Der Solarfreund vom Simmental
Der Bergbauer Christian Haueter kämpfte einst gegen die Verschandelung der Natur. Jetzt will er in der erzkonservativen Region eine riesige Solaranlage in die Hänge bauen. Kann das gut gehen?
Von Elia Blülle (Text) und Joan Minder (Bilder), 16.06.2023
Christian Haueter, braun gebrannt wie andere erst im Spätaugust, wartet am Bahnhof Oberwil. Das Autoradio spielt Klassik, etwas von Tschaikowsky. Der Geruch frischer Gülle weht über die Weiden, aus denen die versprengten Bauernhöfe wie kleine Festungen ragen. Als ich Haueter auf das hohe Alter seines klapprigen Wagens anspreche, erzählt er einen Witz: «Was bleibt vom Bergbauer im Krematorium auf dem Rost übrig, wenn er mal gestorben ist?»
Er lacht und sagt: «Der Helly-Hansen-Reissverschluss und ein Subaruschlüssel.»
Christian Haueter, den alle nur Chrigu nennen, ist 65 Jahre alt und lebt schon seit immer in Oberwil im oberländischen Simmental. Den Hof hat sein Sohn übernommen, doch Haueter ist nur auf dem Papier pensioniert. Über eine Schotterstrasse, durch den Wald und vorbei an Wasserfällen geht es zur Alp Morgeten, wo die Familie ihre Sommer verbringt. Bevor die Kühe einziehen, muss er den Elektrozaun verlegen; alle paar Meter schlägt er einen Pfosten ein und hängt den kilometerlangen Draht ein. Das Wetter ist garstig. Nebel raubt das Sonnenlicht und der Schneeregen zermatscht den Boden.
Dass es diesen Frühling geregnet hat, macht ihm Hoffnung für den Sommer.
Keine Hoffnung macht er sich für die Zeit danach. Denn wer sie sehen will, sieht sie auf der Alp Morgeten überall: die ungebremste Klimaerwärmung.
In der Landwirtschaftsschule hat Haueter einst gelernt, dass Zecken höchstens bis 1200 Meter vorkommen. «Jetzt finden wir sie auf 2000 Metern.»
Die Waldgrenze wandert stetig den Berg hoch, und mit ihr erklimmen auch die invasiven Neophyten und Schädlinge die Talflanken. Vor zwei Jahren haben Kartoffelkäfer Haueters Gemüsebeet auf der Alp leergefressen.
Jeden Winter fällt weniger Schnee, im Sommer fehlt das Schmelzwasser.
Vor fast dreissig Jahren hatte Christian Haueter ein kleines Wasserkraftwerk gebaut, um die Kooperative auf der Alp Morgeten und die Käserei, die er dort betreibt, mit Strom zu versorgen. Doch schon bald floss jedes Jahr weniger Wasser, bis der Bergbach im August nur noch ein Rinnsal war.
Haueter und seine Alpkorporation, in der die Bauern gemeinsam ihr Land verwalten, musste sich ein Dieselnotstromaggregat anschaffen, um die Kühe zu melken, die Milch zu verkäsen und im Alprestaurant zu kochen.
«Blackout», sagt Haueter.
Jetzt oder nie
Knapp 800 Menschen leben in Oberwil, und es werden weniger. Als Haueter zur Schule ging, gab es sieben Beizen, heute sind es noch zwei. Wobei eine nur vormittags geöffnet hat. Die beiden Dorfläden drohen einzugehen, weil die Besitzer pensioniert sind und sich bisher keine Nachfolgerinnen finden lassen. Der Bahnhof ist längst nicht mehr bedient, die Bank weg, die Schlachtviehannahme auch – und weil Oberwil keinen neuen Lehrer findet, muss das Dorf im Sommer seine Oberstufe schliessen.
Das Dorf überaltert. Das Sozialleben stirbt. Haueter sagt, er sehe seine Nachbarn meistens nur noch brustaufwärts: «Durch die Autoscheibe.»
Im Nachbardorf Boltigen suchten sie jüngst einen Hausarzt und hängten eine grosse Blache an die Strasse: «Du hast den Doktortitel? Wir die Frakturen», stand darauf. Es meldete sich ein Ägypter. Keine Begeisterung in der Gemeinde, aber Boltigen habe jetzt wieder einen Arzt, erzählt Haueter.
Solche Initiativen gefallen ihm. Fantasie als Mittel gegen den strukturellen Niedergang, die Hilflosigkeit. Vor einigen Jahren hat Haueter eine halbe Million Franken aufgetrieben und eine Hängebrücke gebaut, um mehr Touristinnen ins Dorf zu locken. Seine Frau sagt über Chrigu, er habe immer irgendwo noch ein Nebenprojekt gehabt. Haueter ist einer dieser Menschen, die man mit einem Schraubenzieher auf einer einsamen Insel aussetzen könnte und die dann im selbst gebastelten Flugzeug wieder zurückflögen.
