von Natur aus mit Leiden erfüllt ist. Wenn wir Selbst­verwirklichung erreicht haben, wird es aufgrund der Einheit von Glückseligkeit und Tugend leicht, ein gutes Leben zu leben. Doch weil wir die Klimakrise immer noch kollektiv verleugnen, ist das schwer zu erreichen.

Wir werden nicht eines Tages aufwachen und selbst­verwirklicht sein. Wir müssen diesen Perspektiv­wechsel vollziehen und erkennen, dass wir miteinander verbundene Wesen sind, die nur gemeinsam mit dem Rest der Natur gedeihen können. Wahrscheinlich ist es passend, mit den letzten Zeilen aus Spinozas Buch «Die Ethik» zu schliessen:

Auch wenn der Weg, den ich gezeigt habe, um zu diesen Dingen zu gelangen, jetzt sehr schwer erscheint, so kann er doch gefunden werden. Und natürlich muss das, was so selten gefunden wird, schwer sein. Denn wenn das Heil in greifbarer Nähe wäre und ohne grosse Mühe gefunden werden könnte, wie könnten es dann fast alle vernachlässigen? Aber alle guten Dinge sind so schwierig, wie sie selten sind.

Zur Autorin

Helen De Cruz ist Professorin für Philosophie an der Saint Louis University in Missouri. Sie hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt «Philosophy Illustrated: Forty-two Thought Experiments to Broaden Your Mind» (2022). Dieser Text erschien am 22. August 2023 im Magazin «Aeon» unter dem Titel «Why Seek Self-Realisation?».