Und so kam es, dass er nach dem verheerenden Trockensommer 2022 oberhalb seiner Alp die bisher grösste Aufgabe seines Lebens fasste.
Als das eidgenössische Parlament letzten September seine Subventionsoffensive für alpine Solaranlagen beriet und Putin mit seinem Angriffskrieg in der Ukraine Europa in eine Energiekrise zu stürzen drohte, schaltete Haueter bereits Pläne für eine alpine Solaranlage auf seiner Website auf.
Weil das selbst gebaute Wasserkraftwerk immer öfter versagt, soll künftig die Sonne Strom für die Alp liefern – und bis zu 3000 Haushalte versorgen.
Nur wenige Tage nachdem Haueter das Projekt online gestellt hatte, meldeten sich erste Investoren und bezahlten einen Vorschuss für die Planungsphase. Schätzungsweise 17 Millionen soll die alpine Solaranlage am Ende kosten – über die Hälfte davon würde der Bund übernehmen, sofern es Haueter und seinen Mitstreiterinnen gelingt, alle notwendigen Auflagen zu erfüllen.
18’000 Solarpanels auf einer Fläche von 11 Fussballfeldern möchte Haueter in einer Geländemulde montieren, die aus der Luft aussieht wie ein Vulkankrater. Die Anlage wäre versteckt – von der Alp, den Wanderwegen aus sähe man nichts. Weil es auf dem Markt noch keine fertigen alpinen Solaranlagen gibt, tüftelt Haueter gemeinsam mit einem Ingenieurbüro an der Konstruktion. Sie müsste einen Jahrhundertsturm überstehen können und auch bei drei Metern Schnee noch Strom liefern. Die Panels will Haueter zwei Meter über dem Boden montieren, damit die Kühe darunter grasen können, die Vegetation überlebt und der Schnee die Anlage im Winter nicht eingräbt.
In sonnigen Jahren mit hohen Strompreisen sollen bis zu 100’000 Franken aus den Erträgen an die Bauern fliessen, denen das Land gehört, auf dem die Anlage gebaut werden soll. Die Investorinnen mussten versichern, dass die Betreiberfirma ihren Steuersitz im Dorf hat, und 15 Prozent des Aktienkapitals sind reserviert für die Bürger von vier Anrainergemeinden. Haueter sieht in der Sonnenenergie auch eine Möglichkeit, Oberwil in die Zukunft zu retten.
Bloss: Werden sie ihrem Bergbauer Haueter folgen, der selbst einmal gegen die Verschandelung der Simmentaler Landschaft angekämpft hat?
«E rote Siech»
Christian Haueter war 5 Jahre alt, als er zum ersten Mal gemeinsam mit seiner Schwester für zwei Wochen die Alp hütete, weil die Erwachsenen im Tal noch das Heu einbringen mussten. Mithilfe der Nachbarn melkten sie die Kühe. Alles Handarbeit, kein Strom, nur Petrollampen. Mit 14 Jahren stand Haueter das erste Mal in seinem Leben unter einer Dusche. In den Bauernhäusern gab es keine Badezimmer, die Klos waren draussen.
Und dann begann sich alles zu verändern. Für das Simmental, das der Moderne stets getrotzt hat, in einem rasenden Tempo. Die Kühe wurden mehr, die Bauern kauften Traktoren und Melkmaschinen. Die Betriebe wuchsen von Jahr zu Jahr, benötigten Personal. Haueters Vater stellte auch Hippies und Ausländerinnen ein; er sei ein sozialer, freigiebiger, toleranter, aber auch fordernder Mensch gewesen. Ab der 7. Klasse sei seine Jugend vorbei gewesen, erinnert sich Haueter. «Kein 100-Prozent-Job», sagt er. «Viel mehr.»
Das Simmental hatte sich lange auf der Landkarte verstecken können.
Bis der Bundesrat 1966 die vierspurige Autobahn N6 genehmigte. Sie sollte den Kanton Wallis durch das enge, oft unwegsame Tal erschliessen.
Allerdings fürchteten die Simmentaler – erzkonservativ – um ihr Land und ihre Ruhe. Dorf um Dorf lehnte sich auf. Alte Männer mit furchigen Gesichtern und Zipfelmützen wetterten in Fernsehkameras, die Autobahn sei der grösste Blödsinn auf Erden und verschandle das Tal. Man solle mit dem Umweltschutz Ernst machen, nicht nur immer davon reden.
Haueter sammelte Unterschriften, hütete in der Stadt Bern tagsüber einen Informationsstand und sprühte in der Nacht Parolen an die Wände; einmal legte er mit Kunstdünger den Schriftzug «N6 NIE» in eine Wiese.
Der Bundesrat beerdigte das Strassenprojekt erst, als bei Sondierbohrungen für einen Tunnel Wasser einbrach und eine Staumauer Risse bekam.
Es schien, als hätte sich auch der Berg gegen die Autobahn verschworen, die dem Tal die Seele geraubt hätte.
Der jahrzehntelange Kampf um die N6 hat Haueter politisiert und ihn eine Lektion fürs Leben gelehrt: «Wir Bergbauern sind ohnmächtig, wenn wir uns nicht selbst verteidigen. Wird unsere Lebensgrundlage zerstört, müssen wir für sie kämpfen – auch wenn der Widerstand aussichtslos scheint.»
Als Haueter den Hof vom Vater übernahm, stellte er früh auf Biobetrieb um, war Mitgründer der Kleinbauern-Vereinigung und beteiligte sich an Volksinitiativen für mehr ökologische Landwirtschaft. Das passte nicht allen.
Einige Kinder schikanierten seinen Sohn in der Schule, schimpften, er sei ein «Biochrüppel» oder «e rote Siech».
Aber die Anfeindungen bremsten Haueter nicht. Sie spornten ihn an. Haueter sagt, er sei ein «Oberländer Gring» – stur, manchmal trotzig, aber ohne den Wertkonservatismus und die bigotte Heuchelei, die im Tal so verbreitet sei.
Haueter geht in die Politik
In Oberwil stimmten bei den letzten Wahlen drei Viertel für die rechte SVP oder die noch rechtere EDU – oder wie sie Haueter nennt: «Die Konservativen, die wissen, wo Gott sitzt.» Der einzige Nationalrat, den die EDU in Bern stellt, kommt aus Oberwil, der ehemalige Gemeindepräsident, ein Freikirchler.
Im Sommer 2021 lehnte Oberwil das CO2-Gesetz mit über 85 Prozent ab, auch das neue Klimagesetz dürfte am Sonntag in der Gemeinde scheitern.
Die Stromfresser-Erzählung verfange, sagt Haueter, der Populismus, die Polemik. Und letztlich hätten auch die Simmentaler Angst, zu verlieren, was sie haben. «Das ist überall so. Von der Amöbe bis zum Menschen.»
Aber wieso kämpfte das Simmental vor fünfzig Jahren noch vehement für den Umweltschutz und marschiert es heute zuvorderst mit seinen Gegnerinnen?
«Evolutionsbedingt», sagt Haueter. «Fletschte der Säbelzahntiger die Zähne, flüchteten die Menschen sofort. Die Autobahn war eine solche direkte Bedrohung – sichtbar, mitten durchs Tal. Die Klimaerwärmung kommt aber schleichend. Bauern jammern zwar über die verdorrten Hänge, hoffen aber immer noch, dass es dann doch nicht so schlimm komme.»
Haueter vermutet, dass die Landschaft im Simmental ihre Bewohnerinnen kulturell prägt. Die Alpen sind ewig, unverrückbar und starr, wachen über das Weltbild, das sich viele Menschen im Tal teilen. Politische Veränderungen, sagt Haueter, hätten hier oben kaum Platz: «Alles soll bleiben, wie es nie war. Nichts soll sich verändern, obwohl sich alles ändert.»
Nils Fiechter ist ein SVP-Jungpolitiker, verurteilt wegen Rassendiskriminierung – als der Gemeinderat von Oberwil ihn vor vier Jahren als Gemeindeverwalter einsetzte, hatte Haueter genug: «Es bringt nüt, gäng nume z stürme und z flueche.»
Haueter kandidierte für den Gemeinderat und wurde prompt gewählt – auch weil er Oberwil immer wieder gibt, was der Gemeinde fehlt: eine Perspektive.
Gleichzeitig merkt Haueter auch, wie im Unterland das Verständnis und die Neugierde für die alpinen Täler und ihre Probleme fehlen. Das verhärtet die Fronten, die Feindbilder und füttert Ressentiments im Tal. Wenn er mit Leuten aus dem städtischen «links-grünen Kuchen» spricht, kommt Haueter sich manchmal vor, als würde er in Oberwil in einem Reservat leben.
Haueter beobachtet, wie Touristinnen im Alprestaurant selbstverständlich ihren Kaffee mit Sojamilch bestellen – an einem Ort, an dem Bauern seit 3000 Jahren von der Viehwirtschaft leben. Er beobachtet, wie man den Wolf schützen will, ohne sich ernsthaft zu fragen, wie man sich in den Alpen vor ihm schützen kann. Er beobachtet, wie viele die Berge als Konsumgut konservieren wollen. «Sobald man am Wochenende am Gurnigel aussteigt, soll die Natur rein und unberührt in Ferienprospektqualität verfügbar sein.»
Derzeit wird seine Solaranlage auf Umweltverträglichkeit geprüft. Der Bund untersucht, welche Auswirkungen der Bau auf Vögel, Insekten und Vegetation hätte. Haueter befürwortet die Abklärungen, er macht sich keine Sorgen. «Ich bin Biobauer und kenne diese Berge seit meiner Kindheit», sagt er. «Ich will sicher nicht nachhaltig sieben Hektaren Weide zerstören.»
Diverse Natur- und Alpenschutzorganisationen haben Protest angemeldet. Sie wollen frei stehende alpine Solaranlagen bekämpfen. Haueter versteht zwar die Bedenken um das Landschaftsbild. Aber er wittert das, was er «Stellvertreterökologie» nennt: die Vorstellung, man könne den Umweltschutz auslagern und in den Alpen eine heile Welt für das Wochenende bewahren, während man anderswo so weitermacht wie bisher.
«Das sind oft Schnittlauchgrüne», sagt Haueter. «Aussen grün, innen hohl.»
Der Blick von oben
Der Kanton Bern hat noch nicht definitiv entschieden, aber wahrscheinlich muss auch noch die Oberwiler Gemeindeversammlung über die alpine Solaranlage befinden. Sollte es dazu kommen, ist Haueter zuversichtlich. Denn sein Projekt steht beispielhaft für erfolgreiche Energie- und Klimapolitik in der Schweiz: Sie funktioniert, wenn sie von innen kommt.
Während in Oberwil die lokale SVP, die EDU und ihre zahlreichen Anhänger gerade gegen das Klimaschutzgesetz mobilmachen, vor nicht weniger als wirtschaftlichem Bankrott, Stromausfall und Landschaftsverschandlung warnen, haben der Gemeinderat und die Alpkorporation der von Haueter geplanten Solaranlage bereits zugestimmt. «Wahrscheinlich», sagt er, «weil ich schon etliche Projekte realisiert habe, die zum Vorteil aller waren.»
In ihren schlechten Tagen ist die Schweiz eine träge Kompromissmaschine. Oft kommen Veränderungen erst, wenn der Druck von aussen zu gross wird.
Doch es gibt auch die andere Seite: Die direkte, föderale Demokratie erlaubt es Menschen, im Kleinen Erstaunliches zu bewirken – und nicht immer, aber meistens zählt dann das Parteibuch weniger als das Vertrauen in den ehemaligen Schulkollegen oder die Grüessech-Bekanntschaft von nebenan.
Trotzdem, sagt Haueter, sei auch entscheidend, was im Bundeshaus passiere.
Als er Ende Mai einen Schmähbrief gegen das neue Klimaschutzgesetz aus dem Briefkasten fischte, mit dem ein SVP-Senior von der Zürcher Goldküste das ganze Land vollgespamt hatte, rief er mich an. «Du bist doch auf Twitter?», fragte er. «Soll ich mir einen Account einrichten?»
«Wieso zur Hölle willst du auf Twitter? Das verdirbt dir nur die Laune.»
«Wahlkampf», sagte er. «Ich kandidiere. Dieser Ramsch. Diese populistische Lügenpropaganda der finanzstarken SVP. Das macht mich wütend.»
Haueter lässt sich nun für die Nationalratswahlen als Parteiloser auf der Landwirtschaftsliste der Mitte-Partei aufstellen. Damit sich für Wähler in einem konservativen Umfeld die Möglichkeit ergebe, das «kleinere Übel» zu wählen, wie er sagt. Seinen Wahlspruch hat er kürzlich auf Facebook gepostet: «Wählt im Oktober nicht einen ‹Engstirnigen› – wählt Haueter Chrigu.»
Haueter macht sich keine Illusion mehr, viel bewirken zu können. «Wir werden nicht die erste Hochkultur sein, die wieder verschwindet.» Er sei ein Kulturpessimist, sagt er. «Dr Mischt isch äuä sowieso ggarettlet.»
Geht es nach ihm, sollen trotzdem bald 1500 Tonnen Baumaterial in Lastwagen den Berg hochgekarrt werden – vorbei an seiner Alp Morgeten, in der Haueter vergilbte Schwarz-Weiss-Fotos von seinen Vorfahren aufgehängt hat, die an den Simmentaler Hängen seit Jahrhunderten ihre Kühe weiden lassen. Haueter verbringt auch heute noch jeden Sommer auf der Alp, weil er sich dort glücklich fühlt, frei und so nahe an der Natur wie sonst nirgends.
«In der Höhe», sagt er, «hat man mehr Weitsicht.»